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Titel: Lauterbachs „Revolution“ – Einfalltor für den Kahlschlag im Krankenhaussystem

Datum: 9. Dezember 2022 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik
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Das deutsche Krankenhaussystem soll umgebaut werden. Wieder einmal. In dieser Woche nahm Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Reformvorschläge einer von ihm einberufenen Expertenkommission entgegen. Um es vorwegzunehmen: Das Papier enthält viele gute Ansätze, deren Erfolg jedoch ganz massiv von der konkreten Ausgestaltung abhängt. Und hier sind durchaus Zweifel angebracht. Das Papier eignet sich nämlich auch als Blaupause für den vor Corona bereits geplanten Kahlschlag im Krankenhaussystem. Scharf zu kritisieren ist auch der PR-Rummel, den Lauterbach selbst veranstaltet. Von dem von ihm angekündigten „Ende der Fallpauschalen“ kann keine Rede sein und eine „Revolution“ ist die geplante Reform auch nicht. Auch wenn alle Reformvorschläge sinnvoll umgesetzt würden, wären die Probleme nicht weg, sondern nur auf andere Ebenen verschoben. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es gibt wohl heute keinen Experten mehr, der das System der Fallpauschalen verteidigen würde. Fallpauschalen sind eine Art Vergütung zum Festpreis. Als sie 2004 verpflichtend für nahezu alle in den Krankenhäusern erbrachten ambulanten und stationären Behandlungen eingeführt wurden, versprachen sich die Befürworter mehr Wettbewerb im System. Die Idee: Wenn ein Krankenhaus unabhängig von den Begleitumständen ohnehin nur eine fixe Summe für einen bestimmten Eingriff bekommt, hat es einen ökonomischen Anreiz, seine Prozesse zu optimieren und nur noch die Eingriffe vorzunehmen, bei denen es gut aufgestellt ist und Rendite erwirtschaftet.

Das war natürlich naiv. Die Wirtschaftsunternehmen Krankenhaus agierten vielmehr so, wie Wirtschaftsunternehmen es nun einmal tun, wenn sie ihre Rendite maximieren wollen. Patienten werden oft unnötig operiert und die Behandlungen wurden den Kapazitäten angepasst und nicht umgekehrt. Im System selbst ging es dabei vor allem um die Umverteilung der Finanzströme. Jedes Krankenhaus war bemüht, so viel Geld aus dem System herauszuziehen, wie möglich – zu Lasten anderer Häuser. Und wer das Spiel nicht mitmachte, war halt der „Dumme“, der ökonomisch bestraft wurde. Ökonomisch nennt man dies „Fehlanreize“.

Und wer sollte die Fehlanreize besser abschaffen als derjenige, der damals maßgeblich für sie verantwortlich war? Karl Lauterbach war vor 20 Jahren als engster Berater und „Einflüsterer“ der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt maßgeblich für das Fallpauschalen-System verantwortlich. Aber auch einem Karl Lauterbach könnte man ja freundlich eine Lernkompetenz bescheinigen. Wenn er seinen Fehler eingesehen hat und ihn nun korrigieren will – um so besser. Doch so einfach ist es nicht.

Die Reformvorschläge der „Lauterbach-Kommission“ sehen nämlich – anders als vielfach berichtet wurde – eben keine komplette Abkehr vom Fallpauschalensystem vor. Die Fallpauschalen sollen „lediglich“ durch ein System der Vorhaltepauschalen ergänzt werden. So sollen je nach Leistungsgruppe zwischen rund 40 und 60 Prozent der Betriebskosten pauschal finanziert werden – egal ob das betreffende Haus eine Leistung erbringt oder nicht. Das klingt sinnvoll und ist es eigentlich auch. Wenn ein großer Teil der Personal- und Betriebskosten pauschal gegenfinanziert ist, sinkt der „Druck im Kessel“ und die Häuser sind nicht ökonomisch gezwungen, Leistungen zu erbringen, die weder für die Patienten noch die Finanzierbarkeit einen Mehrwert haben. Wenn die Fallpauschalen im Hintergrund jedoch immer noch die übrigen 40 bis 60 Prozent ausmachen, verschieben sich die Fehlanreize lediglich. Es würde nicht wundern, wenn künftig das eigentlich „pauschal“ bezahlte Personal dann halt in Bereichen eingesetzt wird, die über die Fallpauschale weiterhin die Geldflüsse aus dem System umlenken. Um dies zumindest zu entschärfen, hat die Reform eine zweite Säule und die ist es dann auch, die eigentlich brisant ist.

Die Zeit, in der alle Krankenhäuser zumindest theoretisch alle Behandlungen und Eingriffe abrechnen können, soll dem Ende zugehen. Künftig soll es drei – eigentlich sind es vier – verschiedene Versorgungsstufen geben, in die man die Krankenhäuser eingruppiert. Das kleine Krankenhaus vor Ort ist dann ein Level-1-Krankenhaus, das nur noch die Grundversorgung anbieten kann. Mittelgroße Krankenhäuser in regionalen Zentren können dann als Level-2-Krankenhäuser die Regel- und Schwerpunktversorgung übernehmen, während nur noch die großen Unikliniken als Level-3-Krankenhäuser die Maximalversorgung bieten.

Um dies umzusetzen, soll das gesamte medizinische Angebot in 128 Leistungsgruppen unterteilt werden. Häuser, die eine Leistungsgruppe anbieten, müssen dafür zertifiziert werden und können künftig auch nur noch Eingriffe aus den Leistungsgruppen abrechnen, für die sie zertifiziert sind. Am Beispiel Schlaganfall sieht das dann folgendermaßen aus: Wenn das kleine Krankenhaus in der Kreisstadt keine Stroke Unit hat, wird es auch nicht für die entsprechende Leistungsgruppe zertifiziert werden können. Schlaganfallpatienten müssen dann in das nächstgelegene Level-2-Krankenhaus mit Stroke Unit eingewiesen werden. Unabhängig von der Frage, ob dies aus zeitlicher und kapazitärer Perspektive sinnvoll ist, ist dies aus Sicht des Patienten und der Kosten erst einmal durchaus sinnvoll. Doch welche Aufgaben haben die meisten Kliniken, die in diesem System als Level-1-Krankenhäuser gelten werden, dann überhaupt noch?

