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Titel: „Lügengeschichte“ Reformbedarf – Was wir nicht glauben sollten.

Datum: 22. Februar 2007 um 13:53 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Kampagnen / Tarnworte / Neusprech, Lobbyismus und politische Korruption, Sozialstaat
Verantwortlich:

Erweiterte Fassung eines Redebeitrags von mir beim Internationalen Kongress von IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) in Nürnberg am 21.10.2006.

  1. Um Ihnen die Einordnung meiner kritischen Position zur heute angesagten Reformpolitik zu erleichtern, möchte ich mit zwei Vorbemerkungen beginnen, die an meiner bisherigen Arbeit ansetzen:

    Erstens: Spätestens seit meiner Arbeit als Ghostwriter des früheren Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller beobachte ich, wie Meinung gebildet und beeinflusst wird, wie die öffentliche Meinung wiederum die politischen Entscheidungen prägt und wie mächtige Interessen die öffentliche Meinung beeinflussen und so genehme politische Entscheidungen erreichen. Ich bin dabei nolens volens zu einem Spezialisten für die Beobachtung von Manipulationsvorgängen geworden. Dabei habe ich mir angewöhnt, nahezu nichts mehr zu glauben, was in der öffentlichen Debatte vorgebracht wird. Dies nicht aus Lust am Zweifeln – was ja auch eine Tugend wäre -, sondern geboren aus der Notwendigkeit, sich der gängig gewordenen alltäglichen Manipulation zu entziehen – um der Freiheit der Gedanken Willen müsste ich sagen, wenn der schöne Begriff Freiheit nicht täglich von George W. Bush und seinen Freundinnen und Freunden in Deutschland missbraucht würde.
    Nicht Aufklärung sondern Irreführung ist die gängige Münze. Weil ein Freund von dieser meiner Einschätzung unserer öffentlichen Debatte wusste, machte er mich auf eine Passage in George Orwells „1984“ aufmerksam. Ich zitiere:

    Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.[1]

    Mit diesem Orwell im Hinterkopf verstehen Sie die gegenwärtige Reformdebatte besser. Brainwashing ist zur gängigen Beschäftigung unserer öffentlichen Meinungsmacher, der PR-Agenturen und Medien sowie vieler Politiker, Wirtschaftsleute und Wissenschaftler geworden. Sie entwerfen langfristig angelegte Strategien, um das Volk „rumzukriegen“.

    Die zweite Vorbemerkung:
    Ich bin alles andere als ein Reformmuffel, ich ersann mit Freunden Vorschläge für ein modernes Bodenrecht und für eine gerechte und ökologisch orientierte Steuerreform – das war 1971. Als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt half ich 1975 ein bisschen mit, die ungerechten Kindersteuerfreibeträge durch ein gleiches Kindergeld zu ersetzen; für Willy Brandt formulierten wir im Wahlkampf 1972 den Satz „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.“

    Ich sehe auch heute Reformbedarf. Und dennoch habe ich mit dem Buch „Die Reformlüge“ und einem weiteren mit dem Titel „Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet“ zwei Reformbücher geschrieben, die wie Plädoyers gegen Reformen klingen.

    Das ist leicht zu erklären: Die heutigen „Reformer“ haben dem fortschrittlichen Teil unseres Volkes den Begriff Reform gestohlen und ihn in ihrem Sinne besetzt. Reform hieß in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, etwas zu Gunsten der Mehrheit und der Schwächeren zu verändern. Die Verpflichtung unseres Grundgesetzes zur Sozialstaatlichkeit wurde wenigstens ein bisschen ernst genommen. Heute gehen die Reformen meist zu Lasten der Mehrheit und zu Gunsten der Eliten -„verfassungsfeindliche Umtriebe“ unserer Eliten sozusagen.

    Sie können das an konkreten Reformversuchen und Reformen festmachen:

    • In den Siebzigern die Einführung z.B. von Vorsorgeuntersuchungen als Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), heute Zuzahlungen und die Ausgliederung mehrerer Leistungen aus dem Katalog der GKV, Tendenz: Wahrung der Grundversorgung. Beim Zahnersatz fällt einem auf, wie schnell sich das Verständnis von „Reform“ ändern kann. Noch 1998 tauchten im Wahlkampf SPD-Plakate auf, auf denen geschrieben stand: »Man soll nicht am Gebiss erkennen können, ob jemand arm oder reich ist.« Nur wenig später, bei der letzten großen Gesundheitsreform vom Dezember 2003, wurde Reform neu definiert: Zuzahlungen und Auflösung der Beitragsparität. Wie sagt doch Müntefering in seiner unnachahmbaren Ehrlichkeit: Es sei unfair, die Koalitionsparteien an ihren Versprechen im Wahlkampf zu messen. Durch die Bildung der großen Koalition gebe es eine neue Situation. Jetzt müsse der Maßstab sein, “was wir als Koalition aus dem Wahlergebnis heraus entwickeln”. So berichtete der Tagesspiegel Ende August 2006.
    • 1975 die Entscheidung, die ungerechten Kindersteuerfreibeträge durch ein gleiches Kindergeld für alle zu ersetzen, weil die Kinder dem Staat gleich viel wert sein sollen, heute das vor kurzem verabschiedete Elterngeld, das den Besserverdienenden 1800 € und den Schwächsten 300 € monatlich fürs Kind bringt.
    • Damals, in den sechziger und siebziger Jahren, der einigermaßen gelungene Versuch, die weiterführenden Schulen und Hochschulen für die Kinder aus Arbeitnehmerfamilien zu öffnen, heute die Einführung von Studiengebühren und die Überantwortung unserer öffentlichen Hochschulen in die Hände von Hochschulräten, in denen die Wirtschaft das Sagen hat, obendrein ohne jegliche demokratische Legitimation. Passend zu Orwells Welt der Irreführung nennt sich das entsprechende, von Bertelsmann inspirierte Landesgesetz in Nordrhein-Westfalen „Hochschulfreiheitsgesetz“.
    • Damals der Versuch, für wichtige Bereiche der Daseinsvorsorge öffentliche Verantwortung wahrzunehmen, und jetzt ein kurz vor den Wahlen 2005 noch schnell durchgepeitschtes ÖPP-Beschleunigungsgesetz, das die Verschleuderung des öffentlichen, vor allem des kommunalen Eigentums, zu Gunsten einer Unzahl von Profiteuren am Privatisierungsprozess erleichtert. Dabei hilft jetzt übrigens Rudolf Scharping. Er betreibt in gelegentlicher Partnerschaft mit Reiner Brüderle (FDP), dem ehemaligen Oberbürgermeister von Landshut Deimer (CSU), und den ehemaligen Oberbürgermeistern Lehmann-Grube (Leipzig, SPD) und Rolf Böhme (Freiburg, SPD) das Beratungsunternehmen RSBK, Rudolf Scharping Strategie Beratung Kommunikation, mit Schwerpunkt Privatisierung öffentlichen Eigentums.

