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Titel: Der Fetisch der zu hohen Lohnnebenkosten muss entzaubert werden. Die bisherigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme sind eher finanzielle Verschiebemanöver, als dass sie ein solides Fundament schafften.

Datum: 7. August 2006 um 12:26 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, „Lohnnebenkosten“, Gesundheitspolitik, Rente
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Die Senkung der Lohnnebenkosten ist in aller Munde, so als ob dies das Patentrezept zur Verbesserung der Beschäftigung und zur Senkung der Arbeitslosigkeit wäre. Auch die Große Koalition ist mit dem Ziel gestartet, die so genannten „Lohnnebenkosten“ zu reduzieren, um die Beschäftigung zu verbessern. Dabei weist diese simple Vorstellung vom Zusammenhang zwischen den Lohnnebenkosten und der Beschäftigung gleich mehrere Denkfehler auf. Lesen Sie dazu und zu den bloßen finanziellen Verschiebemanövern bei den bisherigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme einen Beitrag von Ursula Engelen-Kefer.

WARUM DIE GROSSE KOALITION MIT DEM FETISCH DER LOHNNEBEKOSTEN SCHLUSS MACHEN MUSS

DIE FINANZARCHITEKTUR DES SOZIALSTAATES AUF EIN SOLIDES FUNDAMENT STELLEN

VERHÄLTNIS VON SOZIALVERSICHERUNGSBEITRÄGEN UND STEUERN GERECHT GESTALTEN

VON URSULA ENGELEN KEFER

In aller Munde ist die Senkung der Lohnnebenkosten, als ob dies das Patentrezept zur Verbesserung der Beschäftigung und Senkung der Arbeitslosigkeit wäre. Auch die Große Koalition ist mit dem Ziel gestartet, die so genannten „Lohnnebenkosten“ zu reduzieren, um die Beschäftigung zu verbessern. Dabei weist diese simple Vorstellung vom Zusammenhang zwischen den Lohnnebenkosten und der Beschäftigung gleich mehrere Denkfehler auf:

