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Titel: Die Autoimmunerkrankung der Vierten Gewalt

Datum: 13. Mai 2011 um 9:30 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, PR
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Am letzten Freitag war die Welt der Großjournalisten noch in Ordnung. Man traf sich, in Smoking und Ballkleid gewandet*, im edlen Hamburger Schauspielhaus und feierte sich selbst für die eigene Großartigkeit. Vor allem in schlechten Zeiten dienen solche Rituale der weltanschaulichen Festigung – Strukturvertriebe zeichnen in ähnlichen Ritualen ihren besten Klinkenputzer aus, Kaninchenzüchter den patentesten Rammler. In diesem Jahr ging der Egon-Erwin-Kisch-Preis, die bedeutendste Trophäe der journalistischen Selbstinszenierung, an den SPIEGEL-Redakteur René Pfister, der für seinen Arbeitgeber ein nett zu lesendes, sehr gut geschriebenes aber letztlich doch an der Oberfläche bleibendes Portrait des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer geschrieben hatte. Eine Woche später schlägt die Branche hysterisch aufeinander ein. Statt Selbstkritik zu üben, tanzt die selbsternannte Elite der Vierten Gewalt um ein goldenes Kalb namens Wahrhaftigkeit und zeigt damit nur einmal mehr, dass sie sich von journalistischen Prinzipien entfernt hat und in einer inzestuösen Parallelwelt lebt. Von Jens Berger

Was ist René Pfister vorzuwerfen? In seinem Politiker-Portrait „Am Stellpult“ hat er in vier kurzen Absätzen beschrieben, mit welcher Hingabe sich Horst Seehofer mit der Modelleisenbahn im Keller seines Ferienhauses beschäftigt. Pfister war zwar nie persönlich in besagtem Keller, ließ sich aber von seinen Kollegen beim SPIEGEL, die persönlich die Modelleisenbahn in Augenschein nehmen durften, jedes Detail seines Artikels bestätigen. Den einzige „Fehler“, den man Pfister vielleicht vorzuwerfen kann, ist, dass er im Artikel nicht explizit erwähnt, nie die Modelleisenbahn Seehofers mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Ein Skandal? Aber nicht doch. Wer so denkt, müsste den Reporter-Legenden Bob Woodward und Seymour Hersh auch ihre Pulitzer-Preise wegnehmen, spielen sie in ihren Reportagen doch ganz bewusst damit, verifizierte Informationen aus dritter Hand so darzustellen, dass der Leser denkt, er sei selbst dabei. Diese Form des „Schlüsselloch-Journalismus“, die dem Leser eine Authentizität vorspiegelt, die nicht gegeben ist, ist bereits seit langem ein Markenzeichen des SPIEGEL und wird von der Konkurrenz fleißig nachgeahmt. Diese Form des Journalismus kann man sehr wohl kritisieren – sie zu kritisieren und gleichzeitig nachzuahmen ist jedoch unehrlich.

Würden die Hohepriester des „Qualitätsjournalismus“ für ihre eigenen Blätter die gleiche Messlatte anlegen, mit der sie in den letzten Tagen wild um sich schlugen, würden ihre Blätter wohl auf das Format einer Werbebeilage des lokalen Baumarkts schrumpfen. Wer sein Personal in rasantem Tempo abbaut, immer mehr qualitätssensitive Bereiche an Billigheimer outsourced und sich einen Gutteil des Blattes durch Agenturmeldungen füllen lässt, sollte sich bitte schön auch bei Sonntagsreden über die Wahrhaftigkeit des Journalismus zurückhalten.

Es ist nicht schwer, den SPIEGEL zu kritisieren. Bei den NachDenkSeiten vergeht kaum ein Tag, an dem der SPIEGEL nicht in den Hinweisen des Tages inhaltlich und formal scharf kritisiert wird. Doch diese inhaltliche – und in der Tat wahrhaftige – Kritik hat nichts mit der pomadigen Selbstgerechtigkeit zu tun, die in den letzten Tagen die Gazetten füllt. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Dass ausgerechnet der Focus und die Springer-Zeitungen BILD, WELT und Hamburger Abendblatt sich nun zum Gralshüter (formal)journalistischer Werte aufspielen, entbehrt dabei nicht einer gewissen Komik. Wer ihre vor Scheinheiligkeit triefenden Mahnungen liest, fühlt sich unweigerlich in die Rolle einer Randfigur in einem Roman von Kafka versetzt. Hat man bei Springer vergessen, dass die BILD einsamer Spitzenreiter bei den Rügen des Presserats ist? Hat Focus-Herausgeber Markwort vergessen, dass seine „Finanzjournalisten“ in erstaunlicher Regelmäßigkeit das Blatt nutzen, um ihre Leser finanziell zu erleichtern?