    Das Wort Lüge, wie es in dem mir gestellten Thema „Lügengeschichte“ vorkommt, ist ein hartes Wort. Aber diese Härte ist berechtigt:
    Es stimmt nahezu nichts, es stimmen entscheidende Behauptungen nicht in dieser alles beherrschenden Reformdebatte.

  2. Es ist nicht wahr, dass es einen Reformstau gibt:

    Ich weise Sie hin auf eine Serie von Reformen in der Gesundheitspolitik:

    1. 1993 – Gesundheit-Strukturgesetz.
      Gemeinsam setzten Union und SPD das bis dahin größte Gesundheitsreformpaket durch. Zuweisung von Budgets, Fallpauschalen, gestaffelte Zuzahlungen bei Medikamenten, etc.
    2. 1997 – Beitragsentlastungsgesetz.
      Die Zuzahlungen für Arzneimittel steigen, das Krankengeld sinkt.
    3. 1997 – 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz.
      Erhöhung der Zuzahlungen, Krankenhaus-Notopfer und so weiter.
    4. 1999 – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz
    5. 2 bis 001 – Gesetz zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets
    6. 2002 – Beitragsicherungsgesetz.
      Klassischer Inhalt: Festschreibung der Beitragssätze, Kürzung der Leistungen der GKV.
    7. 2004 – GKV-Modernisierungsgesetz.
      Praxisgebühr. Streichung Sterbegeld, Sehhilfeversorgung, Entbindungsgeld.
    8. 2006 – ???

    Das sind in 13 Jahren acht Gesundheitsreformen. Eines ist sicher: von Reformstau kann keine Redesein. Das Reformtempo ist sichtbar steigerungsfähig. Ich verweise auf:

    Gravierende Steuerreformen in den letzten 20 Jahren:

    1. Streichung der Vermögenssteuer
    2. Streichung der Gewerbekapitalsteuer
    3. Kürzung der Körperschaftssteuer
    4. Erlass der Besteuerung der Gewinne bei Verkauf von Unternehmensteilen (= Steuerbefreiung der so genannten Heuschrecken)
    5. Senkung des Spitzensteuersatzes – auf 42%
    6. Amnestie für Steuersünder
    7. Korrektur des Halbeinkünfteverfahrens zugunsten der Versicherungswirtschaft. = mindestens 5 Mrd. Steuererlass

    Diese „Reformen“ sind nicht vom Himmel gefallen. Hier ist systematisch die Verarmung des Staates und damit öffentlicher Einrichtungen betrieben worden.
    Übrigens: Nach neoliberaler Theorie müssten die Investitionen „brummen“. Wo sind die Erfolge geblieben?

    Und was sonst noch alles reformiert worden ist, mit tief greifenden Wirkungen aber nicht mit Erfolgen:

    1. Riester-Rente – und die Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente
    2. Hartz IV – und die Zerstörung des Vertrauens in die Arbeitslosenversicherung
    3. Hartz I bis III und Agenda 2010 – und die Zerstörung des Vertrauens in die Fähigkeit der Politik, vernünftige Konzepte zu entwickeln, deren Verfallszeit länger als ein Jahr ist. Erinnern Sie sich noch an Ich AG, PSA, Jobfloater? Zum größeren Teil Flops oder zu teuer.
    4. Die mehrmalige Öffnung der Ladenschlusszeiten
    5. Das erwähnte ÖPP-Gesetz
    6. Das Elterngeld
    7. Die Hochschulfreiheitsgesetze
    8. Die Studiengebühren
    9. Die Kürzung der Pendlerpauschale
    10. Die Erhöhung der Versicherungssteuer
    11. Das Auslaufen der Eigenheimzulage
    12. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer

    u.a.m.

    Spiegeln Sie diese Fülle von durchgesetzten Reformen auf das Gerede von Lähmung und Blockade, vom ausbleibenden Ruck und wachsenden Reformbedarf. Das ist eine Lügengeschichte, die man immer wieder erzählt und deren Bedeutung man offenbar nach Lust und Laune anschwellen oder wieder abschwellen lassen kann.
    Den meinungsführenden Kräften ist es offensichtlich möglich, Geschichten nahezu unabhängig von der Realität zu erzählen.
    Den Zustand, dem sich unsere Führungskräfte in solchen Momenten nähern, nenne ich einen Kollektiven Wahn. Die Wahnvorstellung, unser Land leide unter Lähmung und Blockade zum Beispiel. Tausendfach wiederholt. Millionenfach geglaubt.

