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Titel: Minijobs: 30 Jahre falsche Beschäftigungspolitik und eine fatale Weichenstellung

Datum: 28. Oktober 2014 um 12:09 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Soziale Gerechtigkeit
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„Zahl der Minijobber hat sich verdoppelt“, so titelte Der Tagesspiegel und mit ihm eine Reihe anderer Zeitungen am vergangenen Freitag. Gemeint war, das Ende 2013 rund 2,35 Millionen Menschen einem Minijob als zusätzlichem Nebenjob nachgegangen waren, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die Zahl der insgesamt geringfügig Beschäftigten habe im Dezember 2013 bei knapp 7,65 Millionen gelegen. Die vorab veröffentlichten Zahlen stammen aus einer noch nicht allgemein zugänglichen Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen zur Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung.

Was für ein Aufreger. Als wären die Minijobs plötzlich wie Pilze aus dem Boden geschossen. Dabei ist die geringfügige Beschäftigung nicht erst seit heute die nach der Teilzeitbeschäftigung am weitesten verbreitete „atypische“ Beschäftigungsform in Deutschland. Von Markus Krüsemann.

Schon seit 2011 gehen mehr als 7,4 Millionen Menschen einer geringfügigen Beschäftigung nach, für über 2,5 Millionen von ihnen ist der Minijob ein Zweitjob, Tendenz steigend. Das ist zwar lange bekannt, aber das Thema ist in der an Amnesie leidenden Presse ein medialer Wiedergänger ersten Ranges, auch wenn der Neuigkeitswert gegen Null tendiert – meldete doch zum Beispiel die Saarbrücker Zeitung online bereits am 05.10.2012 und auch kürzlich (25.03.2014) erst, dass die Zahl der Beschäftigten mit einem Minijob als Nebenjob sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt habe.

Solche regelmäßig wiederkehrenden Rekordmeldungen sorgen allenfalls kurzfristig für Empörung. Der eigentliche Skandal wird indes nicht thematisiert. Er liegt darin, dass die ständig steigende Zahl der Minijobber die Folge einer seit mehr als dreißig Jahren verfehlten Beschäftigungspolitik– und, ganz besonders, das Resultat einer fatalen Weichenstellung im Jahr 2003 ist.

Die Geschichte der geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnisse beginnt im Jahr 1977. Mit Einführung des Sozialgesetzbuches SGB IV wurde die Möglichkeit geschaffen, einer abgabenbegünstigten geringfügigen Beschäftigung nachzugehen: wer weniger als 15 Stunden pro Woche arbeitete, der wurde von der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen befreit. Auf die schnell wachsende Nachfrage nach solchen Jobs wie auch auf die bald einsetzende Kritik an dieser Beschäftigungsform reagierte die Politik in den 1980er und 90er Jahren mit einer Reihe von Gesetzesinitiativen. 1981 etwa wollte die damalige sozialliberale Regierungskoalition die Minijobs gleich ganz abschaffen, scheiterte damit jedoch am Widerstand der Verbände-Lobby und konnte am Ende nur eine Verdienstobergrenze von 390 DM durchsetzen. Erst 1999 brachte die rot-grüne Bundesregierung die nächste, wieder nur halbherzige Reform mit dem Ziel durch, eine zu große Ausweitung der Minijobs mit einer Reihe von Auflagen zu begrenzen. So wurde u.a. die Ausübung eines Minijobs als Nebenjob unterbunden, und neben die prinzipiell weiterbestehende Sozialversicherungsfreiheit trat die Erhebung einer Pauschalsozialabgabe. Die Politik der zaghaften Eindämmung war allerdings kaum erfolgreich, die Zahl der Minijobber stieg. Wurden 1987 noch ca. 2,8 Mio. geringfügige Beschäftigungsverhältnisse registriert, so überschritt ihre Zahl im Sommer des Jahres 2000 erstmals die Vier-Millionen-Marke.

Eine ebenso gravierende wie fatale Änderung trat 2003 ein, als die damalige rot-grüne Bundesregierung meinte, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt durch Beschäftigungsausweitung im Niedriglohnbereich „lösen“ zu können. Das Agenda-Vorhaben, mehr Menschen um jeden Preis in irgendeine Form von Job zu bringen, führte zu einem radikalen Politikwechsel. An die Stelle der Eindämmungspolitik trat die offensive Förderung geringfügiger Beschäftigung. Mit dem 2. Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde die sozialversicherungsrechtliche und steuerliche Behandlung der Minijobs ab dem 01.04.2003 weitgehend liberalisiert. So wurde nicht nur die Verdienstobergrenze von 325 auf 400 Euro angehoben, auch die nach altem Recht geltende Beschränkung der wöchentlichen Arbeitszeit auf maximal 15 Stunden wurde abgeschafft. Zudem wurde auch wieder die Ausübung einer geringfügig entlohnten Beschäftigung neben einer versicherungspflichtigen Hauptbeschäftigung ermöglicht.

Rot-Grün hatte damit einen bis heute anhaltenden Boom bei den Minijobs ausgelöst. Bereits im ersten Jahr nach der weitrechenden Deregulierung stieg die Zahl der Minijobber im Haupt- und Nebenerwerb von ca. 4,83 Mio. im März 2003 um etwa. 1,37 Mio. bzw. 28 Prozent auf 6,21 Mio. im März 2004. Mittlerweile gibt es mehr als 7,5 Millionen Minijobber, und das Ende des Wachstums ist noch nicht erreicht.

Eine politische Kehrtwende der Großen Koalition ist nicht in Sicht, obwohl längst nicht mehr nur den Kritikern klar geworden sein dürfte, dass Minijobs zu Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zulasten der Beschäftigten führen, dass sie falsche Beschäftigungsanreize setzen, dass sie die Ausweitung von Niedriglohnbeschäftigung befördern, und dass sie, vor allem für Frauen, eine beschäftigungspolitische Sackgasse darstellen.

Dass sich jetzt ausgerechnet die Grünen in Gestalt ihrer arbeitsmarktpolitischen Sprecherin, Brigitte Pothmer, für eine „Reform“ (nicht Abschaffung) der Minijobs stark machen, das ist selbst ein starkes Stück, hat die Ökopartei doch zusammen mit der SPD die heute kritisierte Misere erst verursacht.

Frau Pothmer selbst kann kein Wendehals-Vorwurf gemacht werden. 2003 saß sie noch für die Grünen im niedersächsischen Landtag. Erst mit der Wahl 2005, bei der die Grünen in die Opposition geschickt wurden, ist sie Mitglied des Bundestages und zugleich Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik der Bundestagsfraktion geworden. Als solche hält sie jetzt eine Reform der Minijobs für dringend erforderlich. Ihre staatliche Förderung, die den Trend zu immer mehr Kleinst-Jobs unterstützt, müsse beendet werden. Auch im eingangs erwähnten Tagesspiegel-Artikel warnt sie vor einer „Niedriglohnfalle“ bei den Minijobs und fordert eine „umfassende Reform“.

Über die Fehlentwicklung bei den Minijobs hat Frau Pothmer lange Zeit geschwiegen. Erst im Januar 2010, als vielen wohl nicht mehr so präsent war, wer für die Deregulierung der Minijobs verantwortlich ist, bezieht sie erstmals Stellung: Minijobs gehören abgeschafft, jede weitere Lockerung der Grenzen für Minijobs sei Wahnsinn, sagt sie. Was man von ihr aber auch gerne gehört hätte, das wäre ein Statement, in dem die Grünen sich selbstkritisch zu ihrer Verantwortung bekennen.


Quellen:


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