Woher kommt der geradezu panische Beißreflex der selbstverliebten Großjournalisten? Der SPIEGEL hat sich in der Branche in den letzten Jahren nicht unbedingt viele Freunde gemacht. In ziemlich ungerechtfertigter Selbstüberschätzung hat sich der SPIEGEL selbst in den Medien-Olymp erhoben und schaut mit überbordender Arroganz auf den Rest der Branche herab. Es ist natürlich verständlich, dass die Lausebengel aus der letzten Reihe feixen, wenn der unbeliebte Streber vom Klassenlehrer beim Mogeln erwischt wird – ob er wirklich gemogelt hat, spielt dabei keine Rolle und schon gar nicht, dass die meisten von ihnen selbst mogeln. Der Focus ist neidisch, dass er – vollkommen zu Recht – nicht als Nachrichtenmagazin wahrgenommen wird. Im Springer-Verlag grollt man immer noch, dass der SPIEGEL die Omerta gebrochen hat, als er vor wenigen Wochen die BILD in einer Titelgeschichte scharf kritisierte. Der SPIEGEL hat in der Branche eine gewaltige Fallhöhe erreicht. Man muss sich nicht wirklich darüber wundern, dass den Hyänen der Sabber aus den Lefzen läuft, wenn der Leitbulle von der Brandstwiete taumelt.

Das selbstentrückte, pedantische Pochen auf abstrakte journalistische Ideale verfolgt jedoch auch den Zweck, die Branche in ein steriles Licht zu tauchen, das deren dunkle Schatten überstrahlen soll . Christian Schlüter stellt in der Frankfurter Rundschau diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit in einem der wenigen lesenswerten Kommentare zum Thema dar:

Journalisten jagen die pralle Wirklichkeit und wenn sie darüber schreiben, lassen sie nichts weg, komponieren ihre Texte nicht, lassen ästhetische Kriterien vollkommen außer Acht, schreiben nichts um, kürzen auch nicht, verlängern nie… Es ist die Wirklichkeit, die sich ohne subjektive Zutat in die Rotationsmaschinen der Presse einschreibt… Okay, das ist uns jetzt echt zu blöd […]
Christian Schlüter – Blechböschung

Ohne es selbst zu bemerken, hat sich der „Qualitätsjournalismus“ von seinen Lesern entfremdet. Wenn man die Bürger fragt, was sie an den heutigen Politikern auszusetzen haben, bekommt man häufig die Antwort, dass die Politiker das Volk nicht mehr wahrnehmen würden, in ihrem eigenen Saft schmoren, einen elitären Dünkel pflegen, sich selbst feiern und inhaltliche Kritik von außen nicht mehr wahrnehmen. Wie sollen diese Politiker von Journalisten kontrolliert werden, auf die exakt die gleichen Beschreibungen zutreffen?

Wir erleben ein tiefgreifendes kollektives Versagen der Vierten Gewalt. Anstatt die Mächtigen zu kontrollieren, empfinden sich die ehemaligen „Sturmgeschütze“ der Demokratie selbst als Teil der Macht. Anstatt offensichtliche Defizite im politischen und wirtschaftlichen System zu hinterfragen, streiten sich die Doyens der Branche wie Kleinkinder im Sandkasten über Petitessen und schlagen die Sandburgen ihrer Spielkameraden mit dem Schäufelchen kaputt.

Wütenden Worte, wie diese, prallen an den Verantwortlichen freilich ungehört ab. Um sie zu erreichen, müssen wir mit ihnen in der einzigen Sprache sprechen, die sie verstehen. Vielleicht sollte man den Vorschlag, den uns ein Leser vor wenigen Wochen zuschickte, noch einmal überdenken:

„Mein Vorschlag an die Leser der Nachdenkseiten ist sehr einfach. Bestellen Sie eine der Veröffentlichungen der Mainstreampresse ab und stellen den Betrag den Nachdenkseiten zur Verfügung.“

* Der Autor war nicht persönlich bei der Verleihung des Henri-Nannen-Preises zugegen, ist sich aber sicher, dass seine „szenische Rekonstruktion“ der Wahrheit sehr nahe kommt.


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