  3. Wir leiden nicht unter Reformstau und Blockade. Wir leiden eher unter Reformen, die besser verhindert worden wären.
    Das ist kein Spaß. Die von mir so charakterisierten Veränderungen sind gravierend. Sie zielen nicht auf den Umbau des Sozialstaats, es sind oft Systemänderungen oder – genauer gesagt – Reformen mit systemverändernder Wirkung:

    • Mit dem Anlasten der Riester-Rente, mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, mit dem Nachhaltigkeitsfaktor und anderen einschlägigen Entscheidungen wird ein bewährtes System, die gesetzliche Rente, der Erosion preisgegeben.
    • Genauso hat Hartz IV das Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung grundlegend zerstört.
    • Der Gesundheitsfond und die Zusatzprämie können die Vorbereitung und das Tor für die Ausdehnung der privaten Kassen sein. Darüber braucht man nicht zu spekulieren. So wird es zum Beispiel vom Generalsekretär der CDU auch erklärt.
    • Die zum 1.1.2002 durchgesetzte Steuerbefreiung der so genannten Heuschrecken, macht es finanziell attraktiv, einigermaßen gute deutsche Unternehmen zu fleddern.
    • Das ÖPP-Beschleunigungsgesetz dient dem leichteren Ausverkauf öffentlichen Eigentums.
    • Die Streichung der Gewerbekapitalsteuer nahm unseren Kommunen die Finanzen für wichtige Aufgaben unabhängig von Konjunktur und Gewinnlage.
    • Mit der Kommerzialisierung des Fernsehens in der Zeit nach der Wende von Schmidt zu Kohl ist einer der gravierendsten Reformschritte erfolgt – mit allen Konsequenzen für den geistigen Zustand unseres Volkes. Es wäre erhellend, die Pisa-Studien würden sich endlich einmal diesem Akt der willentlichen Verblödung zuwenden.

    Lauter systemverändernde Reformen. Und warum das alles? Warum diese Reformen, die uns nicht nur nichts gebracht, sondern uns geschadet haben?
    Zum Teil aus ideologischen Gründen, zum Teil werden mit diesen Reformen einzelne Interessen bedient. Die politische Korruption grassiert. Um des privaten Profits willen werden wichtige gesellschaftliche Einrichtungen und Errungenschaften zerstört.

    Unser Volk wollte zum Beispiel die „Reform“ „Kommerzialisierung des Fernsehens“ 1982 nicht. Aber Bertelsmann und Leo Kirch, die späteren Betreiber von RTL und Sat1/Pro 7, wollten diese Reform. Helmut Kohl und sein Telekom-Minister Schwarz-Schilling haben diese gravierende Systemänderung zu deren Gunsten betrieben und mit öffentlichem Geld subventioniert. Jahre später, zwischen 1999 und 2002 hat Altkanzler Helmut Kohl laut Focus von Leo Kirch jährlich umgerechnet etwas über 400.000 € pro Jahr für Beratertätigkeit erhalten. Genauso, wenn auch mit geringeren Beträgen, die anderen Beteiligten: Schwarz-Schilling, Wolfgang Bötsch, Theo Waigel, Rupert Scholz und Jürgen Möllemann.
    Kurt Beck kommentierte das damals so:

    Niemand zahlt 800 000 Mark oder 300 000 Mark, dazwischen lagen ja wohl die Verträge, für nichts. Das kann ich mir nicht vorstellen. Da muss es also Interessen gegeben haben, die verflochten worden sind.

    Nach der gleichen Grammatik können Sie die anderen genannten Reformen durchdeklinieren: Schröder, Merz und die Finanzindustrie einschließlich Heuschrecken zum Beispiel. Warum hat Kanzler Schröder die Riester-Rente durchgesetzt? Warum die Steuerbefreiung für Heuschrecken? Warum hat Merz dazu geschwiegen?
    Wir haben ein so schlechtes Gedächtnis. Wir erinnern uns zum Beispiel nicht daran, wer die Kampagne für den niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder im Frühjahr 1998, die entscheidend war für die Kanzlerkandidaten-Entscheidung der SPD, maßgeblich unterstützt hat: Der Chef von AWD, eines Finanzdienstleisters aus Hannover. Carsten Maschmeyer warb für Schröder mit Großanzeigen unter dem Motto „Der nächste Kanzler muss ein Niedersachse sein“.

    Reformstau, Blockade, Lähmung – das ist eine Kette von Lügengeschichten:

  4. Wir leiden nicht darunter, dass ein wichtiger Reformbedarf nicht befriedigt würde.
    Wir leiden vor allem unter der Unfähigkeit unseres Führungspersonals, eine unseren Bedürfnissen entsprechende Wirtschaftspolitik zu betreiben. Unsere Eliten verstehen nicht genug von der so genannten Makroökonomie, nichts davon, mit einer Rezession sachgerecht umzugehen.
    Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit bewusst auf diese von der Reformpolitik verdrängte Kernaufgabe, weil nach meiner Erfahrung auch viele Zeitgenossen, die dem neoliberalen Mainstream kritisch gegenüberstehen, die Bedeutung einer expansiven Konjunktur- und Beschäftigungspolitik nicht mehr sehen. Hier gibt es eine ungewollte Koalition zwischen den Neoliberalen einerseits und anti-neoliberalen Wachstumskritikern auf der andern Seite.

