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Titel: Wulff als Watschenmann auf dem Rummelplatz der Medien

Datum: 20. Dezember 2011 um 8:57 Uhr
Rubrik: Bundespräsident, Kampagnen / Tarnworte / Neusprech, Lobbyismus und politische Korruption
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Die Medienkampagne gegen Christian Wulff wäre glaubwürdiger, wenn auch nur ansatzweise ein vergleichbarer Rechercheaufwand bei für die Menschen viel existenzielleren Fragen betrieben würde. Auch bei vielen politischen Entscheidungen des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten hätte man kritisch fragen können, welche Rolle dabei seine Unternehmer-Freundschaften spielten. Der Medienwirbel um ein relativ kleinförmiges Fehlverhalten ist eher ein Ablenkungsmanöver vom Versagen der Medien vor den viel komplexeren Problemen der derzeitigen dramatischen politischen Herausforderungen. Die Medienkampagne um Wulff ist ein Beispiel für die Personalisierung von Politik. Sie fördert die passive Zuschauerrolle der Bürgerinnen und Bürger, die sich auf das Herumnörgeln an Politikern beschränkt. Statt Teilhabe an der politischen Willensbildung sollen Köpfe rollen. Interessant ist auch die Frage, warum gerade die Bild-Zeitung und der Spiegel das Feuer auf Wulff eröffneten. Von Wolfgang Lieb.

Wir von den NachDenkSeiten haben uns bei der Medienkampagne, die derzeit gegen Christian Wulff läuft, zurückgehalten. Nicht weil wir die Vorwürfe gegenüber dem derzeitigen Bundespräsidenten für harmlos oder gar für unberechtigt halten und weil wir nicht dessen nachträglichen Umgang mit seinem Fehlverhalten als beschämend empfinden, sondern weil wir die wirtschaftliche und soziale Situation, in der wir stecken, und die politischen Entscheidungen, wie mit den aktuellen Krisen umgegangen wird, für jeden einzelnen von uns für wesentlich existenzieller halten, als die Fehltritte von Christian Wulff.

Die Medienkritik ist berechtigt

Die Tatsache, dass die Bild-Zeitung und den Spiegel plötzlich ein Jagdfieber auf Wulff gepackt hat, ist nicht zu kritisieren. Es ist nur demokratisch und entspricht ihrer Wächterrolle gegenüber Politikern, wenn die Medien kritisch und weniger ehrerbieterisch mit Politikern umgehen und auch persönliche Verfehlungen dem kontrollierenden Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt werden. Denn politische Korruption ist ein deutliches Anzeichen für eine faulende Demokratie und ein Alarmsignal dafür, wie zynisch und amoralisch die politische Klasse geworden ist. Ein Beispiel dafür, wie die Eliten selbst Wein trinken und Wasser für die breite Masse predigen. Deshalb wird auch die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten – wenn er sie denn noch halten darf – diesmal besonders spannend.

Ach wären doch die Medien bei viel wichtigeren Problemen genauso kritisch

Bevor man jetzt aber gerade der Bild-Zeitung einen Ehrenkranz für investigativen Journalismus flicht, sollte man sich fragen, wo findet sich eigentlich eine solche Wolllust zur Recherche auf viel dramatischeren und wichtigeren politischen Feldern?

Wird etwa von den Journalisten genauso penetrant recherchiert, wenn es um die Vergabe von Milliardenkrediten an angeblich notleidende Banken durch geheim tagende kleine Kontrollgremien geht? Wurde auch nur annähernd so genau in die Bücher geschaut, als es um die Aufklärung ging, welches „systemische Risiko“ eigentlich hinter der Rettung dieser oder jener Bank stand? Wird ein vergleichbarer Rechercheaufwand betrieben, wenn es um die tatsächliche Beteiligung der Banken bei einem Schuldenschnitt für Griechenland geht? Die kritische Medienöffentlichkeit verhielt sich bei der Ausgrabung von Details aus dem Privatleben von Wulff im Vergleich zu vielen Fällen der jüngsten Zeit, wo der Steuerzahler mit Milliardensummen haftet, in etwa so, wie das bei Haushaltsverhandlungen im Parlament symptomatisch ist; zugespitzt gesagt: Da wird endlos darüber gestritten, ob die Anschaffung eines Dienstfahrrads zu einem Preis von 700 Euro gerechtfertigt ist, wo es doch im Supermarkt schon Räder für 400 Euro gibt, ein komplexes Vorhaben mit Milliardenkosten jedoch, wird hingegen anstandslos durchgewinkt, weil die komplexen Einzelposten niemand mehr durchschaut.

