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Titel: The Times – Economic View: „Deutschland riskiert eine verlorene Dekade nach der Art Japans“

Datum: 19. November 2005 um 16:45 Uhr
Rubrik: Wahlen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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„Deutschlands Plan, das eingestandene ökonomische Versagen dadurch zu korrigieren, dass man exakt das Gegenteil von dem tut, was die moderne Ökonomie vorschlägt, ist sicher eine herausragende und neue Idee.“ Ein Leser hat für uns einen lesenswerten Beitrag aus der Times übertragen.

Deutschland riskiert eine verlorene Dekade nach der Art Japans

Von Anatole Kaletsky

Nach zwei Monaten politischen Pferdehandels hat Deutschlands neue Regierungskoalition am letzten Freitag ihr Programm vorgelegt. Da Deutschland die größte Volkswirtschaft in Europa und die drittgrößte der Welt darstellt, war das ein Ereignis von einiger Wichtigkeit. Trotzdem haben die ökonomischen Ideen, die hinter diesem Programm stehen und, gelinde gesagt, sehr ungewöhnlich sind, erstaunlich wenige Debatten ausgelöst.

Die neue deutsche Regierung startet eines der verwegensten Experimente, die je in der Geschichte der Ökonomie – oder besser der Anti-Ökonomie – unternommen wurden. Deutschland war in den vergangenen drei Jahren einer der depressivsten Ökonomien der Welt, mit dem schwächsten Wachstum an wirtschaftlicher Tätigkeit und Konsum. Die Koalitionspartner – die entgegen gesetzten Enden des politischen Spektrums repräsentierend – fanden es bei den meisten Punkten nicht leicht, eine gemeinsame Ebene zu finden, aber auf einen Punkt konnten sie sich gemeinsam und enthusiastisch einigen:
Der Weg, eine von Massenarbeitslosigkeit und stagnierendem Konsum geplagte Wirtschaft zu stimulieren, besteht in Steuererhöhungen.

Deutschlands Plan, das eingestandene ökonomische Versagen dadurch zu korrigieren, dass man exakt das Gegenteil von dem tut, was die moderne Ökonomie vorschlägt, ist sicher eine herausragende und neue Idee. Jim O’Neill, Chefvolkswirt bei Goldman Sachs, bemerkte neulich im Fernsehen, deutsche Politiker benähmen sich, als ob sie noch nie ein Lehrbuch der Ökonomie gesehen hätten, geschweige denn verstanden.

Dementsprechend hat die deutsche Regierung beschlossen, eine der umfangreichsten Steuererhöhungen der Nachkriegsgeschichte durchzuführen und diese auf die schwächsten und sensibelsten Teile der Wirtschaft zielen zu lassen: Konsum, der unter einer dreiprozentigen Erhöhung der Mehrwertsteuer leiden wird, sowie Wohnen, das vom Abbau von Anreizen für Eigenheime getroffen wird. Zusätzlich, um Beschwerden abzuwehren, die neuen Verbrauchssteuern träfen überwiegend ärmere Konsumenten, wird die Regierung auch die Reichen angehen, indem sie den Höchststeuersatz der Einkommensteuer von 42 auf 45% erhöht.

Es scheint, als liefe Angela Merkels Idee eines Kompromisses zwischen Christdemokraten, deren unpopulärste Idee die Mehrwertsteuererhöhung war, und den Sozialdemokraten, deren meist gescholtene die nach Einkommenssteuererhöhung war, darauf hinaus, die jeweils unpopulärsten Forderungen zu kombinieren und alles weitere fallen zu lassen.

Als ich vor ein paar Tagen mit einem der prominentesten Ökonomen Deutschlands sprach, führte ich an, dass ein Absinken des Konsums als Antwort auf höhere Steuern mehr als eine theoretische Möglichkeit, sondern vielmehr eine wohlbegründete empirische Tatsache sei – gestützt auf breite Erfahrung in einer großen Anzahl von Ländern.

“Vielleicht” entgegnete er, “aber die Deutschen sind anders. Wenn in Deutschland Steuern erhöht werden, kann ich Ihnen garantieren, dass Verbraucher mehr Vertrauen haben und mehr ausgeben werden. Sehen Sie, wir Deutschen machen uns heutzutage mehr Sorgen hinsichtlich der Staatsverschuldung als über unsere eigenen Einkommen.”