    Zurück zur herrschenden Reformbewegung. Ihre Vertreter unterstellen, es gäbe einen Wirkungszusammenhang zwischen den Reformen und der wirtschaftlichen Belebung. Die Reformer glauben, es würde mehr investiert und produziert, wenn die Steuern gesenkt werden. Sie machen uns glauben, es würden Arbeitsplätze geschaffen, wenn die Lohnnebenkosten sinken. Unser Finanzminister und mit ihm viele andere glauben, die Wirtschaft wächst, wenn er zu sparen versucht. Das geht nun schon gut 13 Jahre schief. Auch jetzt besteht wieder die Gefahr, dass das zarte Pflänzchen Aufschwung von der Mehrwertsteuererhöhung und der Zinserhöhung der EZB erschlagen wird.

    Die Redensarten unserer führenden Personen tun ihr übriges. So zeichnete schon der Bundespräsident mit seiner Erklärung zur Auflösung des Deutschen Bundestags vor einem guten Jahr die Lage unseres Landes in schwärzesten Farben. Die Bundeskanzlerin nennt unser Land einen Sanierungsfall. Diese Eliten haben offensichtlich nicht einmal eine primitive Ahnung von der psychologischen Seite einer guten Konjunkturpolitik.

    Der amerikanische Nobelpreisträger Robert Solow hat schon vor zwei Jahren zum makroökonomischen Defizit in Deutschland nüchtern festgestellt, wenn er ein Manager wäre, dann würde er seine Produktion auch nicht ausweiten, solange die Märkte nicht erkennbar expandieren[2]. Diese Binsenweisheit wird in Deutschland negiert. Aus Dummheit oder aus Absicht – das weiß ich nicht. Robert Solow meinte dazu: „Klar, Makropolitik beherrscht vermutlich niemand perfekt. Aber mir scheint offensichtlich: in Deutschland könnte man sie wesentlich besser machen.“
    Die Ignoranz gegenüber der notwendigen makroökonomischen Verantwortung, gegenüber der Verantwortung für eine bessere Konjunktur, kostet uns unnötig viel Geld. Unser gemeinsam erarbeitetes Bruttoinlandsprodukt könnte jährlich um rund 700 Milliarden € höher sein als heute. Das ist 1/3 unseres BIP. Damit könnte Sinnvolles gemacht werden. Wir könnten damit Schulden zurückzahlen, die sozialen Sicherungssysteme einschließlich der Gesundheitsversorgung besser bezahlen und etwas gegen die grassierende Armut tun statt sie zum Modethema zu machen.

    Die Unfähigkeit, eine angemessene Makropolitik zu betreiben und stattdessen unentwegt zu reformieren, ist gefährlich. Sie spaltet unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht. Sie stürzt inzwischen Millionen von Menschen und Familien in materielle und psychische Krisen. Das schafft Arbeit für Sie, die Mediziner und Seelenärzte. Aber das kann nicht das Ziel unsere Politik sein.
    Es ist ein erstaunliches Merkmal unserer heutigen Eliten, dass sie unfähig sind, die Breite dieser Folgen ihrer Ideologie und ihres Tuns beziehungsweise ihres Unterlassens zu sehen. Ich nenne das Regression. In „Machtwahn“ habe ich diesen Rückfall hinter schon einmal Erkanntes an mehreren Beispielen beschrieben.

    Es ist nicht wahr, dass es nur um den Umbau des Sozialstaats geht, wie einige Reformer beschönigend sagen. Wie viele der erwähnten Beispiele und auch Teile der Gesundheitsreformen zeigen, geht es den wirklich treibenden Kräften um so genannte Strukturreformen.
    Josef Ackermann hatte die Absichten freundlicherweise auf den Punkt gebracht:

    Wäre es nicht an der Zeit, nach fünfzig erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen?

    (Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt am Main 2003)
    Dieser Satz bündelt die A-Logik der herrschenden Kreise in vorbildlicher Weise.

    Zur Begründung wird vieles behauptet, im Kern kommt man immer auf die gleichen zweieinhalb Hinweise zurück:
    Erstens die Globalisierung.
    Zweitens die Demographie – genauer die niedrige Geburtenrate und die Alterung.
    Und zweieinhalbstens: Die Lohnnebenkosten.

    Sie finden nahezu keine Rede unserer führenden Politiker, Publizisten und Wissenschaftler, die diese Hinweise nicht enthalten. Und dennoch dürfen wir nicht von Gleichschaltung sprechen, weil dieser Begriff belastet ist. Schade, denn er trifft auch hier genau. Die Hinweise auf Globalisierung, auf den demographischen Wandel und die Lohnnebenkosten erhalten ihre Glaubwürdigkeit nämlich nur aus der gegenseitigen Bestätigung und Wiederholung.

  5. Es ist nicht wahr, dass die Globalisierung ein völlig neues Phänomen ist. Deutschland war immer schon in den Weltmarkt und auch in Wanderungsbewegungen und Kapitalbewegungen integriert. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der Erweiterung der EU ist die Verflechtung quantitativ gewachsen. Darüber, ob dies ein qualitativ neuer Sprung ist, will ich jetzt nicht urteilen. Angesichts der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft bezweifle ich das eher.