Was will ich mit diesem Vergleich sagen?

Es ist relativ einfach herauszufinden, dass Wulff schon in seiner Jugend eine teure Uhr gekauft hat oder in welchen Villen seiner Unternehmerfreunde er seine Urlaube verbracht hat, um dessen kleinbürgerlichen Hang zu Glamour zu belegen. (So etwa der Spiegel.) Viel interessanter für das allgemeine Interesse wäre es jedoch, herauszufinden, was seine Freundschaft mit dem in schwere Wasser geratenen Finanzhai Maschmeyer mit dem politischen Einsatz Wulffs für die Privatisierung der gesetzlichen Rente zu tun hatte. Oder ob Wulff z.B. von den Drückermethoden seines Freundes wusste, bevor er auf dessen Protz-Villa auf Mallorca urlaubte. Spannend wäre auch zu erfahren, was das Upgrade bei einem Urlaubsflug persönlich durch den damaligen Chef von Air-Berlin, Joachim Hunold, mit der Steuerprivilegierung von Flugbenzin oder damit zu tun hat, dass dem autokratischen Manager politisch nachgesehen wurde, dass in seinem Unternehmen die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer mit Füßen getreten werden konnten. Wichtiger wäre auch, einmal nachzuforschen, welche Rolle die „Skatbrüderschaft“ Wulffs mit dem bulligen RWE-Vorstandsvorsitzenden Jürgen Großmann für die damalige Durchsetzung der Verlängerung der Laufzeit für AKWs gespielt hat. Bei allen politischen Entscheidungen die Wulff als Ministerpräsident getroffen hat oder auch bei der Frage, welche Netzwerke ihn in das Amt des Bundespräsidenten gehievt haben, hätten Journalisten fragen können, welchen Einfluss dabei seine Unternehmerfreunde genommen haben – nicht nur durch offensichtliche Vergünstigungen, sondern schon allein dadurch, dass man privaten Umgang pflegte. Wären solche „Freundschaften“ überhaupt entstanden, wenn sich die Geschäftsleute damit nicht wenigstens einen direkten Zugang zur Politik hätten verschaffen können – im Falle Wulffs bis in den Vorstand und ins Präsidium der CDU und über dessen frühere Zugehörigkeit zum sog. Andenpakt (einer einflussreichen konservativen Männerriege innerhalb der Christdemokraten) bis hin zur Kanzlerin?
Gerade in diesen Kreisen gilt doch das Prinzip, eine Hand wäscht die andere.

Kurz: Die Medienkampagne, die jetzt veranstaltet wird, wäre glaubwürdiger, wenn die gleiche kritische Haltung, mit der jetzt das persönliche Verhalten Wulffs durchleuchtet wird, auch gegenüber den politischen Inhalten eingenommen worden wäre oder würde, für die der jetzige Bundespräsident in seinen früheren politischen Ämtern eingetreten ist und bis heute eintritt. Welches gesellschaftliche Interessenumfeld prägt und stützt ihn, das wären Recherchefelder gewesen, denen sich die Medien hätten längst widmen können – und das hätte manche politische Entscheidung Wulffs leicht erklären können.

Dass ein relativ kleinförmiges Fehlverhalten oder charakterliche Schwächen einen derartigen Medienwirbel auslösen, muss eher als Ablenkungsmanöver vor dem Versagen der Medien gegenüber politischen Hintergründen, vor allem aber bei der kritischen Berichterstattung vor der Finanzkrise und bei deren politischer Bewältigung gewertet werden.

Die Medienkampagne um Wulff ist ein Beispiel für die Personalisierung von Politik