  • Lohnnebenkosten werden von vielen mit Sozialversicherungsbeiträgen gleichgesetzt, also den Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zur gesetzlichen Renten-, Kranken-, Pflege- Arbeitslosen- und Unfallversicherung. Damit wird die gesetzliche Sozialversicherung als Schuldiger für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland gebrandmarkt. Auf diese Weise – so die Erwartung – kann der deutsche Sozialstaat leichter sturmreif geschossen werden. Das Feld wäre dann frei für die Markterweiterung der privaten Versicherungsindustrie mit lukrativen Anlagemöglichkeiten, vor allem für Finanzdienstleistungsunternehmen mit einer breiten Palette von Versicherungsprodukten.
  • Was bei dieser Argumentation meistens unter den Teppich gekehrt wird: Etwa die Hälfte der Lohnnebenkosten sind tarifliche und betriebliche Vereinbarungen zu den Arbeitsbedingungen. Sie sind mithin von den Arbeitgebern im Rahmen der verfassungsmäßig geschützten Tarifautonomie selbst mit ausgehandelt und unterschrieben.
  • Die Debatte über die Lohnnebenkosten erweckt den fälschlichen Eindruck, als ob nur die Unternehmen mit den Kosten der Sozialen Sicherung belastet würden. Dabei sind die Arbeitnehmer und Rentner über ihre Beiträge zur Sozialen Sicherung mindestens ebenso, wenn nicht sogar mit höheren Anteilen als die Arbeitgeberseite, belastet. Dafür sorgen ihre anteilig höheren Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Eine Ausnahme bildet die gesetzliche Unfallversicherung, deren Beiträge allein von den Arbeitgebern aufgebracht werden. Hierfür gibt es allerdings einen guten Grund, und zwar das finanzielle Interesse auch der Unternehmen an der Verringerung von Gesundheitsgefährdung am Arbeitsplatz und bei Arbeitsunfällen.
  • Da all diese als „Lohnnebenkosten“ plakatierten Sozialbeiträge vom Einkommen bis zur Beitragsbemessungsgrenze (über 3.500 Euro in West und Ost bei Kranken- und Pflegeversicherung sowie 5.250 Euro (West) und 4.400 Euro (Ost) bei Renten- und Arbeitslosenversicherung) das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer schmälern, steht die Finanzarchitektur des deutschen Sozialstaates auf einem schiefen Fundament. Denn mit der Finanzierung der Sozialen Sicherung durch Beiträge werden in Deutschland alleine untere und mittlere Einkommen von Arbeitern und Angestellten bis zu den obigen Beitragsbemessungsgrenzen herangezogen. Nicht an der solidarischen Finanzierung der Sozialen Sicherung beteiligt sind somit die höheren Einkommen aus abhängiger Beschäftigung sowie die zunehmenden Einkommen aus nicht abhängiger Beschäftigung, z.B. aus Kapitalerträgen. Belastungsfrei bleiben die Einkommen von Selbständigen, Politikern sowie Beamten.
  • Da diese Sozialbeiträge bis zur den oben spezifizierten Beitragsbemessungsgrenzen das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer schmälern, kann sich auch dies negativ auf den privaten Verbrauch und die Beschäftigungsmöglichkeiten auswirken.
  • Die starke ideologische Ausrichtung des inzwischen schon zum „Fetisch“ erhobenen Zusammenhangs zwischen Lohnnebenkosten und Beschäftigung wird besonders darin deutlich, dass lediglich auf die Kosten der Sozialen Sicherung abgestellt wird. Die Tatsache, dass die Soziale Sicherung umfangreiche Leistungen eines großen Teiles der Bevölkerung aller Altersgruppen zur solidarischen Abdeckung bei den großen Lebensrisiken gewährt, und damit zur sozialen und wirtschaftlichen Stabilität der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staatswesens beiträgt, wird wissentlich verschwiegen.
  • Ebenfalls wird so getan, als ob die Deutsche Wirtschaft bankrot gehe, wenn die Sozialversicherungsbeiträge um Zehntel-Prozentpunkte steigen. Dass hier erhebliche Unterschiede zu machen sind, ob es sich um kapitalintensive Betriebe handelt, deren gesamte Arbeitskosten oft weit unter 20 Prozent liegen, oder um personalintensive Betriebe mit Personalkostenanteilen von 60 Prozent und mehr, spielt in der stark verzerrten öffentlichen Debatte überhaupt keine Rolle. Ausgeblendet bei dem Blick auf eine ideologisch verengte Realität wird ebenso der Tatbestand, dass andere betriebliche Kosten – etwa die durch monopolistische Angebotsstrukturen überhöhten Energiekosten – in Deutschland oft eine wesentlich größere Rolle als Kostenfaktoren in den Unternehmen und beim Angebot neuer Arbeitsplätze spielen. Da muss die Frage erlaubt sein: Warum werden eigentlich immer nur die Sozialen Sicherungssysteme und nicht auch – um ein Beispiel zu nennen – die durch mangelnden Wettbewerb charakterisierten Anbieter am Energiemarkt hierzulande als Schuldige für steigende Kosten in den Unternehmen und damit für hohe Arbeitslosigkeit an den Pranger gestellt?
  • Schließlich zeigen nationale und internationale Erfahrungen: Beitragsfinanzierte Umlagesysteme der gesetzlichen Sozialversicherung bieten über die Höhen und Tiefen der wirtschaftlichen Entwicklung und bei immer größeren Preisschwankungen an den globalisierten Finanzmärkten einen zuverlässigeren Schutz als steuerfinanzierte oder kapitalgedeckte Systeme der Sozialen Sicherheit. Das haben die riesigen Verluste bei den Pensionsansprüchen von Arbeitnehmern in den angelsächsischen Volkswirtschaften nach dem Platzen der New Economy-Blase und den großen Bilanzskandalen deutlich gemacht. Was die Privatisierungsideologen und ihre akademischen Hilfstruppen vollständig verdrängen: Auch ihre Hinweise auf die „demographische Zeitbombe“ stößt ins Leere. Denn steigende finanziellen Belastungen und Risiken im Zuge der demographischen Veränderungen treffen kapitalgedeckte Sicherungssysteme ebenso wie die gesetzliche Sozialversicherung.

