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Titel: Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt sich’s völlig ungeniert

Datum: 23. Dezember 2011 um 15:01 Uhr
Rubrik: Bundesregierung, Schulden - Sparen, Strategien der Meinungsmache
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Das könnte das gemeinsame Motto von Bundeskanzlerin und Bundespräsident bei ihren jeweiligen Ansprachen zu Neujahr und zu Weihnachten sein. Jedenfalls ist das ihre Strategie und die Strategie der Parteien und der Koalition, die hinter ihnen stehen. Wir Bürgerinnen und Bürger haben keine Sanktionsmöglichkeit mehr. Auch schlimme Fehler mit verheerenden Folgen werden ausgesessen, Kritik prallt ab. Keine schöne Einleitung für einen kleinen Jahresrückblick. Keine guten Aussichten. Albrecht Müller.

Als ich gestern diesen Text zu schreiben begann, warf ich einen Blick in die Financial Times Deutschland. Auf Seite 24 fand ich einen Kommentar vom Leiter des Büros der FTD in Brüssel, Peter Ehrlich: „Die Teflonkanzlerin“. (Der Titel ist nicht neu. Die Süddeutsche Zeitung beispielsweise hat ihn schon in einem Wahlkampfbericht vom August 2009 gebraucht.) Peter Ehrlich nahm die Einleitung für diesen meinen Beitrag vorweg: „Die CDU/CSU-FDP Regierung ist eine der schlechtesten, die die Bundesrepublik je hatte.“ Und ergänzend kann man anmerken: wir haben vermutlich einen unglaubwürdigen und damit abgewirtschafteten Bundespräsidenten. Und dennoch werden uns vermutlich beide erhalten bleiben.

  1. Angela Merkels Zerstörungswerk

    Dazu einige Stichworte:

