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Titel: “Armut ist politisch gewollt” – oder: Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Datum: 19. Dezember 2012 um 8:43 Uhr
Rubrik: Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Rente, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Zeitgleich zu den Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften legte der „Wissenschaftliche Beirat“ des Wirtschaftsministeriums ein Gegengutachten vor. Wie schon beim Armutsbericht der Bundesregierung versucht das „Rösler“-Ministerium erneut, die Wirklichkeit zu verfälschen. Der „Schattenbericht“ der Nationalen Armutskonferenz (nak)[PDF – 2 MB] stellt noch einmal die allseits bekannte traurige Realität dar und resümiert, dass „Armut politisch gewollt sei“. Das eigentlich zur Verharmlosung und zur Ablenkung von der Wirklichkeit gedachte „Gegen“-Gutachten zum Thema „Altersarmut“ des „Wissenschaftlichen Beirats“ [PDF – 110 KB] bestätigt dieses Urteil der nak einer politisch gewollten Armut unfreiwillig nur ein weiteres Mal, indem es die Armut einfach wegdefiniert. Von Wolfgang Lieb

Die Nationale Armutskonferenz (nak) stellt fest:

  • dass die Armutsquote seit Jahren auf dem „skandalös hohen Niveau“ zwischen 14 und 16 Prozent liege, also die deutsche Politik zwischen 11,5 und 13 Millionen Menschen in Armut belasse,

Armutsquote seit Jahren auf dem skandalös hohen Niveau

Quelle: FOCUS Online

  • dass jeder Vierte im Niedriglohnsektor arbeite,

Jeder Vierte arbeitet im Niedriglohnsektor

Quelle: Sozialpolitik aktuell in Deutschland [PDF – 90 KB]

  • dass 7,6 Millionen Mensch oder 9,3 Prozent der Bevölkerung staatliche Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums benötigten.
  • dass eine „dramatische Zunahme“ der Einkommensarmut im Alter absehbar sei.
  • dass die Chancen aus der Armut herauszukommen sich „entscheidend verschlechtert“ hätten. Wer einmal arm sei, habe immer weniger Chancen habe der Armut zu entkommen. Auch nach den jüngsten, vom Bundesverfassungsgericht erzwungen Änderungen bei den Hartz-Regelsätzen von Kindern und durch das sog. Bildungs- und Teilhabepaket hätten diese Kinder aus von Armut betroffenen Familien „keine Chance“ aus dem Armutskreislauf aufzusteigen.

Der Zusammenschluss von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden wie der Arbeiterwohlfahrt, dem Paritätischen Gesamtverband, Caritas und Diakonie sowie Gewerkschaften wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) fordert als Gegenmittel unter anderem gesetzliche Mindestlöhne, höhere Regelsätze oder Förderprogramme gegen Wohnungsnot. Die nak ist „schockiert“ über die durch das Wirtschaftsministerium geschönte Fassung des regierungsamtlichen „Armuts- und Reichtumsbericht“ [PDF – 5 MB] (hier auch noch einmal in der Fassung des Sozialministeriums [PDF – 12 MB]).

Es seien doch die Gesetze, die zu einer Ausweitung der Niedriglöhne geführt hätten und es sei doch der Hartz-IV-Regelsatz von derzeit 374 Euro, „der arm macht und nicht aus der Armut heraushilft“, sagte die nak-Sprecherin Michaela Hofmann.

Soviel zu den keineswegs neuen, traurigen Tatsachen, die immer wieder beiseitegeschoben werden.

Wirtschaftsminister Rösler bringt dagegen seine bezahlten Wissenschaftler in Stellung

Es war sicherlich kein Zufall, dass am gleichen Tag an dem die Nationale Armutskonferenz ihren „Schattenbericht“ vorstellte, das Bundeswirtschaftsministerium mit einem schon am 30. November verabschiedeten Gutachten des von seinem Hause finanzierten „Wissenschaftlichen Beirats“ an die Öffentlichkeit trat.

Der federführende Betreuer dieses „wissenschaftlichen“ Gutachtens, Axel Börsch-Supan – inzwischen zum geschäftsführenden Direktor eines Max-Planck-Instituts „geadelt“- sieht in der Altersarmut derzeit kein großes Problem.

Das hat allerdings für die gegenwärtige Situation auch niemand, auch nicht die nak behauptet. Aber natürlich wurden in den meisten Medien beide Veröffentlichungen in einem Aufwasch behandelt und gegenübergestellt. Das Ablenkungsmanöver vom Grundproblem der zunehmenden Armut insgesamt ist also wieder einmal weitgehend gelungen.