Und noch ein weiteres spiegelt sich in dieser Kampagne wider, nämlich die Personalisierung von Politik überhaupt. Ja, noch mehr, es wird das weit verbreitete Urteil bestärkt, dass Politik im Wesentlichen eine Angelegenheit der Eliten oder einzelner herausgehobener Würdenträger sei. Man nährt mit solchen persönlichen Verfolgungsjagden das Gefühl der Massen, dass Politik vor allem das Geschäft elitärer Entscheidungsträger sei. Man stabilisiert die weit verbreitete Stimmung „ihr da oben“ und „wir da unten“. Man fördert damit geradezu die passive Zuschauerrolle der Bürgerinnen und Bürger in einer (Post-)Demokratie, die sich mehr und mehr auf das Tadeln und Herumnörgelns an den politisch handelnden Personen beschränkt und sich damit zufrieden gibt, wenn bei privatem Fehlverhalten einzelne Köpfe auf den Richtblock gelegt werden. Diese Personalisierung der Politik ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Aufklärung über politische Sachverhalte, sondern stellt im Gegenteil einen Verfall der politischen Debatte und den Verlust einer Diskussionskultur über politische Inhalte dar. Kein Wunder also, dass sich gerade die Bild-Zeitung in solchen personellen Hetzjagden hervortun kann und der „Schlüsselloch-Journalismus“ des Spiegels sich austoben kann.

Statt dass die Medien die Bürgerinnen und Bürger instand setzen, komplexe politische Vorgänge zu durchschauen und ihre Interessen in die öffentliche Meinungsbildung einzubringen und ihnen damit das Gefühl vermitteln, dass sie eine aktive Rolle im politischen Prozess einnehmen, stürzen sich die Medien auf die Selbstdarstellung von Politikern und machen Jagd auf deren persönliche Marotten und Verfehlungen.

Statt Teilhabe an der politischen Willensbildung sollen Köpfe rollen

Ein persönlicher Fehltritt gilt dann als behoben, wenn ein ertappter Amtsträger zurücktreten muss. Ein Rücktritt wird aber nicht etwa gefordert, wenn Interessen breiter gesellschaftlicher Kreise gröblich verletzt werden, wenn eine ungerechte oder gemeinschädliche Politik vertreten wird. Jedenfalls gibt es da keinen derartigen Medienwirbel. Dabei sind eine lebendige Demokratie und das Gefühl einer demokratischen Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger doch gerade von der Artikulation von Interessen und Forderungen aus den unterschiedlichsten Gruppen und von Kontroversen um einen vernünftigen Interessenausgleich abhängig. Der veröffentlichte Meinungsstreit um tiefgreifende, jeden betreffende politische Entscheidungen gleicht jedoch einem lauen Lüftchen, gemessen an dem Orkan der Entrüstung über private Fehltritte.

Rücktritte gibt es fast ausschließlich wegen persönlichen Verfehlungen aber nicht wegen falscher Politik

Guttenberg musste nicht deswegen als Verteidigungsminister zurücktreten, weil die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Afghanistan-Krieg ist oder weil er sich zu Lasten seines Staatssekretärs und des Generalinspekteurs der Bundeswehr unrühmlich aus der sog. Kundus-Affäre herauszuwinden versuchte. Die Medien ließen ihren Liebling (zunächst einmal) fallen, weil er bei seiner Doktorarbeit plagiiert hat. Man kann die Rücktritte der letzten Jahre durchgehen: Otto Graf Lambsdorff musste als Bundeswirtschaftsminister wegen der Flick-Spenden-Affäre gehen; Max Streibl musste wegen einer Amigo-Geschichte als bayerischer Ministerpräsident zurücktreten; Bundesverkehrsminister Günther Krause (wer kennt ihn noch?) wurde zum Verhängnis, dass seine Frau ein Putzhilfe teilweise aus Fördermittel des Arbeitsamtes bezahlte; der bayerische Justizminister Alfred Sauter fiel, weil er zum Sündenbock einer Wohnungsbauaffäre erklärt wurde; der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel war nicht mehr zu halten, weil er ein falsches Ehrenwort gab. Der vormalige Bundespräsident Johannes Rau, wurde wegen einer angeblichen Flugaffäre gejagt – übrigens auch vom damaligen Ministerpräsidenten Wulff. Die allermeisten Rücktritte von Politikern in der Nachkriegszeit, wenn sie nicht aus eigener Entscheidung ihren Platz räumten, wurden wegen persönlichen Verfehlungen erzwungen.

Rücktritte sind Bauernopfer für das „Weiter-So“

Die Ministerpräsidenten oder Minister mussten gehen, sie waren sozusagen Bauernopfer für das „Weiter-So“, denn geändert hat sich in der Politik oder am politischen Kurs in aller Regel nichts. Auch die politische Moral innerhalb der politischen Klasse hat sich damit nicht geläutert. Die Methoden der Selbstbedienung wurden nur andere – man verschaffte sich Geld mit Beraterverträgen oder Aufsichtsratsposten, ließ sich Parteitage sponsern (Rüttgers) oder man erhielt Dankeschön-Spenden erst nach dem Ausscheiden (Kohl) oder man ging einfach durch die Drehtür und wechselte zu Firmen, der Projekte man als Politiker gefördert hatte (Schröder).
Für wirkliche Transparenz über die Verflechtungen von Politik und Wirtschaft oder Finanzindustrie haben die Medien nicht gesorgt. Der mit den Händen zu greifende Filz wurde nur selten skandalisiert.