    1. Angela Merkel und ihre Regierung sind wesentlich verantwortlich für den Sparkurs und damit für die prozyklische Politik innerhalb der Europäischen Union. Dass dies die Gefahr einer großen Rezession mitbringt, konnte man aus den Lehrbüchern wissen. Und man konnte es beim ersten Experiment, in Griechenland, auch praktisch lernen.
    2. Unter Angela Merkels Anleitung wird die neoliberale Linie des Sparens bei Sozialleistungen und des „Reformierens“ in anderen Ländern nach deutschem Vorbild fortgesetzt. Die neoliberale Bewegung vermeidet so nicht nur den Gang zum Konkursrichter, sie kann sogar weitermachen und triumphieren.
    3. Angela Merkel hat mit ihren Trippelschritten bei der Hilfe für Länder, gegen die auf den Finanzmärkten spekuliert wurde, die Spekulation angeheizt und damit die Rettung um vieles teurer gemacht, als sie bei rechtzeitiger Korrektur zu Gunsten direkter Finanzierung durch die EZB geworden wäre. Typisch für den von ihr gefahren Kurs ist so zum einen die Weigerung der Finanzierung durch die EZB und zum andern gleichzeitig die Akzeptanz der Rettung der Banken durch die EZB mit fast einer halben Billion Euro. Dank Angela Merkel können die Banken und so genannten Anleger nach wie vor gefahrlos spekulieren.
    4. Angela Merkel hat nichts getan, um die internationalen Finanzmärkte besser zu regulieren. Immer noch nicht.
    5. Sie hat nichts getan, um die Konversion des überdimensionierten Finanzsektors einzuleiten. Das ist für sie kein Thema, obwohl es ein dringliches sein müsste.
    6. Die deutsche Bundesregierung hat unter Führung von Angela Merkel die Kosten anderer Völker zur Finanzierung ihrer Schulden hochgetrieben. Das geschah durch Worte wie etwa die Forderung des Vizekanzlers Rössler nach einer „geordneten Insolvenz“ Griechenlands als auch durch Taten und Verweigerungen. (Siehe oben Trippelschritte.)
    7. Merkel hat damit den guten Ruf unseres Landes beschädigt. Wir haben Freunde verloren. Wir alle werden merken, dass das Bild vom hässlichen Deutschen wieder aus den verstaubten Kammern hervorgeholt wird.
    8. Sie hat mit ihrer gesamten Politik – anders als öffentlich behauptet – die Schulden unseres eigenen Staates erhöht und belastet damit uns und die nächsten Generationen.
    9. Die Bundeskanzlerin hat auf vielerlei Weise die Spaltung unserer Gesellschaft verschärft. Siehe dazu den Beitrag von Michael Hartmann.
  2. Warum steht sie trotzdem so gut da
    1. Peter Ehrlich analysiert die Taktik von Angela Merkel: Sie setze auf die Unübersichtlichkeit der Euro-Krise. Sie erwecke den Eindruck, sie würde deutsche Interessen verteidigen, und überdecke damit ihre Fehler. Da ist etwas dran. Allerdings erwähnt Ehrlich zu Recht, dass ihr dies „mithilfe vieler Medien“ gelinge. Damit sind wir beim nächsten Punkt:
    2. Angela Merkels Verankerung in den Hauptmedien. Ihre Fehlgriffe werden ihr persönlich von den sie unterstützenden Medien nicht angekreidet, jedenfalls nicht massiv und auf ihre Person und Funktion bezogen. Nicht von Bild, nicht vom ZDF, nicht von der ARD, nicht von den kommerziellen Sendern nicht von den sonstigen großen Zeitungen und Zeitschriften. Der Kommentator der Financial Times verweist mit Recht darauf, dass Angela Merkel die Bundespräsidenten Horst Köhler und Christian Wulff, wie auch den Brüsseler Kommissionspräsidenten Barroso auf ihre Posten gehievt hat. Man könnte die Liste der Fehlgriffe fortführen. In den Medien werden diese Versager ihr nicht zugerechnet.
    3. Angela Merkel hat auf tief sitzende Vorurteile zurückgegriffen: zum Beispiel auf die undifferenzierte Bewunderung von so genannter Sparpolitik, ohne Rücksicht darauf, ob sie in der jetzigen konjunkturellen Situation auch wirklich wirkt; sie setzt darauf, dass es populär ist, wenn man als Politiker verlangt, wir sollten den Gürtel enger schnallen; sie hat rücksichtslos und zynisch auf das Gefühl der Überheblichkeit der Deutschen gegenüber anderen Völkern gesetzt. Sie hat den Kampagnen gegen die Griechen und gegen die anderen Völker Südeuropas nicht widersprochen, im Gegenteil, ihr Kabinett hat mitgewirkt.
    4. Vermutlich hat Angela Merkel starke PR-Unterstützung von der Finanzindustrie
    5. Wie in einem kollektiven Wahn plappern Multiplikatoren in Medien, Wirtschaft und Wissenschaft die Botschaften von Angela Merkels PR- und Strategie-Beratern nach, auch dann, wenn die Wirklichkeit anders aussieht:
      • In der öffentlichen Debatte und vor allem im Wortschatz der Medien gibt es für die jetzige Krise vorherrschend den Begriff „Staatsschuldenkrise“ oder „Schuldenkrise“. Das ist offensichtlich von den Medienschaffenden internalisiert und passt voll in die Linie von Angela Merkel, wobei es sogar gelungen ist, vergessen zu machen, dass der Staatsschuldenstand unseres Landes keinesfalls besser ist als im Durchschnitt und sogar auch nicht besser als zum Beispiel jenes von Spanien.
      • Es ist Angela Merkel und ihrer Regierung gelungen, den Eindruck zu erwecken, uns allen gehe es gut. Auch dieser Eindruck wird von den Medien fast durchgängig übernommen und weitervermittelt. Boom, Aufschwung, großes Wachstum – die vorgegebenen Formeln werden unkritisch übernommen.
      • Auch die Forderung nach Sparen und Reformen wird auftragsgemäß oder intuitiv weiter geplaudert.