Dieses klare Plädoyer für die gesetzliche Sozialversicherung soll nicht heißen, dass es keinen Reformbedarf gibt. Im Gegenteil!

Die gesetzliche Sozialversicherung wäre schon längst nicht mehr da, wenn nicht zu allen Zeiten laufende Anpassungen an die veränderten wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Bedingungen erfolgt wären. Dazu gehört auch die Ergänzung durch tarifliche und betriebliche kapitalgedeckte Altersversorgung – auch die Einführung der sog. Riesterrente wurde damit begründet – sowie die Umfinanzierung gesamtgesellschaftlicher Ausgaben wie etwa der Familienleistungen in der Rentenversicherung durch Steuern.

Nun kann man sich streiten, ob solche Anpassungen in der richtigen Richtung und im richtigen Maß erfolgt sind.

Dabei waren hierzulande notwendige Reformen bei den „kleinen“ Regierungskoalitionen der letzten Jahrzehnte – sowohl im Streit um die Inhalte als auch um die Finanzierung – häufig am politisch andersfarbig zusammengesetzten Bundesrat gescheitert. Übrig geblieben sind finanzielle Verschiebemanöver zwischen einzelnen Sozialversicherungssystemen – aber auch zwischen Sozialversicherung und Bundeshaushalt.

Die bittere Konsequenz für viele Menschen in Deutschland liegt auf der Hand: Weiter steigende Sozialbeiträge bei teilweise drastischen Einschränkungen der Leistungen für Rentner, Kranke und Arbeitslose.

Eigentlich müsste die Große Koalition mit ihrer Zweidrittelmehrheit hier wichtige Weichen für die Zukunft unserer Sozialen Sicherungssysteme stellen – und dabei endlich für ein ausgewogenes Verhältnis von Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern sorgen. Die bisherigen Erfahrungen sind allerdings mehr als ernüchternd.

Die Sorge muss wachsen, dass die Privatisierungsideologen weiter an Boden gewinnen. Herausgekommen sind bisher nämlich zahlreiche neue Verschiebemanöver zu Lasten der Beitragszahler bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Gleichzeitig geht der Abbau sozialer Leistungen weiter. Die politischen Oberrangierer auf dem Berliner Verschiebebahnhof scheinen langsam – zum Schrecken der Bürger – selbst mehr und mehr die Übersicht zu verlieren.

Zu alten kommen neue Verschiebemanöver

Ab 2007 soll die Mehrwertsteuer gleich um drei Prozent erhöht werden- als ob wir gerade die mittleren Einkommensschichten, Familien Rentner und kleinere Betriebe nicht schon genug belastet hätten. Das Geheimnis der Großen Koalition ist es zunächst geblieben, wie damit mehr Beschäftigung geschaffen werden soll. Denn nur ein Prozent dieser dreiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung soll für die Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verwendet werden. Dies ist ein leider sozial wie wirtschaftlich höchst zweifelhafter Einstieg in die beabsichtigte Umfinanzierung aus Sozialversicherungsbeiträgen in Steuern.

Verschiebemanöver: Bundesagentur für Arbeit

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll nach den Plänen der Großen Koalition ihre Beiträge allerdings um zwei Prozent senken – ein Prozent mehr, als sie durch die Mehrwertsteuererhöhung erhält. Diesen Sparbetrag von immerhin 7 bis 8 Mrd. Euro muss sie selbst erwirtschaften. Unbestreitbar ist es ihr durch Reformen und eine umfassende Reorganisation im Bereich des ALG I gelungen, Ausgaben im beachtlichen Umfang zu reduzieren.
Wenn in diesem Jahr der Überschuss der Ausgaben über die Einnahmen bei 5 Mrd. Euro liegt und das ohne einen Bundeszuschuss, so ist allerdings dabei auch zu berücksichtigen, dass die Beiträge der Arbeitgeber zeitlich vorgezogen worden sind. Einmalig fließen deshalb 2006 zusätzlich rund 3 Mrd. Euro in die Kassen der Bundesagentur. Dieser Betrag wird schon 2007 wieder fehlten.