Man muss wissen, dass Börsch-Supan zu den „wissenschaftlichen“ Lobbyisten der privaten Altersvorsorge gehört. Er war neben Bernd Raffelhüschen und Bert Rürup einer der lautstärksten professoralen Mietmäuler für eine Zerstörung der gesetzlichen Rente, damit die Versicherungswirtschaft höhere Anteile an einer privaten Altersvorsorge gewinnen konnte. Dementsprechend war er natürlich auch ein vehementer Verfechter der Rente mit 67.

Es ist deshalb nicht weiter erstaunlich, dass der von Börsch-Supan betreute „wissenschaftliche Beirat“ des Wirtschaftsministers behauptet, dass „die Ursachen der Altersarmut nicht primär in den Rentenreformen der Jahre 2001-2007, sondern in unzureichenden Erwerbsbiographien zu suchen sind“. Und für seine Biografie ist schließlich jeder selbst verantwortlich – wird dabei unter der Hand suggeriert.

Gegen von der Leyen und gegen das Rentenkonzept der SPD

In seinem neuesten „Gutachten“ spricht sich dieser „wissenschaftliche Beirat“ z.B. sowohl gegen die „Lebensleistungsrente“ von der Leyens als auch gegen die „Solidarrente“ der SPD aus. Diese Formen der Absicherung von Altersarmut würden „die ohnehin bestehenden negativen Anreizeffekte auf das Arbeitsangebot verstärken.“

Will sagen, ohne die Drohung mit Altersarmut wären nach Meinung dieses Beirats die Menschen noch weniger bereit Arbeit zu jedem Preis anzunehmen.

Altersarmut wird bekämpft, indem man sie einfach wegdefiniert

Im Übrigen sei der Begriff „altersarm“ sehr „emotionsbesetzt“. Eigentlich bestehe die Gefahr einer zunehmenden Altersarmut gar nicht. Denn: „Altersarmut im Sinne eines Einkommens, das unter dem Existenzminimum liegt (gemessen am Bedarf eines Rentnerhaushalts in Analogie zu den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für Grundsicherungsempfänger) kann es in Deutschland wegen der „Grundsicherung im Alter“ eigentlich nicht geben, da diese ja gerade nach dem Bedarf eines Rentnerhaushalts bemessen ist.“

Dass die bedarfsorientierte und bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherung zur Sicherstellung des Lebensunterhalts – also 374 Euro im Monat für Alleinstehende und 674 Euro für (Ehe-) Paare (nebst Zuschüsse für das Wohnen) – nicht als „arm“ betrachtet wird, ist eine ziemlich eigenwillige Definition von Armut, die allen internationalen Definitionen der Armut widerspricht.

Und wenn man Altersarmut erst am Grundsicherungsniveau misst, dann sind halt ´nur` 2,6 Prozent der über 65-Jährigen derzeit altersarm. Der „wissenschaftliche Beirat“ betrachtet es sogar als Erfolgsmeldung, dass der Anteil der über 65-Jährigen die unter 60% des Medianeinkommens liegen ´nur` bei 15,3 Prozent liegt, während die durchschnittliche Armutsgefährdung 2011 bei 20,0 Prozent lag.

Doch so ganz können selbst diese Experten das Armutsproblem nicht schönschreiben: Es liege aber eben derzeit „eher bei den Jungen: 22,4% der 18-25jährigen sind armutsgefährdet, 37,1% der alleinerzogenen Kinder leben in armutsgefährdeten Haushalten. Noch ernster ist die Situation bei Menschen mit Migrationshintergrund. Hier sind 28,5% der Jugendlichen und 49,3% der alleinerzogenen Kinder armutsgefährdet.“

Trotz ihres parteilichen Eintretens für die Renten-„Reformen“ kommen die „Rösler“-Berater nicht um das Eingeständnis herum: „In der Zukunft wird sich das Risiko der Altersarmut erhöhen, wenn im Zuge der Bevölkerungsalterung das Nettorentenniveau vor Steuern bis 2030 voraussichtlich von 51% im Jahr 2005 auf etwa 43% im Jahr 2030 sinken wird.“

Aber das ist für die Experten kein Problem. Sie unterstellen einfach mal, dass bis zum Jahre 2030 die mittlere Lebensarbeitszeit um vier Jahre ansteigen wird und die damit zusätzlich erworbenen Entgeltpunkte bei der gesetzlichen Rentenversicherung knapp zwei Drittel der Absenkung des Netto-Rentenniveaus kompensieren werde. Und um der traurigen Wirklichkeit im Hinblick auf die Beschäftigung älterer Menschen noch eine weitere blauäugige Hypothese hinzuzufügen, führt dieser „Beirat“ seine Luftbuchung fort: „Addiert man eine vollumfängliche Riester- oder gleich hohe Betriebsrente, wird das übrige Drittel ab einer jährlichen Rendite von 1,5% und einer Einzahlungsdauer von etwas über 25 Jahren kompensiert. Eine erhöhte Altersarmut entsteht daher nicht per se aus den rentenpolitischen Maßnahmenpaket der letzten Jahre, sondern nur dann, wenn die Kompensationsmaßnahmen für die Absenkung des Rentenniveaus nicht ergriffen werden oder nicht greifen können.“