Doch die früheren Verfehlungen von Christian Wulff werden zur Staatsaffäre hochgespielt und nicht etwa die Tatsache, dass er das Amt des Bundespräsidenten, das fast ausschließlich von der Autorität und Weisheit seines Amtsinhaber lebt, zur Bedeutungslosigkeit hat herabsinken lassen. Er muss geradezu als Watschenmann herhalten, an dem sich kraftmeiernde Medien abreagieren und sich als kritische Instanz aufspielen können.

Welche Rolle spielen Springer und Spiegel?

Interessant wäre übrigens auch die Frage, warum nun gerade die Bild-Zeitung und der Springer-Verlag, ansonsten die publizistische Kriegsflotte von Angela Merkel und von CDU/CSU, das Feuer auf Wulff eröffneten und unvermindert fortsetzen, so dass natürlich der Spiegel und die meisten anderen Medien auch nachladen mussten.

Ist es die Rache von „Bild“ („Yes we Gauck“) und „Welt“ dafür, dass sie ihren damaligen Favoriten Joachim Gauck nicht als Bundespräsidenten durchsetzen konnten? Schließlich ist es ja kein Geheimnis mehr, dass der damalige Chefredakteur der „Welt“, Thomas Schmid, die rot-grünen Parteigranden auf die Idee mit dem Kandidaten Gauck gebracht hat. Will also der Springer-Verlag, nachdem er erkannt hat, dass Wulff für die konservative Sache nicht „liefert“, nun nachträglich noch einmal Gauck aufs Pferd hieven?

Will die Springer-Presse der Kanzlerin ein Exempel dafür statuieren, was auch ihr selbst medial passieren könnte, wenn sie die nationalistische, ja gegenüber den Griechen sogar chauvinistische Linie von „Bild“ und „Welt“ in der Europapolitik in Richtung auf eine politische Transferunion überschreiten würde?

Hat sich das Damenkränzchen Angela Merkel, Liz Mohn und Friede Springer etwa zerstritten? Reicht ein Anruf der Kanzlerin bei der Springer-Matriarchin nicht mehr, um mediales Unheil von ihrem Schützling Wulff abzuwehren?

Oder ist es eher umgekehrt, dass Angela Merkel ihre Freundin Friede Springer ermuntert hat, die Treibjagd auf Wulff zu eröffnen und ihre journalistischen Jagdhunde von der Leine zu lassen?

Schließlich hat die Kanzlerin ja erlebt, wie der lange Abschied von zu Guttenberg von seinem Amt, die Medien in Atem gehalten und von den viel wichtigeren politischen Themen abgelenkt hat. Und geschadet hat ihr der Rücktritt ihres Verteidigungsministers ja auch nicht. Ist eine hochwabernde öffentliche Debatte um einen Rücktritt des Bundespräsidenten nicht ein viel schöneres Thema, als eine Debatte über den europäischen „Selbstmord-Pakt“ den Merkel in Brüssel durchgesetzt hat. Da ist doch eine Kampagne gegen den Bundespräsidenten und womöglich eine neue Wahlkampagne zu einer Neuwahl in dieses Amt viel angenehmer, weil sie doch die öffentliche Aufmerksamkeit von den viel entscheidenderen Themen ablenkt.
Dass auch noch Liz Mohn erlaubt, dass der Spiegel scharf macht („Falscher Präsident“ als Titelgeschichte), spricht für diese These.

Im Übrigen ist völlig klar: Ein Politiker fällt nur, wenn er von den eigenen Leuten fallen gelassen wird.

Natürlich ist das Spekulation, aber es muss ja Gründe geben, warum Wulff zum Abschuss frei gegeben wurde. Seine Verfehlungen können es nicht sein, denn da gab es schon viel größere Skandale, die Politikern nicht das Amt gekostet haben. Man denke nur an Roland Kochs „jüdische Vermächtnisse“ oder an Westerwelle mit seiner „Mövenpick“-Hotelsteuer.


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