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Titel: Der verkorkste Jahresbeginn – Wulff-Krisen-Gewinnler sind die Falschen (Wochenrückblick)

Datum: 6. Januar 2012 um 15:14 Uhr
Rubrik: Bundespräsident, Demoskopie/Umfragen, Strategien der Meinungsmache
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Wenn man versucht, das Geschehen um die Jahreswende einzuordnen, und wenn man der Überzeugung ist, wir bräuchten dringend eine ideologische Wende weg von der neoliberalen Ideologie und hin zu einer rationalen und zugleich solidarischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, dann kann man sich über die Wirkung der Krise um Wulff (fast) nur die Haare raufen. Das wichtigste: Die Erfinderin von Wulff als Bundespräsident und die Hauptverursacherin der Krise, in der Europa und auch unser Land stecken, ist die Gewinnerin: Angela Merkel. Albrecht Müller.

Das ist eine der Folgen der Dauerdebatte um Wulff. Es gibt noch einige mehr. Zunächst:

  1. Zur Stabilisierung des Ansehens von Bundeskanzlerin Merkel

    Wenn man die neueste Umfrage, den Deutschland-Trend von Infratest-Dimap ernst nimmt, dann leidet weder die CDU/CSU noch die Bundeskanzlerin unter den Turbulenzen um den aus den Reihen der Union stammenden Christian Wulff. Das ist auch nicht besonders erstaunlich, weil Frau Merkel und die Union nur wenig, im Grunde nur durch die Oppositionsparteien, in Zusammenhang mit den Skandalen um Wulff gebracht werden. Parallel dazu laufen die Meldungen und Kommentare zum angeblichen Erfolg der jetzigen Politik unberührt vom Skandal um Wulff weiter. Siehe dazu die Meldungen zur angeblich niedrigsten Arbeitslosigkeit, zur Konsumfreude, zu den Einzelhandelsumsätzen usw. und unsere Kommentare dazu, zum Beispiel hier.
    Vermutlich funktioniert in diesem Zusammenhang ein Effekt, den wir schon des Öfteren beobachten konnten und in den NachDenkSeiten auch schon beschrieben haben: je mehr sich die Waage zulasten von Wulff (CDU) neigt, umso mehr kann sich die Waage zu Gunsten von Angela Merkel heben. Man konnte das bei Helmut Schmidt und der SPD beobachten: je düsterer in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Bild der SPD gezeichnet wurde, umso lichter erschien der damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende und Bundeskanzler.
    Heute wenden sich vermutlich viele Unionsanhänger von Wulff ab. Aber ein größerer Teil von ihnen dürfte sich umso fester bei Angela Merkel verankern. Es wäre eine Aufgabe der Oppositionsparteien und auch des Restes kritischer Medien, diesen Vorgang zu hinterfragen.

  2. Der Glaubwürdigkeitszuwachs für Medien, die Merkel in allen Lebenslagen stützen und vor allem ihrer gesellschaftspolitischen, neoliberal geprägten Linie folgen.

    Von gravierender und langfristig wirksamer Bedeutung wird es sein, dass gerade jene Medien, die in ihrer Gesamtheit Matadore der neoliberal geprägten Reformen/Agenda 2010 und auch der herrschenden Linie im Kampf gegen die Finanzkrise, von ihnen genannt: Staatsschuldenkrise, sind, an Glaubwürdigkeit gewonnen haben. An vorderer Front die Bild-Zeitung. Sie gilt jetzt in den Augen vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als ein kritisches Blatt, obwohl es über weite Strecken ein Kampagnenblatt ist. Auch Spiegel online, das Erste und das ZDF haben durch ihre vergleichsweise kritische Haltung gegenüber Wulff ihr Renommee gestärkt. Dahinter verschwindet ihre mehrheitlich unkritische Haltung zu Angela Merkels Politik der Krisenbewältigung und zur neoliberalen Ideologie. Somit können sie dann gestärkt weitermachen, wenn der Rauch des Kampfes um Wulff verweht ist.
    Wenn man dieses Ergebnis betrachtet, dann könnte man fast vermuten, der Springer-Konzern oder zumindest einige in seinen Diensten tätige Journalisten und/oder PR Agenturen hätten den Vorgang Wulff geschaffen.

  3. Die Überlagerung des Scheiterns der neoliberalen Konzepte
    Es wäre zum Beispiel wichtig wahrzunehmen,

    • dass sich die Riester-Rente als Flop erweist. Dass dies so kommen wird, haben wir 2004, also vor gut neun Jahren prognostiziert und belegt – Siehe z.B. die einschlägigen Kapitel in der „Reformlüge
    • Dass die Privatisierung in vielen Fällen unnütz und teuer ist.
    • Dass die Umsetzung der neoliberalen Ideologie der Lohnsenkung zur absolut ungerechten Verteilung der Einkommen und Vermögen und zur Spaltung unserer Gesellschaft geführt hat.
    • Dass die Öffnung Deutschlands für die De-regulierung auf den Finanzmärkten nichts gebracht sondern massiv geschadet hat.

