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Titel: Berlin wählt die Nichtregierbarkeit

Datum: 13. Februar 2023 um 11:59 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Wahlen
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Die gute Nachricht zuerst. Die Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den 12 Bezirksverordnetenversammlungen ist anscheinend weitgehend reibungslos verlaufen. Anders als beim ersten Versuch am 26. September 2021 mangelte es in den rund 2.300 Wahllokalen weder an Stimmzetteln noch an Wahlkabinen und Wahlhelfern. Es kam weder zu zeitweiligen Schließungen der Wahllokale noch zu stundenlangen Wartezeiten und Stimmabgaben bis weit nach 20 Uhr. Das und noch einiges andere hatte dazu geführt, dass das Berliner Landesverfassungsgericht die Wahlen im November 2022 komplett für ungültig erklärt und ihre Wiederholung angeordnet hatte. Von Rainer Balcerowiak.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dem Senat muss man bescheinigen, dass er die Wahlvorbereitung diesmal für Berliner Verhältnisse sehr effizient und zielgerichtet gestaltet hat. Begünstigt wurde der korrekte Verlauf durch drei weitere Faktoren: 1.) Diesmal war es eine reine Berliner Wahl, während im September 2021 gleichzeitig auch der Bundestag gewählt und über einen Volksentscheid abgestimmt wurde. 2.) Es gab diesmal keinerlei Corona-Restriktionen mehr. 3.) Es fand diesmal auch nicht zeitgleich der „Berlin-Marathon“ statt, der die Innenstadt und somit auch die Transportwege – etwa für die Nachlieferung von Material – weitgehend lahmlegte.

Jetzt die schlechte Nachricht. Die Wahlbeteiligung ist gegenüber dem September 2021 signifikant gesunken, von 75,4 auf 63,1 Prozent. Zwar befindet sich die Stadt im multiplen Dauerkrisenmodus, doch offensichtlich trauen immer mehr Berliner weder der taumelnden „rot-grün-roten“ Landesregierung noch der bürgerlichen Opposition zu, die Probleme ernsthaft anzugehen oder gar zu lösen. Daher gab es auch keine ausgeprägte „Wechselstimmung“, obwohl es durchaus im Bereich des Möglichen lag und noch immer liegt, dass es zu einem Regierungswechsel kommt. Zumal die Spitzenkandidaten von SPD, Grünen und CDU in den Umfragen lange Zeit eng beieinander lagen, bevor sich die CDU absetzen konnte und die zeitweilig führenden Grünen auf den 3. Platz durchgereicht wurden.

Der Wahlkampf selbst wirkte seltsam lustlos. Nur selten sorgten ein paar Aufreger-Themen wie die „Silvesterkrawalle“ und die erneute, diesmal vorerst endgültige Sperrung eines Teilabschnitts der Friedrichstraße für den Autoverkehr für ein wenig Stimmung. Erste Nachwahlbefragungen legen allerdings nahe, dass gerade diese beiden Themen bei der Wahlentscheidung eine wichtige Rolle gespielt haben.

Doch das ist jetzt alles vorbei, der Souverän hat gesprochen. Die CDU ist mit Abstand stärkste Partei geworden und steigerte ihren Stimmenanteil von 18 auf 28,2 Prozent. Ihr ist es offenbar gelungen, den Unmut über die „rot-grün-rote“ Koalition zu bündeln, denn die FDP wurde bei dieser Wahl regelrecht kannibalisiert: Sie flog mit 4,6 % aus dem Abgeordnetenhaus. Auch der allgemein befürchtete starke Zuwachs der AfD hielt sich in engen Grenzen. Prozentual konnte sie sich zwar um 1,1 auf 9,1% verbessern, aber unter dem Strich hatte sie rund 8.000 Stimmen weniger.

Deutlich verloren haben die Parteien der „rot-grün-roten“ Koalition. Die SPD erzielte mit 18,4 % ihr schlechtestes Berliner Wahlergebnis seit 1949 und verlor rund 110.000 Stimmen. Auch die Grünen mussten Federn lassen und verloren 64.000 Stimmen. Die Linke muss einen Verlust von 70.000 Wählern verkraften.