Hier schwingt ein böser Verdacht mit. Schließlich war es auch Karl Lauterbach, der noch vor drei Jahren – kurz vor Corona – felsenfest davon überzeugt war, dass man „mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollte“. Wenn die kleinen Häuser nun grob die Hälfte ihres Budgets über Vorhaltepauschalen beziehen und aufgrund der nicht vorhandenen Zertifizierung für die meisten Leistungsgruppen gar keine Leistungen erbringen können, die über die Fallpauschalen zusätzliche Mittel in die Kassen spülen, wie sollen sie sich dann überhaupt noch über Wasser halten? Was in der Theorie gut klingt, könnte – abhängig von der konkreten Ausgestaltung – genauso gut zu einem Massensterben der kleineren Kliniken führen. Dies betrifft übrigens nicht nur die ländlichen Gebiete, wo gesetzliche Vorgaben zur regionalen Versorgung die Schließungen zumindest eingrenzen, sondern vor allem kleinere Häuser in städtischen und urbanen Räumen.

Gerade für den ländlichen Raum dürfte die weitere Unterteilung der Level-1-Häuser in Level 1n und Level 1i von Bedeutung sein. Während 1n „nur“ die Notfallversorgung sicherstellen soll, misst man den 1i-Häusern die Möglichkeit zu, eine „sektorenübergreifende Versorgung“ mit „akutpflegerischen Leistungen“ vorzuhalten. Diese Häuser sollen dann jedoch ganz aus dem DRG-System mit seinen Fallpauschalen herausgelöst und künftig nach dem EBM-Vergütungssystem der Fachärzte bezahlt werden. Das ist insofern nur konsequent, da diese Leistungen nicht mehr von den Krankenhäusern selbst, sondern von niedergelassenen Fachärzten vor Ort erbracht werden sollen, die Belegbetten in den Häusern anmieten können. Das erinnert eher an das System der Polikliniken oder das dänische System, bei dem die kleinen Landkrankenhäuser bestenfalls als Ambulanzen bezeichnet werden können und nur 18 „Superkrankenhäuser“ das gesamte Land mit den eigentlichen Krankenhausleistungen versorgen. Genau dieser Vorschlag wurde von der Bertelsmann Stiftung vor Corona eingebracht. Danach wurde man aus verständlichen Gründen erst einmal still. Nun taucht der alte Wein offenbar in neuen Schläuchen wieder auf.

So sinnvoll sich einige Punkte in Lauterbachs Reformvorschlägen anhören – es ist zu vermuten, dass sie nur das „Zückerli“ sind, mit dem man der Öffentlichkeit den lange geplanten Kahlschlag im Krankenhaussystem schmackhaft machen will. Von einer Bestandsgarantie für die Häuser ist im gesamten Papier nämlich nicht die Rede. Es soll auch nicht mehr Geld in das System fließen. Im Gegenteil. „Die Gesamtsumme der Betriebsmittel soll gleichbleiben“, so Tom Bschor, der Koordinator der Krankenhauskommission gegenüber dem Ärzteblatt.

Mit den gleichen Mitteln mehr Leistung zu erbringen und vor allem mehr Personal einzustellen, ohne gleichzeitig den Profiteuren des ökonomisierten Gesundheitssystems, also z.B. den Krankenhausbetreibern und den Pharmakonzernen, weniger Mittel zu zahlen, wäre die Quadratur des Kreises. Wenn man jedoch hunderte kleinere Kliniken schließt und große Teile ihres Angebots aus dem System der Krankenhausfinanzierung in das System der Honorierung der niedergelassenen Ärzte überführt, wäre innerhalb des Krankenhaussystems in der Tat mehr Geld vorhanden. Auf das gesamte Gesundheitssystem betrachtet, wäre dies jedoch eine Milchmädchenrechnung vom Typ „linke Tasche, rechte Tasche“. Eine Revolution ist das ganz sicher nicht.

Und so ist der gesamte Reformplan vor allem eins: vage. Viel hängt von der konkreten Ausarbeitung ab und die ist vor allem Ländersache. Dass man zusammen mit Politikern wie dem bayerischen Gesundheitsminister Klaus Holetschek, der Lauterbachs Pläne bereits als „Planwirtschaft“ bezeichnet hat, die Reform so umsetzen kann, dass am Ende mehr für die Patienten und die Mitarbeiter und weniger für die renditeorientierten Akteure herauskommen kann, ist doch sehr fraglich. Die Lobbyisten werden auch bereits mit den Hufen scharren.

Und hier stehen wir vor dem entscheidenden Problem: Die Instrumente, die das Papier der Lauterbach-Kommission bietet, lassen sich nämlich auch so umsetzen, dass am Ende die Patienten und die Mitarbeiter noch schlechter dastehen und die renditeorientierten Krankenhauskonzerne und die zum Teil ohnehin schon hoch profitablen Facharztpraxen die eigentlichen Gewinner sind. Man braucht sicher nicht viel Fantasie, um sich genau diese Entwicklung vorstellen zu können. Was normalerweise wohl nur unter erheblichen Protesten möglich wäre, ist nun unter dem – nicht zutreffenden – Label „Abschaffung der Fallpauschalen“ möglich.

Titelbild: mrmohock/shutterstock.com


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