Und es ist darüber hinaus mehr als nur ein Schönheitsfehler, dass die Einsparungen der Ausgaben für ALG I teilweise zu Lasten der beruflichen Weiterbildung sowie der Eingliederung schwer Vermittelbarer Arbeitsloser gehen. Es ist auch nicht vermittelbar, dass die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Langzeitarbeitslose (ALG II) derzeit mit einer Haushaltssperre von 1, 1 Mrd. Euro auch noch blockiert werden. Es wäre das Mindeste, diese Haushaltssperre umgehend aufzuheben.

Schon werden unverhohlen aus den Reihen der Großen Koalition Stimmen laut, Teile dieser Überschüsse für das Stopfen von Haushaltslöchern oder eine weitere Senkung der Beiträge zu verwenden.

  • Im ersten Falle wäre das schlicht das Gegenteil der erklärten Regierungspolitik: Noch mehr Beitragsgelder würden zur Finanzierung von Bundesaufgaben oder einfach nur Abdeckung von Schulden des Bundes zweckentfremdet.
  • Im zweiten Fall würden zwar die nicht gebrauchten Beitragsmittel an die Beitragszahler zurückgegeben: Dies ist aber angesichts der nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit sowie des immer größer werdenden Defizits an Ausbildungsstellen nicht zu verantworten.

Der Politik wäre daher dringend zu empfehlen, derartige Verschiebemanöver zu unterlassen und das Geld bei der Bundesagentur zu belassen:
Vorrangig sollten daraus wirksame arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Eingliederung gerade der schwer vermittelbaren Arbeitslosen finanziert werden:
Dies gilt genauso für unvermittelte Ausbildungsplatzbewerber, wie ältere und/oder gesundheitlich eingeschränkte sowie behinderte Arbeitnehmer oder Frauen mit Familienverpflichtungen – alles Personengruppen, die bislang ungenügende Chancen bei der Arbeitsmarktförderung haben.

Außerdem wäre es angebracht, einmal außerhalb von Sandkastenspielen darüber nachzudenken, ob es der Bundesagentur nicht ermöglicht werden sollte, finanzielle Reserven zu bilden. Zum einen könnte damit eine mittelfristige Aufgaben- und Ausgabenplanung vorgenommen werden. Dies würde der Qualität und Wirksamkeit der Arbeitsmarktpolitik im Interesse aller Beteiligten zugute kommen. Zum anderen könnte eher die konjunkturell wichtige antizyklische Aufgabe der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsmarktpolitik erfüllt werden. Das übliche öffentliche Geschrei über mögliche Defizite und deren Ausgleich über einen Bundeszuschuss und damit die Existenzberechtigung der BA könnte damit – wenn schon nicht ganz vermieden – so doch in den Hintergrund gedrängt werde.

Die Verschiebemanöver in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik haben mit der „Operation Aussteuerungsbetrag“ einen bisherigen Höhepunkt erreicht. Völlig unverständlich ist diese bereits aus Zeiten von „Rot-Grün“ mitgeschleppte Verpflichtung der Bundesagentur, für jeden nach 12 Monaten nicht vermittelten Arbeitslosen einen „Aussteuerungsbetrag“ von 10. 000 Euro an den Bund leisten zu müssen. An Stelle diese Strafsteuer noch weiter zu erhöhen – wie es neuerlichen regierungsamtlichen Plänen zu entnehmen ist – sollte dieser Aussteuerungsbetrag stufenweise abgebaut werden. Denn es ist nicht zu begründen, dass aus Mitteln der Beitragszahler zwischen 4 und 5 Mrd. Euro im Jahr aufzubringen sind, um die durch ALGII gerissenen finanziellen Löcher zu stopfen. Niemand kann bestreiten, dass es sich bei ALG II um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, die deshalb auch von allen Steuerpflichtigen zu tragen ist. Angesichts der Milliarden Euro, die im Wege des Aussteuerungsbetrages an den Fiskus zurückzuzahlen sind, entfällt auch noch die letzte Begründung für Hartz IV – nämlich die Entlastung der Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung durch die Übernahme der Finanzierung der Langzeitarbeitslosigkeit aus Bundessteuern.