    Unterstellen wir einmal, die Globalisierung wäre wirklich eine große neue Herausforderung. Dann bleibt ja immer noch die Frage, ob darauf mit den betriebenen Strukturreformen weg von der Sozialstaatlichkeit zu antworten die richtige Antwort ist. Eher das Gegenteil wäre angebracht:

    • Wenn die Arbeitsplätze wegen der Globalisierung unsicher werden, dann wäre es wichtig, der Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung intakt zu halten, statt es mit Hartz IV zu zerstören.
    • Wenn wir verlangen, dass die Menschen mobil sind und flexibel, dann wären solidarische Sicherungssysteme notwendig, um die notwendige Flexibilität wenigstens etwas angstfreier zu gestalten. Der Ausbau der privaten Betriebsrenten zum Beispiel ist kein Beitrag zu mehr Mobilität eher das Gegenteil.
    • Wenn die Menschen flexibel sein sollen, dann wäre es auch nötig, gesicherte Arbeitsverhältnisse zu fördern und anzubieten, statt den angeblichen Trend ihrer Erosion herbei zu reden, wie das täglich geschieht. Wären die Gefahren der Globalisierung so, wie sie dargestellt werden, dann müsste die Antwort der Bundesregierung ein Programm zur Stabilisierung der Normalarbeitsverhältnisse sein statt der Subvention von Minijobs.
    • Und warum wir die solidarischen Elemente in unserem Gesundheitssystem aufgeben sollen wegen der Globalisierung (oder wegen der Alterung), das verstehe ich einfach nicht.
  6. In diesem Zusammenhang kommen immer die so genannten Lohnnebenkosten ins Spiel. Bringen die möglicherweise steigenden Beiträge und damit Lohnnebenkosten einen Bedarf zur grundlegenden Reform unserer sozialen Sicherungssysteme und speziell des Gesundheitssystems? Warum sollte das so sein? Es steigen ja in einem solchen Fall nicht irgendwelche „Neben“kosten sondern die Kosten der Gesundheitsversorgung. Das könnte Anlass für Sparversuche sein, wenn diese sinnvoll sind. Aber Anlass zur Systemänderung? Wieso das?
    Eine kurze Anmerkung zur Altersvorsorge, worüber ich viel nachgedacht und gerechnet habe: die Notwendigkeit zur Strukturreform sehe ich dort überhaupt nicht. Das Umlageverfahren müsste man erfinden, wenn es dieses nicht gäbe. Es arbeitet günstig und ist sicherer als die Kapitaldeckungsverfahren. Hier ein Kostenvergleich:

    Betriebskosten der Altersvorsorgesyteme
    Umlageverfahren 1,5%
    Riesterrente ca. 10%
    Chilenische Privatvorsorge 18%
    Privatvorsorge in GB (Spitzenwerte) 40%

    Wenn diese Kosten verdient werden sollen, muss die Rendite schon sehr hoch sein.

    Nun einige Stichworte zum Gesundheitswesen und der jetzigen Situation und Debatte:

    1. Meine erste Anmerkung folgt aus der aus meiner Sicht dringend notwendigen Konzentration auf die wichtigste Frage: die Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation. Alles, was die Konzentration auf diese Aufgabe stört, sollte unterbleiben. Damit wende ich mich nicht gegen kleine Veränderungen, die zum Beispiel notwendig sind, um einen Ausgleich zwischen den Krankenkassen zu schaffen, um so die Folgen des Niedergangs ganzer Regionen abzufedern. Mit der Diskussion der beiden großen Reformmodelle – Bürgerversicherung auf der einen Seite und Kopfpauschale auf der andern – werden doch nur zwei Effekte erzielt: die Politik verbraucht zum ersten ihre Aufmerksamkeit und ihre Kapazitäten bei diesen Reformen wie zuvor bei Hartz IV und wird von ihrer Hauptaufgabe abgelenkt, und zum zweiten wird die Depression der Bürgerinnen und Bürger durch das herrschende Reformdurcheinander noch mehr verstärkt.
    2. Die zweite Anmerkung gilt inhaltlichen Fragen: Wie will man es denn, wie in der Bürgerversicherung vorgesehen, schaffen, Zinseinkünfte und andere Einkommen dieser Art heranzuziehen, wenn man dies heute nicht einmal bei der Besteuerung schafft? Ich habe eine Sympathie für die Bürgerversicherung. Aber siehe meine erste Anmerkung: wenn ein solcher Reformversuch ein totales Durcheinander bringt, dann ist dies den Aufwand in der labilen wirtschaftlichen Lage von heute nicht wert. – Für die Kopfpauschale gilt Letzteres auch und noch mehr. Dazu zunächst eine für Sie vielleicht überraschende positive Anmerkung: Wenn unser Steuersystem und die Steuersätze geeignet wären, die aus Gründen der Gerechtigkeit und der Chancengleichheit notwendige Umverteilung zwischen Gut- und Schlechtverdienenden zu besorgen, dann fände ich ein Kopfpauschalensystem nicht abwegig. Dann könnte man auf solidarische Elemente im Bereich Gesundheit verzichten. – Aber wir sind so meilenweit von dieser Steuerpolitik entfernt und wir sind eine Unendlichkeit davon entfernt, bei Einführung einer Kopfpauschale über Transfers an die Schwächeren den Solidarausgleich zu schaffen, den das bisherige System schafft – schlecht und recht, aber immerhin.
      In der Finanzwissenschaft gibt es einen offenbar vergessenen Grundsatz: ‚Die vorhandene Steuer ist eine gute Steuer’. Wenn man diese Lebenserfahrung auf das Gesundheitssystem überträgt, dann kann man nur dafür werben, die bisherigen Ausgleichsvorgänge zu erhalten und sie gerechter und effizienter zu gestalten.
    3. Damit bin ich bei der Steuerfinanzierung dieser Ausgleichsvorgänge. Das ist recht und gut und schön. Man sollte die Beitragszahler von versicherungsfremden Leistungen für die Familien zum Beispiel entlasten. Ansonsten kann ich aber nur davor warnen, so zu tun, als sei die Steuerfinanzierung das Gelbe vom Ei. Das Geld muss ja auch irgendwo herkommen. Volkswirtschaftlich betrachtet sind auch über Steuern erhobene Mittel eine Belastung. Wenn die Steuern im wesentlichen von der Lohnsteuer und noch mehr von der Mehrwertsteuer kommen, dann wird auch dieser Ausgleich von der großen Mehrheit der Steuerzahlenden gezahlt. Das sind die Lohnsteuerzahler und die Mehrwertsteuerzahler. Die noch stärkere Nutzung der Mehrwertsteuer hat zudem den negativen Nebeneffekt, dass mit steigender Mehrwertsteuer tendenziell die Exportwirtschaft entlastet und damit gefördert wird und die am Binnenmarkt orientierte Wirtschaft tendenziell zusätzlich belastet wird. Das ist das Gegenteil dessen, was wir brauchen.

