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Titel: Vorsichtiger Wechsel in Baden-Württemberg

Datum: 28. April 2011 um 14:33 Uhr
Rubrik: Private Public Partnership, Stuttgart 21, Wahlen
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Zugegeben, der Koalitionsvertrag zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD Baden-Württemberg [PDF – 900 KB] hebt sich mit seinen inhaltlichen Ankündigungen, in der Wortwahl oder in seinem Verständnis einer demokratischen Kultur, wohltuend von Koalitionsvereinbarungen schwarz-gelber Regierungsbündnisse ab. Die guten Botschaften hört man wohl, doch viele Zweifel bleiben, ob ihnen auch entsprechende Taten folgen werden. Allzu oft heißt es in dem Papier „wir streben an“, „mittelfristig soll“, wir wollen „im Dialog regieren“, „in Zusammenarbeit mit den Akteuren“ oder „wir werden das Gespräch suchen“ und „Brücken bauen“. Das hört sich sympathisch und demokratisch an, lässt aber für viele mit großem Pathos vorgetragene Ankündigungen alle Auswege offen. „Wir werden verändern, wo es notwendig ist, Manches anders und Vieles besser machen.“ Man wolle mit „Maß und Mitte“ vorgehen. Da spürt man die Vorsicht, mit der dieses Bündnis den „Wechsel beginnen“ will.
Bei vielen Entscheidungen, die eine klare politische Festlegung verlangen würden, beinhaltet der Vertrag nur Formelkompromisse. Die Hoffnung der Grünen, dass Stuttgart 21 nicht kommt, hängt an einem dünnen Faden und beim Atomausstieg schiebt man die Verantwortung auf den Bund ab. Wolfgang Lieb

Im Koalitionsvertrag steht die Bildung an erster Stelle. Es werden dafür sogar mehr Investitionen versprochen. Wie viel und wo genau, das wird allerdings von einem „Kassensturz“ abhängig gemacht.

Der Ausbau der Kleinkindbetreuung, Sprachförderungsprogramme schon im Kindergarten, einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Betreuung, mehr Schulsozialarbeit, mehr Ganztagsangebote in Kindergärten und Schulen, eine Sonderprogramm gegen den Unterrichtsausfall, die Verankerung von Ganztagsschulen als Regelform im Schulgesetz und Vieles mehr, das hört sich alles sehr positiv an, ob dafür aber die Mittel ausreichen werden, die aufgrund sinkender Schülerzahlen frei werden und mit einer Erhöhung der Grunderwerbssteuer um eineinhalb Prozent zusätzlich eingenommen werden können, ist äußerst zweifelhaft. Allzu große Sprünge werden damit wohl kaum möglich sein.

Die Koalitionspartner halten die Gebührenfreiheit im Kindergarten für „wichtig“, doch „angestrebt“ wird eine Vereinbarung mit den kommunalen Spitzenverbänden, dass diese Gebühren „sozial gestaffelt werden“. Was sie ja in aller Regel schon sind.

Natürlich kann man verstehen, dass nach den Erfahrungen mit dem Volksbegehren in Hamburg den Kommunen unter Mitwirkung ihrer Schule nur angeboten wird, freiwillig Gemeinschaftsschulen für alle Kinder bis Klasse 10 einzurichten. So werden aber Gemeinschaftsschulen eher aus der Not geboren, weil etwa die örtliche Hauptschule zur Schließung ansteht oder weil sich in Ballungszentren genügend Eltern dafür engagieren. Aber man hätte ja auch wie in Nordrhein-Westfalen Gesamtschulen als Schulform einrichten und es den Eltern überlassen können, ob sie ihre Kinder dort anmelden.

„Wir streben an, dass mittelfristig mindestens 50 Prozent eines Altersjahrgangs im Lauf ihres Lebens ein Hochschulstudium abschließen“. Das ist – gemessen an der bisherigen Absolventenquote von rund 25 Prozent – ein wahrlich hohes Ziel. Der Weg, wie das erreicht werden soll, bleibt aber ziemlich vage.

Gerade in Baden-Württemberg, wo die Hochschulpräsidenten per Gesetz ja „Vorstandsvorsitzende“ genannt werden, ist es ein mutiger Satz, wenn es im Vertrag heißt: „Das Leitbild der „Unternehmerischen Hochschule“, das dem aktuellen Landeshochschulgesetz zugrunde liegt, hat noch nie zu den Hochschulen gepasst.“ Auch dass anstelle der bestehenden Aufsichtsräte externe Hochschulbeiräte etabliert werden sollen, die die Hochschulen, statt mit Entscheidungskompetenzen in zentralen Fragen nur noch mit Blick von außen beratend begleiten sollen, ist begrüßenswert. Doch wie man das „gemeinsam mit den Hochschulen“ und das heißt gegen die Landesrektorenkonferenz durchsetzen will, bleibt eine offene Frage.