Verschiebemanöver Rente

Seit etwa 16 Jahren verfügt die Politik wechselnder Regierungskoalitionen Leistungskürzungen bei den gesetzlichen Altersrenten. Natürlich ist nicht in Abrede zu stellen, dass die Veränderungen in Wirtschaft und Demographie Anpassungen auch der Beitrags- und Rentenleistungen erforderlich machen. Bedenklich ist nur, dass offensichtlich jede neue Politiker-Generation die Rentner neu als „Sparschweine der Nation“ zu entdecken scheint – so als ob davor überhaupt nichts an Anpassungen erfolgt wäre. Das Ergebnis ist dementsprechend durchschlagend. Seit Anfang der 1990er Jahre ist das Rentenniveau bereits um ein Drittel gesenkt worden.

Dies war der Preis für die Deckelung der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung auf 20 Prozent 2020 und 22 Prozent 2030 im Rahmen der rot-grünen Rentenreform von Walter Riester. Was dabei aber nicht in die Rechnung einbezogen wird, ist die Tatsache, dass trotz der staatlichen Förderung die Beiträge zur Riester-Rente zusätzlich zu den Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung aufgebracht werden müssen, der Deckel also durch die ergänzende private Vorsorge längst gesprengt ist. Die Gewerkschaften konnten zusätzlich eine Sicherung des Mindestniveaus der Nettorentenleistungen erreichen: auf 46 Prozent 2020 und 43 Prozent 2030.
Es dauerte nicht lange, da wurde deutlich, dass selbst diese politische Kompromissformel eher einer „Quadratur des Kreises“ glich: Um das fixierte Beitragsniveau zu halten, hätte das Rentenniveau weiter abgesenkt werden müssen oder bei Aufrechterhaltung des festgelegten Rentenniveaus hätten die Beitragssätze weiter steigen müssen. Vorweggenommen hat die Politik in ihrer Weisheit jetzt beides – allerdings voll zu Lasten der Arbeitsnehmer und Rentner: sowohl weitere Absenkungen des Leistungsniveaus der Altersrenten wie jetzt auch eine weitere Erhöhung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung. Er soll ab 2007 um 0,4 Prozent auf 19,9 Prozent steigen – knapp vor die „magische“ Grenze von 20 Prozent. Ob dies ausreicht – steht in den Sternen.

Daher ist mit Fug und Recht die jetzt von der Großen Koalition beschlossene Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre ab 2012 bis 2029 in Frage zu stellen. Dies wird für viele Menschen nichts anderes bedeuten als eine weitere Absenkung der Altersrenten. Soll zusätzlich die in den letzten beiden Jahren nicht erfolgte Rentenkürzung in den nächsten Jahren nachgeholt werden, führt dies zu weiteren Jahren mit Nullrunden bei den Rentenleistungen und damit weiterem Kaufkraftausfall bei den Rentnern. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit wird sich mit umso größerem Nachdruck stellen.

Dies alles wird umso brisanter, als die Große Koalition beschlossen hat, die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für Langzeitarbeitslose auf die Hälfte zusammenzustreichen. Dies bedeutet für die gesetzliche Rentenversicherung zunächst einen Beitragsausfall von 2 Mrd. Euro pro Jahr. Dieser Ausfall trägt mit etwa der Hälfte zu der erforderlichen Erhöhung der Beiträge ab 2007 von 0,4 Prozent bei. Die Konsequenz und Konsistenz einer solchen Finanzverschiebung ist auch bei guten Willen nicht erkennbar und nur als kurzfristiger Aktionismus zum Stopfen von Löchern im Bundeshaushalt einzuordnen.