    Mein Fazit: Es gibt keinen Bedarf zur grundlegenden Reform unserer sozialen Sicherungssysteme. Es gibt keinen Bedarf für einen grundlegenden Systemwandel weg von den solidarischen Elementen dieser Sicherungssysteme. Es gäbe viele Gründe, die Reformarbeit auf einige notwendige Veränderungen zu beschränken und uns ansonsten endlich in Ruhe arbeiten zu lassen. Natürlich wäre damit verbunden, die Fixierung auf die so genannte Stabilität der Beitragssätze aufzugeben. Die Fixierung auf einen festen Beitragssatz macht keinen Sinn. Bei der Rente hat sie nur den Zweck, die Leistungen zu mindern und damit den Verkauf der privaten Vorsorgeprodukte zu fördern. Im Gesundheitswesen ist es ähnlich.

  7. In der Propaganda für Strukturreformen spielt das angebliche demographische Problem eine zentrale Rolle.

    Es wird in der öffentlichen Debatte so getan, als würde die relativ geringe Geburtenrate und das Ansteigen des Altersdurchschnitts, zwangsläufig dazu führen, dass die bisherigen Systeme nicht mehr funktionieren, dass zum Beispiel das Umlageverfahren nicht mehr funktioniert und durch das Kapitaldeckungsverfahren ergänzt werden muss. Gerade bei der Debatte zur Gesundheitsreform spielt der Anstieg der Lebenserwartung diese zentrale Rolle.
    Es ist erstaunlich, welcher Zauber mit diesem Thema in Deutschland betrieben wird. Das Thema eignet sich gut dazu, die Methoden der Gehirnwäsche und die agierenden Verflechtungen nachzuzeichnen. Ich will das stichwortartig tun:

    • Es wird behauptet, die Alterung unserer Gesellschaft habe zur Finanzschwäche der sozialen Sicherungssysteme geführt und zwinge zur Systemumstellung. Tatsächlich haben wir heute eine glänzende Relation von arbeitsfähiger Gesellschaft und Rentnergeneration. Es gibt fast 53 Millionen arbeitsfähige Menschen in Deutschland und nur 15 Millionen über 65 Jahren. Unser Problem ist, dass nur noch circa 26 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen arbeiten. 1990 waren es noch 30 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Dieser Niedergang wurde durch die Subvention von Minijobs beschleunigt.
    • Auch hieran sieht man: Wir haben zu aller erst das erwähnte Beschäftigungsproblem und nicht ein demographisches Problem. Diese einleuchtende Erkenntnis passt den Lobbys nicht. Denn sie ernst zu nehmen, würde nicht Strukturreformen sondern vor allem eine aktive Beschäftigungspolitik verlangen.
    • Die zu erwartende Alterung wird gerade in der gesundheitspolitischen Debatte maßlos übertrieben. Zwischen 1900 und 2000 ist die Lebenserwartung um dreißig Jahre gestiegen, schätzungsweise wird sie bis 2050 noch um weitere sechs bis acht Jahre zunehmen. Dieser Vergleich zeigt schon, wie undramatisch die Veränderungen sind. Außerdem ändert sich die Altersstruktur einer Gesellschaft nicht abrupt sondern in kleinen Schritten. Warum sich die Medizin und Gesundheitspolitik auf diese Änderungen nicht einstellen können soll, ohne das System umzukrempeln, verstehe ich nicht.
    • In der demographischen Debatte wird mit allen Tricks gearbeitet, mit maßlosen Übertreibungen und mit Lügen. Hier ein paar Hinweise auf einige Lügengeschichten:
      1. Es wurde uns auf der Basis einer Studie des so genannten Berlin Instituts erzählt, Deutschland habe mit 1,36 Kindern pro Frau die niedrigste Geburtenrate der Welt und zur Zeit auch die niedrigste seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
        Richtig hingegen ist, dass die Geburtenrate noch in 10 anderen Ländern der EU unter der deutschen und bei fünf anderen Ländern ungefähr gleichauf liegt, weltweit sowieso.
        Richtig ist, dass nicht heute sondern sinnigerweise nach der Wende von Schmidt zu Kohl Mitte der 80ger die Geburtenrate auf 1,28 und damit auf den niedrigsten bisherigen Wert seit 1945 absackte.

        Trotz dieser Faktenlage und trotz der Tatsache, dass schon auf der Frontpage der einschlägigen Seite des Berlin Instituts einer der Finanziers der Studie genannt war, die Deutsche Krankenversicherung AG, wurden die falschen Ziffern in unzähligen Sendungen des Hörfunks und des Fernsehens und Artikeln der Printmedien weiterverbreitet.