Wenn sich das bewahrheiten würde – und die Deutschen als Reaktion auf Merkels Steuererhöhungen wirklich mehr ausgeben – wird das sicher eines der unerwartetsten Ereignisse in der Geschichte der Ökonomie sein. Wie stehen also die Chancen, dass das Merkelsche Experiment erfolgreich sein wird? Die Erfahrung lehrt, dass Stimulation der Wirtschaft durch Steuererhöhungen unwahrscheinlich ist, aber nicht völlig unmöglich. Lassen Sie mich mit den schlechten Nachrichten beginnen. Die engste Parallele zum aktuellen deutschen Versuch ist die Erhöhung der Verbrauchssteuern, die die Hashimoto-Regierung in Japan 1997 vornahm. Die japanische Wirtschaft war schon seit fünf Jahren vor der Erhöhung depressiv (wie die deutsche seit 2001), aber der japanische Konsum stieg von 1991-96 noch um durchschnittlich 2,3% pro Jahr. In dem Jahr nach der Steuererhöhung fiel er um drei Prozentpunkte um dann in den folgenden fünf Jahren um gerade einmal magere 0,2% zu steigen.

Dieser Zusammenbruch des japanischen Binnenmarktes (Konsums) von 1997 an löste die asiatische Finanzkrise und die riesigen wirtschaftlichen Verwerfungen, die sie begleiteten, aus. In anderen Worten, die Steuererhöhung von 1997 war nachweisbar die desaströseste ökonomische Entscheidung irgendeiner bedeutenderen Regierung seit dem Smooth-Hawley-Tarif von 1931.

Wenn in Deutschland eine ähnliche Entwicklung folgt – und das ist höchst wahrscheinlich – wird die Merkelsche Steuerschraube Deutschland für den Rest des Jahrzehnts zur Depression verurteilen und ziemlich wahrscheinlich eine asien-ähnliche Finanzkrise in weiten Teilen Osteuropas in den nächsten ein bis zwei Jahren auslösen.

Es gibt jedoch eine entfernte Möglichkeit eines gütigeren Ausgangs. Die letzten 20 Jahre gab es ein paar Beispiele, wo Regierungen es geschafft haben Steuererhöhungen so zu gestalten, dass sie Wirtschaftswachstum angestoßen haben – vor allem Bill Clinton’s Steuererhöhungen Mitte der 90er, Norman Lamont’s Sparbudget nach dem Schwarzen Mittwoch sowie das Thatcher Budget von 1981.

Kann es sein, dass der deutsche Steuerplan zu einer weiteren derartigen Überraschung wird? Es wäre immerhin möglich.

Die deutsche Koalition hat eine sinnvolle Entscheidung getroffen: Anstatt die Erhöhung so bald als möglich zu machen, haben sie sie auf Januar 2007 verschoben. Dadurch ist es möglich, dass deutsche Verbraucher nächstes Jahr vermehrt konsumieren werden, um der Erhöhung 2007 zu entgehen. Das vorgezogene Konsumieren könnte der Wirtschaft einen zeitweiligen Schub im nächsten Jahr versetzen, das würde aber den Einbruch 2007 nur umso schlimmer machen (wie auch in Japan vor zehn Jahren).

Auch sind alle Fälle, in denen Steuererhöhungen zur Erholung einer Wirtschaft geführt haben, sehr leicht zu erklären: die Erhöhungen waren jeweils begleitet von drastischen Zinssenkungen und einer Währungsabwertung.

Wenn die deutsche Steuererhöhung also von einer dramatischen Zinssenkung und einer weiteren Abwertung des Euro begleitet würden, wäre es sicher vorstellbar, dass Deutschland eine starke wirtschaftliche Belebung erfahren würde. Aber unglücklicherweise scheint die Europäische Zentralbank eine Erhöhung der Zinsen, nicht eine Senkung, zu planen. Die ECB könnte immer noch zur Vernunft kommen, oder ein anderes Wunder geschehen.
Wahrscheinlicher allerdings ist, dass Deutschland eine verlorene Dekade nach japanischem Vorbild bevorsteht.

Übertragen von Reinhard Kalinke

Quelle: TIMES ONLINE


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