Verschiebemanöver Gesundheitsreform

Eine weitere Pirouette bei den finanziellen Verschiebemanövern dreht die Große Koalition bei den jetzt vorgelegten Eckpunkten für die Gesundheitsreform. Die Koalitionäre haben sich erst einmal für 2007 die notwendige Luft verschafft, indem sie erst einmal die Beiträge erneut anheben: um 0.5 Prozent. Dabei hatten Rot-Grün mit ihrer letzten Gesundheitsreform 2003 den Weg für Beitragssatzsenkungen ebnen wollen. Wir erinnern uns: Belastet wurden vor allem die Versicherten und Patienten durch höhere Beiträge auf Zusatzrenten, einen einseitige zusätzlichen Beitrag für alle Versicherten Arbeitnehmer von 0.9 Prozent, höhere Zuzahlungen und die Einführung einer Praxisgebühr. Es ist also allein von den Arbeitnehmern ein Belastungspaket von 10 Mrd. Euro im Jahr zu schultern gewesen. Die so genannten Leistungsanbieter – vor allem Ärzte, Apotheker. Pharmakonzerne und Krankenhäuser – waren mit Einsparungen von „sage und schreibe“ 2 Mrd. Euro dabei.

Die von der Politik versprochenen Beitragsatzsenkungen wurden von den Krankenkassen äußerst zögerlich durchgeführt. Jetzt ist schon wieder alles „Schnee von gestern“ und die Versicherten müssen erneut tiefer in die Tasche greifen. Besonders ärgerlich ist dabei, dass die vorgesehene Beitragsatzerhöhung just dem Betrag entspricht, den die Groß-Koalitionäre vor nicht gar so langer Zeit als Steuerzuschuss gestrichen haben – nämlich 4,2 Mrd. Euro aus der Tabaksteuer, die – wie kann es anders sein – zum Stopfen der Löcher in den Bundeshaushalt fließt. Dabei wäre dieser Steuerzuschuss ein Mindestmaß an Gerechtigkeit – z.B. für die ausfallenden Beiträge infolge der gesetzlichen Ausweitung der nicht- oder nur gering sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse.
Es ist bestenfalls ein steuerliches Nullsummenspiel, wenn in den Eckpunkten zur Gesundheitsreform jetzt vorgesehen ist, dass ab 2008 ein steuerlicher Zuschuss aufgebaut werden soll: mit 1.5 Mrd. Euro, der dann 2009 auf 3 Mrd. Euro steigen soll. Alles Weitere wird dann der nächsten Bundesregierung überlassen.

Den Koalitionären ist die Frage zu stellen: Haben sie berücksichtigt, dass eine derartige Erhöhung der Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung auch die Gesetzliche Rentenversicherung zusätzlich mit 500 Mill. Euro belastet? Dies könnte einen weiteren Druck in Richtung Erhöhung der Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung ausüben. Die magische Grenze von 20 Prozent wäre dann schon 2007 in Frage gestellt.

Diese einseitige Verschiebung der Lasten wird noch übertroffen durch die vorgesehene Konstruktion eines „Gesundheitsfonds“. Hierein sollen nach bisherigen Erkenntnissen alle Beiträge sowie der Mini-Steuerzuschuss fließen. Die Krankenkassen erhalten daraus für ihre Versicherten eine Pauschale sowie einen Zuschuss, der das Krankheitsrisiko abdecken soll. Es bestehen berechtigte Zweifel, ob der politische Wille und die analytischen Vorarbeiten für einen solchen morbiditätsorienterten Risikostrukturausgleich überhaupt mobilisiert werden können. Unabhängig davon soll nach dem Willen der Groß-Koalitionäre eine Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben von etwa 7 Mrd. Euro zulässig sein. Dieses Defizit soll dann wiederum den Versicherten und Patienten aufgebürdet werden, wenn auch gedeckelt bei einem Prozent des Haushaltseinkommens. Die in den Eckpunkten gelassene Auswahl für die Krankenkassen, diesen zusätzlichen Obolus über Beiträge oder eine kleine Kopfpauschale einzufordern, dürfte lediglich auf dem Papier stehen. Die Große Koalition hat damit den Weg in die Kopfpauschale und damit die weitere Privatisierung des Gesundheitswesens (Vgl. NachDenkSeiten) vorbereitet. Die paritätische Finanzierung der Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird damit weiter ausgehöhlt.