      2. In den letzten Jahren ist uns immer wieder erzählt worden, die Akademikerinnen blieben zu 40% kinderlos.
        Richtig ist, dass man die statistische Erhebung im Microzensus unterlassen hat. Schätzungsweise liegt die Akademikerinnen-Kinderlosigkeit bei ungefähr 20%. Die penetrante Vermittlung der falschen Zahlen war jedoch eine wichtige Vorbereitung zur Einführung des Elterngeldes. Ein weiterer Beleg für den engen Zusammenhang von öffentlicher Meinungsbildung und politischer Entscheidungsfindung.
      3. Auch die Robert Bosch-Stiftung beschäftigt sich mit Demographie. Eine von ihr finanzierte Kommission unter dem Vorsitz von Kurt Biedenkopf und unter Beteiligung des laut Bild-Zeitung besten Ökonom Deutschlands Hans-Werner Sinn und der Hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann hat nicht nur die abstruse Behauptung aufgestellt, jedes Kind bringe uns im Laufe seines Lebens 77000 € netto, die Kommission hat sich auch zur so genannten klassischen Bevölkerungspyramide geäußert.

        Weiten Kreisen unseres Volkes und gerade auch dem gutausgebildeten Bürgertum ist vermittelt worden, die Bevölkerungspyramide mit einem breiten Fuß und sich kontinuierlich wie eine Pyramide verjüngender Spitze sei etwas Erstrebenswertes. So ist es in dem Bericht der so genannten Biedenkopf Kommission der Robert Bosch-Stiftung dokumentiert, die Ende des Jahres 2005 veröffentlicht wurde.

        Als medizinisch versierte Zeitgenossinnen/en leuchtet Ihnen bei kurzem Nachdenken ein, dass eine solche Pyramidenform nur bei hoher Säuglings-, hoher Kinder- und hoher Erwachsenensterblichkeit zu Stande kommen kann.
        Aber Millionen Deutsche glauben die gängige Version der Interpretation. Sie sind Opfer unsere Eliten. Diese sind zwar Mittelmaß in der Sache aber eben Meister in der Kunst der Verführung.

  8. Das demographische Problem wird vor allem von der Versicherungswirtschaft zum großen Thema gemacht. Sie hat ein großes Interesse an der Dramatisierung. Wenn es ihr zum Beispiel gelingt, nur 10% der bisherigen Beiträge der gesetzlichen Rente in Prämien für Privatvorsorge um zu lenken, dann bringt das einen Umsatzzuwachs von rund 15 Milliarden €. Ein weiteres ertragreiches Geschäftsfeld ist die Verschiebung von gesetzlichen Krankenkassen zu den privaten.

    Es geht um Milliarden. Jedenfalls meinen die Akteure, die dabei erzielten Gewinne würden reichen, um eine Heerschar von Wissenschaftlern, Medien und Politikern zu Einflussagenten der Finanzindustrie zu machen. Die Professoren Raffelhüschen und Rürup gehören dazu, wie schon die Homepage von MLP mit der Ankündigung ihrer Vorträge zeigt.
    Außer Raffelhüschen sind noch Hans-Werner Sinn, Meinhard Miegel, Axel Börsch-Supan, und das Mitglied des Sachverständigenrates Beatrice Weder di Mauro in Diensten der Versicherungswirtschaft, von Banken und von Finanzdienstleistern. Wenn Sie auf PKV Ratgeber.de klicken, dann erfahren Sie einiges über einen Expertenbeirat im Dienste der „Informationsoffensive“ der PKV:

    Expertenbeirat
    Die Continentale ist als Initiator allein verantwortlich für die Inhalte der Informations-
    offensive. Dabei hat sie sich jedoch der Unterstützung namhafter Experten versichert: Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke, Prof. Dr. Bernd Hof, Dr. Peter Ollick, Prof. Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg, Arno Surminski und Prof. Dr. Jürgen Wasem. Mit Ihnen zusammen werden u.a. Inhalte, Ausrichtung des PKV-Forums und der verschiedenen Expertenbroschüren erarbeitet und abgestimmt.


    Was wir angesichts dieser betrüblichen Fakten wirklich nicht mehr glauben sollten: dass es bei uns noch eine unabhängige Wissenschaft gibt.

    Es gab immer abhängige Professoren, das weiß ich sehr wohl, und die Mediziner wissen es sowieso. Aber einen so schamlosen Gebrauch der wissenschaftlichen Reputation zur Mehrung des privaten Nutzens hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten. Und das auch noch zum Zwecke der Zerstörung wichtiger sozialen Errungenschaften.