Erfreulich ist auch die Wiedereinführung einer „Verfassten Studierendenschaft“, die über die Belange der Hochschule hinaus auch mit einem entsprechenden Mandat an der gesellschaftlichen Willensbildung teilnehmen soll. Genauso positiv sehe ich auch die Forderung, dass überall, wo es um Studium und Lehre geht, Studierende mitgestalten können sollen, dass Studiengebühren – wenn auch erst zum Sommersemester 2012 – wegfallen sollen, dass für die Hochschulen die Teilnahme an einem bundesweiten Serviceverfahren zur Vergabe von Numerus-Clausus-Studienplätze obligatorisch werden soll, dass der Übergang von einem Bachelor- zu einem Masterstudiengang nicht an den notwendigen Studienplätzen scheitern soll oder dass Fachhochschulabsolventen einen geregelten Zugang zur Promotion haben sollen.

Der Koalitionsvertrag fordert weiter, dass die Kriterien „guter Arbeit“ endlich auch an den Hochschulen gelten müssen und dass innerhalb der nächsten fünf Jahre die Zahl unbefristeter Mittelbaustellen zu erhöhen ist. Doch all dies wird auf den Widerstand der Hochschulleitungen stoßen. Wenn es die neue Landesregierung nicht schafft, alternative Kommunikationsstrukturen mit den Hochschulen aufzubauen, so wird – jedenfalls im Konsens – mit den „Vorstandsvorsitzenden“ an den baden-württembergischen Hochschulen nur wenig zu erreichen sein. Dass „mittelfristig…ein Frauenanteil von 40 Prozent in allen Hochschulgremien erreicht“ werden soll, wird allein schon wegen des geringen Frauenanteils unter der Professorenschaft nur mildes Lächeln hervorrufen.

Grün-Rot will „mutige Schritte“ in Richtung auf eine „erneuerte soziale und ökologische Marktwirtschaft“ gehen und das „im engen Miteinander aller Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Kammern, Gewerkschaften und sonstigen Akteuren“. Man darf gespannt sein, wie viel Mut nach dem von der neuen Landesregierung gesuchten „Dialog“ und nach der „Einladung zur Mitarbeit“ noch übrig bleiben wird. Interessant dürfte auch sein, wie sich Daimler und Porsche dazu stellen werden, dass die „Heimat des Automobils“ sich zum Leitmarkt für Elektromobilität und zugleich zum Leitanbieter für alternative Antriebe und für ressourcenschonende Mobilität entwickeln soll. Allein der Aufbau einer neuen Fahrzeugflotte der Landesregierung mit elektrisch betriebenen bzw. alternativen Antriebsarten, dürfte dafür wohl kaum ein ausreichender Impuls sein.

Auch die Zurücknahme der Praxis von Public-Private-Partnership (PPP) und Generalunternehmer-Verträgen ist ein positives Signal. Baden-Württemberg zu einem „Musterland Guter Arbeit“ zu machen ist jedenfalls ein neuer Ton in der deutschen Politik.
Wie man allerdings ein Tariftreuegesetz mit einem Mindeststundenlohn von zunächst 8,50 Euro vom „Ländle“ gegenüber dem Europäischen Gerichtshof durchsetzen will, ist eine offene Frage. Immerhin könnte mit Baden-Württemberg die Gegenbewegung gegen die derzeitig Auslegung der europäischen Dienstleistungsfreiheit gestärkt werden.

Auch der Vorsatz, die Leiharbeit zu bekämpfen und für gleiches Geld für gleiche Arbeit und gleiche Arbeitsbedingungen einzutreten, ist für eine Landesregierung ein neuer Akzent und kann die Debattenlage in Deutschland positiv beeinflussen.

Über den Kompromiss zu Stuttgart 21 wurde schon viel geschrieben, deshalb erspare ich mir weitere Spekulationen. Im Koalitionsvertrag selbst wurde nur bestätigt, dass die Koalitionsparteien zu diesem Projekt unterschiedlicher Meinung sind und ihre jeweiligen Positionen respektieren. Die Koalitionspartner werden also bei der für Oktober angestrebten Volksabstimmung als Instrument zur „Friedensstiftung“ zwischen den „gespaltenen Lagern“ gegeneinander antreten.