Mit solchen Hirngespinsten kann man natürlich eine drohende Altersarmut schlicht und einfach wegdefinieren. Das ist Wissenschaft nach dem Motto, umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie unseren Annahmen nicht entspricht. Die Leute sind schließlich selbst schuld, wenn sie nicht länger arbeiten oder wenn nur 45 Prozent der Berechtigten eine Riester-Rente abschließen und wenn es bei den armutsbedrohten Einkommensschichten gar nur 25 Prozent sind.

Zauberformel Bildung

Immer wenn die Beschönigungs-Ideologen selbst eingestehen müssen, dass ihre Ideologie an der Wirklichkeit scheitert, fällt das Zauberwort Bildung: „Das grundsätzlichste Mittel zur Bekämpfung der Altersarmut besteht folglich darin, möglichst viele Menschen durch angemessene Bildung davor zu bewahren, dass sie in die Gruppe der Geringverdiener geraten.“ Nach der herrschenden Ideologie „jeder ist seines Glückes Schmied“ ist deshalb eine bessere Qualifizierung eines der geeignetsten Mittel „das Übel Altersarmut an der Wurzel zu packen“.

Sicherlich ist Bildung nach wie vor die beste Absicherung vor Arbeitslosigkeit, denn der Arbeitsmarkt wird immer die jeweils Bestqualifiziertesten aufnehmen, aber die Beschöniger tun so, als ob allein durch Bildung Arbeitsplätze geschaffen würden. Ein hohes Bildungsniveau schützt beileibe nicht mehr vor Arbeitslosigkeit und schon gar nicht vor Niedriglöhnen, unbezahlten Praktika oder befristeten Stellen.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Besonders grotesk ist die Begründung dieses „wissenschaftlichen Beirats“ für die Ablehnung eines Mindestlohns. Weil diese Zirkelargumentation so verbreitet ist, hier das ganze Zitat:

„Der Vorschlag, Altersarmut durch einen allgemein gültigen gesetzlichen Mindestlohn zu vermeiden, erweist sich aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive als nicht tragfähig. Um eine Rente auf Grundsicherungsniveau zu erhalten, braucht man in den alten Bundesländern 23,2 und in den neuen Bundesländern 26,1 Entgeltpunkte. Dies entspricht während eines 40jährigen Erwerbslebens einem sozialversicherungspflichtigen Bruttoentgelt von jährlich 18.500 Euro in Westdeutschland und 20.800 Euro in Ostdeutschland. Bei einer durchschnittlichen Jahresarbeitszeit von 1667 Stunden entspricht dies einem Bruttostundenlohn von 11,10 Euro in West- und 12,50 Euro in Ostdeutschland. Ein Mindestlohn, der eine Rente von 850 Euro im Monat sichert, läge dementsprechend bei 14,40 Euro je Stunde in den alten bzw. 16,20 Euro in den neuen Bundesländern. Es ist unvorstellbar, dass so hohe Mindestlöhne keine negativen Beschäftigungseffekte auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen würden, welche die Sicherung der Lohnhöhe durch eine höhere Arbeitslosigkeit wieder konterkarieren.“

Da wird also selbst der Mindestlohn – dessen Höhe im politischen Raum nur zwischen 8.50 und 10 Euro diskutiert wird – abgelehnt, weil er nicht für die von der Arbeitsministerin und von der SPD geforderte Mindestrente von 850 Euro zur Vermeidung von Altersarmut ausreiche, aber im gleichen Atemzug wird die Ausweitung und die Verlängerung der Erwerbstätigkeit als wichtigstes Element zur Bekämpfung von Armut im Alter hervorgehoben. Das aber dann offenbar zu Löhnen, die noch unterhalb des Existenzminimums selbst in jungen Jahren liegen.

Eine Logik ergibt sich daraus nur, wenn man das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum als ausreichende Alterssicherung nach einem lebenslangen Erwerbsleben betrachtet. Und wenn man das so sieht, dann gibt es eben keine Altersarmut mehr.

Wie reimte doch schon Christian Morgenstern:

Und er kommt zu dem Ergebnis:
“Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil”, so schließt er messerscharf,
“nicht sein k a n n, was nicht sein d a r f.”


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