  9. Die Wissenschaft kann jedoch so unbehelligt als Zeuge für den Reformbedarf nur deshalb aufgerufen werden, weil die anderen Partner dieses Spiel mitspielen.
    Wenn die Politik zum Beispiel mit Hinweis auf die Abhängigkeit Bert Rürups von finanziellen Interessen davon absähe, ihn als Berater und Mittler für die Gesundheitsreform anzurufen und aufzurufen, oder wenn sie ihn gar als Vorsitzenden des so genannten unabhängigen Sachverständigenrates wegen Interessenverflechtung abberufen würde, dann wäre es um seinen Ruf geschehen.
    Diesen Schritt unternimmt die Politik aber nicht. Leider lässt dies darauf schließen, dass die einflussreichen Politiker mit den gleichen Interessen verflochten sind.
  10. Auch die Medien spielen dieses Spiel mit. Sie laden die genannten Herren nach wie vor in ihre Talkshows ein. Völlig unberührt von den Erkenntnissen über die Interessengeflechte. Die großen Medien werden ihrer Aufgabe als kritische Begleiter nicht mehr gerecht. Das ist eine entscheidende Veränderung gegenüber früher. Den Ausfall des „Spiegel“ als Organ der Aufklärung, das Wegbrechen von „Panorama“ zum Beispiel, die teilweise Anpassung der öffentlich-rechtlichen Sender an die kommerziellen – das sind gravierende Veränderungen.
  11. Die Lügengeschichte vom Reformbedarf wird systematisch ausgedacht, erzählt und verbreitet. Politik und Publizistik, Wirtschaft und Wissenschaft, Beratungsunternehmen und PublicRelations-Agenturen spielen dabei geregelt und verabredet zusammen. Zentrale Rollen in diesem Netzwerk haben die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und vor allem die Bertelsmann Stiftung übernommen. Die Bertelsmann Stiftung hat ihr Netz wie eine Krake über unser Land gelegt. Sie beeinflusst die Politik massiv – und zwar nicht nur in der Gesellschaftspolitik sondern auch pro militärischer Lösungsversuche von Konflikten – und dies ohne demokratische Legitimation.
  12. Wer auf diese Netzwerke hinweist, stößt auf den Vorwurf, ein Verschwörungstheoretiker zu sein. Der Vorwurf ist seltsam realitätsfern. Die Realität ist nämlich um vieles schlimmer als es sich der phantasievollste Verschwörungstheoretiker ausdenken könnte.
    Achten Sie einmal darauf, wie oft Ihnen, wenn Sie diese Vorgänge genauso wie etwa die gezielte Manipulation zur Vorbereitung von Kriegseinsätzen erwähnen, entgegengehalten wird, sie seien ein Verschwörungstheoretiker. Was mussten sich die Gegner des Golf- und des Irak Krieges nicht alles an Verschwörungstheorie-Vorwürfen anhören.
  13. Wenn man trotz dieser düsteren Analyse auf Abhilfe zu sinnen gedenkt, dann denkt man in unseren Kreisen unwillkürlich an das, was man kritisches Bürgertum nennen könnte.
    Gibt es das noch?
    Bei meinen Analysen bin ich immer wieder einem sonderbaren Befund begegnet: In der Reformdebatte wird sichtbar, dass die eigentlichen Eliten, also die gutausgebildeten Zeitgenossen, mindestens so sehr Opfer von Manipulation und Irreführung werden wie das weniger gebildete Volk. Das hat etwas damit zu tun, dass das Bildungsbürgertum eher geneigt ist, sich eine Meinung zu bilden – über Lohnnebenkosten, über Demographie, über das Normalarbeitsverhältnis, über die Produktivität und dass uns die Arbeit ausgeht, angeblich. Die große Mehrheit unseres Volkes maßt sich in der Regel darüber kein Urteil an. Die gebildeten Bürger schon.
    Da aber die Reformdebatte schwergewichtig um wirtschaftliche Zusammenhänge kreist und die bildungsbürgerlichen Gruppen wenig in wirtschaftlichen Zusammenhängen zu denken vermögen und dafür auch nicht ausgebildet wurden, sind sie in der Regel darauf angewiesen, sich an meinungsführenden Personen und Gruppen zu orientieren. Da die Medien, an denen sie sich normalerweise orientieren, zunehmend von den heutigen Reformern geprägt sind, übernehmen auch Menschen, die sich für kritisch halten, mehr und mehr die gängige Version der Wirtschafts- und Gesellschaftsbetrachtung. Mit wenigen Ausnahmen.
    Es bleibt uns dennoch nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass in der Arbeitnehmerschaft und innerhalb des Bürgertums wieder Gruppen und Personen heranwachsen, die Lust am Zweifeln haben, sich jedenfalls ungern etwas vormachen lassen.
  14. Ich bin dankbar dafür, dass Sie mich eingeladen haben, weil ich unter Ihnen viele vermute, die diese Lust verspüren. Aufgrund meiner Erfahrung mit den beiden Büchern und mit einem Medium, das ich zusammen mit einem Freund geschaffen habe, den NachDenkSeiten, erlaube ich mir, etwas Hoffnung zu machen.
    Die Reaktion unserer Leser ist überaus ermutigend.
    Eine Gruppe schreibt uns, sie hätten schon begonnen, zu glauben was ihnen an Lügengeschichten aufgetischt wird. In den NachDenkSeiten und meinen beiden Büchern fänden sie jetzt eine Orientierung dafür, sich vor dem Zugriff der neoliberalen Agitation zu schützen.
    Eine andere Gruppe schreibt uns, sie hätten schon an sich gezweifelt, weil sie den täglichen Unsinn nicht nachvollziehen können. Sie wären sich schon wie Exoten vorgekommen. Jetzt wüssten sie, dass sie nicht alleine sind.

    Es gibt viele Menschen mit dieser Erfahrung und mit der notwendigen Energie zu zweifeln, kritisch zu fragen und selbst aufklärend aktiv zu werden.
    Ich bin gerne nach Nürnberg gekommen, weil ich in den meisten von Ihnen Partner für diesen Versuch sehe. Wo denn sonst sollte man suchen und finden, wenn nicht in Ihrer so engagierten und mutigen Gruppe.


[«1] Dieser Orwell-Satz wurde der rote Faden meines Buches „Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“

[«2] Interview in der „Wirtschaftswoche“ vom 9.September 2004 auf die Frage nach den Perspektiven für Deutschland.


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