Wenn also nicht die Bewertung der Ergebnisse des in der Geißlerschen Schlichtung erreichten weiteren „Stresstests“ zu einem negativen Ergebnis führt und wenn der vereinbarte „Kostendeckel“ für das Land in Höhe von 4,5 Milliarden Euro für S 21 nicht gesprengt wird, dann wird dieses gigantomanische Projekt verwirklicht werden. Denn im Koalitionsvertrag heißt es: „Die Volksabstimmung wird nach Art. 60 der Landesverfassung durchgeführt“. Und dort steht in Absatz 5: „Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Das Gesetz ist beschlossen, wenn mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten zustimmt.“ Dass ein Drittel der Stimmberechtigten (!) – das ist mehr als die ablehnenden Grünen und die zustimmenden Sozialdemokraten bei dieser Wahl an Stimmen erhalten haben – für ein „Gesetz über die einseitige Kündigung der bestehenden vertraglichen Verpflichtungen des Landes Baden-Württemberg (Ausstiegsgesetz)“ stimmen werden, ist so unwahrscheinlich wie, dass der Neckar flussaufwärts fließt. Das gilt umso mehr, als Bestandteil des zur Abstimmung gestellten Gesetzentwurfs auch die Kosten sein sollen, die auf das Land im Falle eines solchen Ausstiegs zukommen könnten. Wie die bekannt sparsamen Schwaben reagieren werden, wenn ihnen nach den bisherigen Darstellungen vorgerechnet wird, dass sie bei einem Ausstieg 1,5 Milliarden „für nix“ bezahlen sollen, kann man sich leicht ausdenken. (Etwas Kritisches darüber, ob diese Kosten [PDF – 80 KB] wirklich anfallen würden, liest man in der Vereinbarung nicht. Siehe auch „Wer finanziert Stuttgart 21“)

Die Hoffnung der S 21 ablehnenden Grünen, der vereinbarte Kostendeckel von 4,5 Milliarden würde gesprengt, hängt an einem dünnen Faden. Denn es wäre ein ziemlich einmaliger Vorgang, dass die Kalkulationen für solche öffentlichen Milliarden-Projekte nicht so dargestellt werden könnten, dass der erwünschte Betrag herauskommt. Was dann nach Baubeginn an zusätzlichen (unerwarteten und nicht vermeidbaren) Kosten anfällt, steht in einem anderen Kapitel.

Die Einbringung eines Gesetzentwurfes zur Änderung der Landesverfassung mit dem Ziel einer deutlichen Senkung der Quoren bei Volksabstimmung, darf man getrost, als ein billiges Alibi abtun, denn eine zwei Drittel Mehrheit ist im Stuttgarter Landtag dafür nicht zu haben. Die CDU hat längst abgewinkt.

„Atomkraft – nein danke“ lautet die Grüne Überschrift und „Wir werden endlich die Energiewende in Baden-Württemberg voranbringen und die Nutzung der Atomkraft endgültig
beenden“, heißt es im Vertrag. Die derzeit schon still gelegten Atomkraftwerke Neckarwestheim I und Philippsburg I sollen dauerhaft stillgelegt werden. Aber selbst wenn das erreicht werden könnte, was ist mit den anderen Atomkraftwerken des „Atomkonzerns“ EnBW in Baden-Württemberg? Dazu fordert das Land nur den Bund auf, nicht nur die Laufzeitverlängerung zurück zu nehmen, sondern ein Gesetz für einen beschleunigten Atomausstieg zu verabschieden. Grün-Rot überlässt also die Atompolitik Schwarz-Gelb.

Was will aber das Land, das ja mit der Übernahme der 45-Prozent-Beteiligung des französischen Stromriesens EDF einen bestimmenden Einfluss auf EnBW hat, selbst tun?
Darüber schweigt sich der Koalitionsvertrag aus. Selbst Mappus hat ja den 4,67-Millarden-Deal damit begründet, dass das Land den Energiekonzern auf erneuerbare Energien umsteuern wolle und dies mit der weltweit am stärksten auf die Atomkraft setzende französische EDF als Mehrheitseigner nicht möglich gewesen wäre. Dort wo also eine grün-rote Landesregierung selbst seinen Einfluss ausüben könnte, um der Atomkraft „nein danke“ zu sagen, will sie mit ihrer „gewichtigen Beteiligung“ an EnBW nicht mehr tun, als darauf zu achten, sich in ihrem „ordnungspolitischen und hoheitlichen Handeln wettbewerblich neutral zu verhalten“.


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