Die Gegenleistung, nämlich die Einbeziehung der privaten Krankenversicherung in den krankheitsbedingten Risikostrukturausgleich sowie die Finanzierung von Familienleistungen über Steuern, ist nicht gelungen. Ebenso wurden die überfälligen Verbesserungen bei den Ausgabestrukturen nur äußerst zögerlich angepackt. Die seit Jahrzehnten bekannten tatsächlichen Ursachen für die unnötigen und unwirtschaftlichen Ausgabensteigerungen – vor allem bei den Arzneimitteln und dem Krankenhausbereich – werden mit den in den Eckpunkten vorgesehenen unzähligen Einzelmaßnahmen kaum wirksam beseitigt werden können.
Nun sollte man zwar bei einem Blick auf die vergangenen Reformen – gerade im Gesundheitswesen – die Erwartungen nicht unrealistisch hoch schrauben. Doch ist von einer Großen Koalition mit ihren politischen Mehrheiten zu erwarten, dass sie der mächtigen Lobby im Gesundheitswesen endlich ihre Grenzen aufzeigt. Um dies zu erreichen, müsste bei der weiteren Konkretisierung der Eckpunkte und ihrer Umsetzung in Gesetzgebung noch viel mehr an politischer Kraft aufgewendet werden.

Lehren aus der Vergangenheit

Eigentlich hätte man annehmen können, dass die Grosse Koalition aus den Sündenfällen der Vergangenheit bei den anstehenden Reformen der Finanzarchitektur der Sozialen Sicherung die notwendigen Lehren zieht.

Dass die erheblichen Mehrbelastungen für die soziale Sicherung im Rahmen der Deutschen Einheit weitgehend über Sozialversicherungsbeiträge finanziert wurde, hat die großen Sozialkassen mit gesamtgesellschaftlichen Aufgaben und Ausgaben in Höhe von inzwischen kumuliert 400 Mrd. Euro belastet. Diese Ausgaben für die „Sozialversicherungs-Einheit“ waren unabdingbar, hätten aber als gesamtgesellschaftliche Aufgabe über Bundessteuern finanziert werden müssen. Wäre dies erfolgt, würde heute kaum jemand über die zu hohen Lohnnebenkosten jammern können. Zudem wären die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer erheblich höher und die Belastung der personalintensiven Betriebe geringer. Das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung hätten sich bei weitem günstiger entwickeln können und die Arbeitslosigkeit wäre niedriger.

Bundesregierungen und Tarifparteien haben lange Jahre im „Konsens“ die Probleme der gravierenden Strukturumbrüche in Wirtschaft und Beschäftigung bereits vor, aber mehr noch, nach der Deutschen Einheit über Frühverrentungsprogramme zu lösen versucht.

Nun gab und gibt es gute Grüne dafür, bei anstehenden Massenentlassungen älteren und gesundheitlich eingeschränkten Arbeitnehmern den Übergang in den Ruhestand zu erleichtern und jüngeren Menschen somit Beschäftigungsmöglichkeiten zu geben. Dies war die erklärte „gute Absicht“ verschiedener gesetzlicher Regelungen zu Vorruhestand, Erwerbsminderungsrenten sowie Altersteilzeit. Ergänzt wurden sie durch tarifliche und betriebliche Vereinbarungen- vor allem im Rahmen von Sozialplänen – bei anstehenden Unternehmenskrisen.

Heute müssen wir erkennen, dass dabei die Rechnung sprichwörtlich vielfach „ohne den Wirt“ gemacht wurde: Mit „kreativem“ Einsatz wurden diese Frühverrentungsmöglichkeiten immer weniger zur Beschäftigung jüngerer Arbeitnehmer eingesetzt- dafür aber umso wirksamer zur Personalverjüngungspolitik auf Kosten der Sozialversicherung – vor allem der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Notwendige Reformen zur Verbesserung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer müssen daher vor allem die Unternehmen in die Pflicht nehmen.

Ein weiterer schwerwiegender Sündenfall waren die Reformen bei den Unternehmenssteuern. Durch immer weiter ausufernde Vor- und Rückträge der Verluste gegenüber den Unternehmensgewinnen sowie die Steuerfreiheit bei der Veräußerung von Beteiligungen bei Kapitalgesellschaften wurde die Körperschaftssteuer ab 2000 auf Minus- Null- und Minimalbeträge dezimiert. Die riesigen Ausfälle an Steuereinnahmen haben vor allem die Kommunen schwer getroffen und zu dem gravierenden Aderlass bei öffentlichen Investitionen und damit der Beschäftigung beigetragen.