      Prüfen Sie gelegentlich diese Beobachtungen anhand von Talkshows oder Nachrichten oder Kommentaren. In der Regel tauchen die Botschaften der Bundesregierung nicht hinterfragt auf.

  3. Hoffnungszeichen?
    1. Wir konnten in den letzten Wochen eine kleine Auflockerung bei einigen Medien beobachten. Auch sogar im konservativen Blättern oder in Blättern und Medien, die der Wirtschaft nahe stehen, findet man inzwischen gelegentlich kritische Kommentare und Berichte.
    2. Die Sanktion/Abstrafung für die massiven Fehler einer der „schlechtesten Regierungen“ würde verlangen, dass es politische Akteure gibt, die darauf dringen. Dazu müsste die bisher noch größte Partei der Opposition, die SPD, zur Verfügung stehen. Das kann ich leider noch nicht erkennen. Bei der SPD ist der notwendige Durchbruch weder personell noch sachlich erreicht.
      Steinbrück, Steinmeier und vermutlich auch Gabriel sind keine Alternativen. Bei Gabriel konnte man dies nach einigen Äußerungen erwarten. Dann wird aber in seinem kürzlich erschienenen Beitrag in der FAZ sichtbar, dass auch er sich nicht von den populären Forderungen, zum Beispiel von Sparappellen lösen kann.
      Auch sachlich und programmatisch ist die Alternative nicht deutlich genug zu erkennen. Die richtige Alternative ist nicht zu erkennen.

      Mit Blick auf die nächste Bundestagswahl ist es nicht zu gewagt, festzustellen: wenn sich die SPD nicht von der Agenda 2010 zu lösen vermag, wenn sie sich nicht zum Hauptankläger oder zumindest zu einem Nebenkläger im Konkursverfahren gegen die Neoliberalen aufschwingt, dann wird sie keine schlagkräftige Alternative zu Angela Merkel werden.
      Noch hat sie ein bisschen Zeit. Wenn sie es nicht schafft, dann liegt die Hoffnung allein bei der Linken. Dann wird es aber immer nur auf ein mühsames Verschieben der Programmatik der etablierten Parteien und der Regierung hinauslaufen. Das ist schade. So ist aber die Realität.

  4. Noch ein Wort zum Bundespräsidenten: er muss gehen.

    Ich will es kurz begründen:

    1. Ein Bundespräsident, der in dieser Situation vor allem sein Verhalten bei der Behandlung der Affäre bedauert und nicht die Affäre selbst, hat gar nicht kapiert, was vorgeht oder er setzt eben auf die Parole: Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt sich’s völlig ungeniert. – Einen Bundespräsidenten, der diese Lebensweise pflegt, brauchen wir aber nicht.
    2. Wir bräuchten einen Bundespräsidenten, der etwas gegen die sich ausbreitende politische Korruption zu sagen vermag; wir bräuchten jemanden der zum Beispiel die Hintergründe des Scheiterns der Riester-Rente ausleuchtet. Ein Bundespräsident, der mit einem der Hauptprofiteure der Privatvorsorge, mit Carsten Maschmeyer, eng befreundet ist, kann das nicht.
    3. Wir bräuchten einen Bundespräsidenten, der die Stimme erhebt, wenn immer wieder die Banken mit Milliarden gerettet werden, aber ansonsten die Spekulation gegen einzelne Völker weiter angeheizt wird. Das kann Wulff nicht. Er ist verstrickt. Im konkreten Fall mit Angela Merkel.
    4. Wir bräuchten einen Bundespräsidenten, der sich gegen die unerträgliche Spaltung unserer Gesellschaft wendet, der seine Stimme erhebt, wenn die reichsten 10 % immer reicher und die ärmsten 10 % immer ärmer werden. Ein Bundespräsident, der vor allem mit den Superreichen speist und in ihren Häusern Ferien macht und sich von ihnen die Werbung für seine Bücher bezahlen lässt, ist dafür ungeeignet.

    Wulff sollte gehen.


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