    Die Verursacher tun heute so, als seien sie auf dem richtigen Weg und als sei es angebracht, die Dosis der Reformen zu erhöhen. Die lang anhaltende Diskussion um Wulff die Überlagerung des Scheiterns zumindest erleichtert.

  4. Die Überlagerung interessanter anderer Vorgänge und Medienereignisse
    1. Der skandalöse Vorgang, dass die EZB die Banken mit rund einer halben Billion Euro rettet und den Völkern die direkte zwischenzeitliche Finanzierung der Staatsverschuldung verweigert, ist zumindest in der deutschen Öffentlichkeit hinter Wulff verschwunden.
    2. Stille Einführung der Zulassung von Drohnen, versteckt im Luftsicherheitsgesetz.
    3. Eine NDS-Leserin fragt sich und uns: „Wo finden wir Informationen zur Stationierung von US-Soldaten in Israel und zur Stationierung israelischer Soldaten auf US-Stützpunkten in Deutschland? (siehe hier) Wer erläutert die Tragweite von Obamas Anti-Terror-Gesetz, das Konsequenzen nicht nur für US-Bürger sondern für uns alle hat? (relativ deutlich wird der folgende Artikel von Yassin Musharbash im Spiegel) und wo bleibt die Aufforderung, gegen diese Zerstörung des Rechtsstaates zu protestieren? Wäre hier nicht eigentlich Anlass genug, den amerikanischen Botschafter einzubestellen?“
    4. Das erschien in der Pforzheimer Zeitung: „Derivate-Debakel: In Italien Geschäfte mit J.P. Morgan üblich. In Deutschland ist Pforzheim nach wie vor einzigartig. Zumindest, was das kommunale Derivate-Debakel mit unterm Strich 57 Millionen Euro Verlust angeht. In Italien aber haben etliche Kommunen Geschäfte mit J.P. Morgan getätigt“.
    5. Ein Sterninterview von Arno Luik mit dem Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann
      Wenn Sie Zugang zum Stern haben, es lohnt sich, dieses Interview im Stern 1/2012 vom Jahreswechsel anzuschauen. Jens Weidmann ist einer der wichtigsten Personen in der wirtschafts- und finanzpolitischen Führung unseres Landes. Er ist einer der wichtigsten Berater der Bundeskanzlerin auf diesem Gebiet. In diesem Interview wird offenbar, dass bei uns an der Spitze ideologisch verankerte und äußerst primitiv denkende Menschen stehen.
      Ein paar Beispiele:

      • Für Weidmann ist das Hauptproblem die „Staatsschuldenkrise“. Wörtlich: „Trotzdem müssen wir diskutieren, was die Gründe für die Krise sind. Warum wir dort stehen, wo wir jetzt sind. Wir sind da, weil Staaten zu hoch verschuldet sind, weil viele Bürger in Europa das Vertrauen in die Staatsfinanzen verloren haben.“ – Der Mann hat die letzten Jahre verschlafen, obwohl er die Rettungsaktionen der Banken selbst mitgestaltet hat.
      • „Die Märkte sind Ausdruck bürgerlicher Freiheit.“
      • Gürtel enger schnallen, die Griechen leben über ihre Verhältnisse, wir dürfen nicht über unsere Verhältnisse leben.
      • „Auf keinen Fall ist es Aufgabe der Notenbank, verschuldete Staaten zu finanzieren“. Darauf Luik: „Vielleicht wäre das aber eine gute Rettungsidee?“. Darauf Weidmann: „Nein. Die Notenbanken haben das gesetzliche Mandat, für die Stabilität des Geldes zu sorgen.“ Dieser Spitzenbeamte hat keinen Sinn für die Notwendigkeit der Beschäftigung von Menschen. Offensichtlich ohne jede Empathie.
      • Das Schicksal der gepeinigten Völker wie im Falle Griechenlands interessiert nicht.
      • Keinerlei Verständnis für die Ursache unserer Probleme, die Auseinanderentwicklung der Wettbewerbsfähigkeiten. Stures Beharren auf Anpassung der Schwachen über sparen, sparen sparen und „Reformen“.

      Interessant auch noch: Jens Weidmann schrieb 2002 ein Papier, das als Grundstein für die Agenda 2010 diente. Er war damals beim Sachverständigenrat tätig und dann eben später Leiter der Abteilung Wirtschaft im Kanzleramt.

    Dieses Interview müsste Grundlage einer ausführlichen Debatte in Deutschland sein. Es zeigt nämlich, wo eine der Ursachen für die miserable Lage unseres Landes und Europas liegt. In der Unfähigkeit des Führungspersonals.

PS.: Das ist der passende Kommentar zur Rente mit 67


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