Unabdingbare Voraussetzung der notwendigen Überführung gesamtgesellschaftlicher Kosten aus den Sozialen Sicherungssystemen in die Steuerfinanzierung ist eine sozial- und beschäftigungspolitisch ausgewogene Reform der Unternehmenssteuern. Keine der beiden „Kleinen“ Regierungskoalitionen waren dazu in der Lage. Die bisherigen Ankündigungen der Großen Koalition gehen eher in die umgekehrte Richtung: Senkung der Sätze für die Körperschaftssteuer – wobei das Gelingen des Ausgleichs durch das Schließen der riesigen Steuerlücken zunächst „in den Sternen“ steht. Auch das „Loch“ der abgeschafften Vermögenssteuer soll offensichtlich nicht geschlossen werden.

Welche Schlussfolgerungen sollte die Politik ziehen?

Der Politik wäre dringend anzuraten, den „Fetisch“ der Lohnnebenkosten zu entzaubern sowie die finanziellen Verschiebemanöver zu Lasten der Sozialen Sicherung und der großen Mehrheit der Bevölkerung zu beenden. Zu der von vielen Seiten propagierten „Neuen Finanzarchitektur des Sozialstaates“ bedarf es grundlegender Reformen:

  • Übernahme der Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben statt aus Beiträgen – in eine Steuerfinanzierung. Dazu gehören zu allererst die noch immer mit jährlichen West-Ost-Transfers von zwischen 20 – 30 Mrd. Euro zu Buche schlagenden Kosten der deutschen „Sozialversicherungseinheit“. Hinzu kommen die milliardenschweren Familienleistungen vor allem in der Gesetzlichen Krankenversicherung.
  • Eine wirksame Beschäftigungspolitik und die Beendigung der „hausgemachten“ Aushöhlung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung durch den übersteigerten Boom bei Mini- und Ein-Euro-Jobs.
  • Eine gerechte Besteuerung auch hoher Einkommen, Unternehmensgewinne, Vermögen und Kapitalerträge;
  • Die Ausweitung der Einnahmebasis für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge durch die Einbeziehung höherer Einkommen, der in unserer Volkswirtschaft immer wichtiger werdenden Kapitalerträge sowie der Einkommen von Selbständigen, Politikern und Beamten.
  • Die Verpflichtung der Unternehmen, nach dem „Verursacher- und Wertschöpfungsprinzip“ einen zusätzlichen Beitrag zur Sozialen Sicherung zu leisten. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass nicht immer mehr große Börsengesellschaften zur Erhöhung ihres „shareholder value“ durch Massenentlassung und Verjüngungspolitik die Menschen und die Sozialen Sicherungssysteme in unverantwortlicher Weise belasten.

Wenn die Große Koalition mit ihrer „ großen“ parlamentarischen Mehrheit hierzu nicht die politische Kraft aufbringt – wer dann? Dazu müssten allerdings einige Fetische entzaubert und etliche Mythen zerstört werden.

Anmerkung Albrecht Müller:
Darüber, ob die Anpassungen der sozialen Sicherungssystem in der richtigen Richtung erfolgt sind, kann aus seiner Sicht kein Zweifel bestehen. Die „Reformen“ hätten zu einer allgemeinen Verunsicherung gegenüber den gesetzlichen Sicherungssystemen geführt und mit der „Riester-Rente“ sei der Einstieg in den Umstieg auf die private Rentenvorsorge erfolgt. Die „Reformen“ seien auch nicht nur „Verschiebemanöver“ gewesen, sondern massive Einschnitte in den Sozialstaat. Die entscheidende Frage für eine solide Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ist und bleibe eine aktive Beschäftigungspolitik, das sei die vordringlichste Aufgabe.
Alle anderen Reformmaßnahmen, die diesen zentralen Ansatz vernachlässigten, führten tendenziell in eine Abwärtsspirale für die soziale und solidarische Absicherung und damit unter dem Tarnwort „Eigenverantwortung“ zu einem weiteren Abbau des Sozialstaats zugunsten einer privaten Vorsorge.


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