Eine tief gespaltene Stadt

Trotz der durchaus dramatischen Verschiebungen im Gesamtergebnis hat sich an der strukturellen politischen Spaltung der Stadt wenig geändert. Die Grünen konnten ihre dominante Stellung in den Innenstadtbezirken weitgehend verteidigen, die CDU hat ihre starke Position in fast allen Bezirken außerhalb des S-Bahn-Rings ausgebaut. Also dort, wo das Interesse an einer Verdrängung des PKW-Verkehrs und der Errichtung von genderneutralen Toiletten eher gering ist. Im östlichen Teil haben die AfD und auch Die Linke ihre Hochburgen halten können. Die SPD hat dagegen überall mehr oder weniger stark verloren. Sie hat 21 ihrer 25 Direktmandate verloren, und auch die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey musste ihren Wahlkreis in ihrem Stammbezirk Neukölln an eine CDU-Hinterbänklerin abgeben.

Dem eindeutigen Wahlsieger CDU und ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner gebührt jetzt natürlich der erste Aufschlag für die Bildung einer neuen Regierung. Denkbar wären Zweierbündnisse mit der SPD oder den Grünen, die beide bereits ihre Bereitschaft zu ersten Sondierungsgesprächen in den kommenden Tagen signalisierten. Doch ob es zu einer CDU-geführten Regierung kommt, ist keineswegs ausgemacht. Denn auch die „Koalition der Verlierer“ könnte weiterhin den Senat bilden, und zwar erneut unter Führung von Giffey, da die SPD einen hauchdünnen Vorsprung von 105 Stimmen vor den Grünen ins Ziel retten konnten.

Für eine Fortsetzung der „rot-grün-roten“ Koalition spricht einiges. Für Giffey ist es die einzige Chance, weiterhin als Regierende Bürgermeisterin zu amtieren. Zwar haben sie und der von ihr repräsentierte Flügel der SPD große Schnittmengen mit der CDU, doch der drohende Verlust an Einfluss und Posten in einer CDU-regierten Landesregierung wiegt schwer. Und die viel beschworene, „eher linke SPD-Basis“ hat sich zwar stets als äußerst biegsam erwiesen, doch eine Rolle als Juniorpartner der CDU dürfte dort ähnlich populär wie Fußpilz sein.

Das gilt auch für die Grünen, zumal sich der CDU-Wahlkampf stark auf die quasi identitätsstiftenden grünen Herzensthemen fokussiert hatte, vor allem in der Verkehrs-, Sicherheits-, Klima-, Migrations- und Gender-Politik. Derzeit ist schwer vorstellbar, wie der CDU-Spitzenmann Wegner in die Rolle des großen Integrators schlüpfen könnte, der den Grünen ein kompromissfähiges Angebot macht. Denn bei seiner Basis steht Wegner im Wort: Als Schutzpatron der Autofahrer und mit „klarer Kante“ gegen „integrationsunwillige Migranten“. Offenbar erfolgreich schreckte die CDU dabei auch nicht vor rassistischen Vorstößen zurück, wie etwa mit der Forderung, die Vornamen der bei den Silvesterkrawallen festgenommenen deutschen Staatsbürger zu veröffentlichen.

Doch egal wie der Koalitionspoker ausgeht – er wird von Formelkompromissen und „Prüfaufträgen“ geprägt sein. Im Mittelpunkt irgendwas mit Verwaltungsreform, innerer Sicherheit, Wohnungsbau, Schule und Klima, nebst ein paar speziellen Steckenpferden der jeweiligen Koalitionäre. Um die Linke braucht man sich bei Überlegungen über eine Fortsetzung der bisherigen Koalition nicht sonderlich zu scheren. Für die heißt es – wie eigentlich immer – friss oder stirb, und sie wird – wie immer – fressen, wenn man sie überhaupt wieder an den Napf lässt.

Für Spannung ist in den kommenden Tagen und Wochen jedenfalls gesorgt. Doch dass im Ergebnis ein ernsthafter Anlauf zur Bewältigung des Riesenbergs an Problemen der partiell dysfunktionalen Stadt herauskommt, ist eher unwahrscheinlich. Zumal sich die Gräben zwischen der eher links-alternativen, hippen Innenstadt und der eher bürgerlich-konservativen bis reaktionären Mehrheit an der Peripherie eher vertieft haben. Anscheinend kann und will diese Stadt gar nicht einigermaßen kohärent regiert werden, und die Zustimmungswerte für eine der drei möglichen Koalitionen liegen mehr oder weniger deutlich unter 40 Prozent – mit einer kleinen Präferenz für die Fortsetzung der „rot-grün-roten“ Koalition. Auch die deutlich gesunkene Wahlbeteiligung spricht eine deutliche Sprache: Mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten ist offensichtlich der Meinung, dass es ziemlich egal ist, wer in dieser Stadt nichts auf die Reihe bekommt. Für die nahe und fernere Zukunft der Stadt ist das alles keine gute Nachricht.

Titelbild: canadastock/shutterstock.com


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