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Titel: Du bist Deutschland – zu teuer!

Datum: 27. September 2010 um 9:24 Uhr
Rubrik: Bildung, Bildungspolitik, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Die Pressemeldung des Bundesbildungsministeriums vom 8. September 2010 titelt: „Das Deutschlandstipendium kommt!“. Und das tut es denn auch: Wider alle Argumente und Kritik hat in Zeiten vermeintlich knapper Kassen der Bundesrat am 9. Juli diesen Jahres einem entsprechenden Gesetzentwurf der schwarz-gelben Bundesregierung unter der geänderten Voraussetzung zugestimmt, dass der Bund allein den gesamten öffentlichen Finanzierungsanteil übernimmt. Eine Kritik von Jens Wernicke

Das Gesetz sieht vor, dass das so genannte „Deutschlandstipendium“ ab dem Sommersemester 2011 an den deutschen Hochschulen mit rund 10.000 Stipendiatinnen und Stipendiaten startet. Der Bund soll dabei 150 Euro pro Stipendium und Monat zahlen, wenn die jeweilige Hochschule den gleichen Beitrag von privater Seite einwirbt. “Mit dem Deutschlandstipendium stärken wir die Vernetzung der Hochschulen mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld und legen den Grundstein für den Aufbau einer Stipendienkultur”, betonte Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Mittelfristig sollen acht Prozent der Studierenden in Deutschland, also 160.000 junge Frauen und Männer, gefördert werden.

Das Gesetz, dessen Perspektive, Funktion und Kontext sind dabei in mehrfacher Hinsicht skandalös. Ganz grundsätzlich ist diesbezüglich beispielsweise zu konstatieren, dass:

  1. Stipendien an sich ein feudales Instrument sind, dass in diesem Fall einen Rechtsanspruch auf gute Bildung für alle durch Günstlingswirtschaft in persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen für (mindestens) wenige ersetzen soll und wohl auch wird;
  2. die Regierung hier vollabsichtlich nur die vermeintliche „Spitze“ fördert, in der Breite aber spart, indem sie eine notwendige Erhöhung des BAföG verschleppt. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass, ersparte man uns das „Deutschlandstipendium“, das Geld für eine BAföG-Erhöhung auch im knappen Haushalt vorhanden wäre;
  3. das Konzept der Regierung konzeptimmanent darauf abzielt, Stipendien einzig dort zu generieren, wo die Wirtschaft kräftig und zur Beteiligung bereit ist, zum anderen aber auch, dieser mehr und mehr Verfügungsgewalt über Menschen und Studienschwerpunkte, wenn nicht gar -inhalte, zu verschaffen; Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse war sozusagen gestern – heute geht’s um: „Humankapital“ und „Biomacht“ (Foucault);
  4. die Idee des Konzeptes insofern imperialistisch ist, als dass dasselbe von Anfang an darauf abzielt, mittelfristig nicht nur die bisherige „Begabtenförderung“ zu ersetzen, sondern wohl auch eine Alternative zum BAföG und somit der staatlichen Ausbildungsförderung als solcher aufzubauen. Nicht nur aber auch aus diesem Grund ist das „Deutschlandstipendium“ daher als dialektische (Kampf-)Ansage zu verstehen. Den Geförderten ruft man in Bertelsmannschen Sinne zu: „Du bist Deutschland!“, wie schon Deine Eltern zuvor. Dem „Rest“ der Studierenden, auch in der Perspektive immerhin nach wie vor rund 2 Millionen, hingegen: „Du bist Deutschland zu teuer!“ – und für Deine „Nicht-Leistung“ überdies selbst verantwortlich;
  5. überdies aber ganz generell ein solches oder anderes „Leistungs“-Stipendienprogramm dem Ziel der Elitenbildung und -legitimation dient und insofern auch als Nebenher zu einer guten Breitenförderung einen Angriff auf die soziale Gleichheit darstellt. Nicht umsonst ist auf der gemeinsamen Homepage aller Begabtenförderwerke, zu denen auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung zählen, zu lesen: „Für die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaft ist nicht allein die Beherrschung rein fachspezifischer Gegenstände maßgeblich, für die ein Zuwachs an Expertenwissen ausreicht. Eliten […] lassen sich in einem demokratischen Gemeinwesen […] nicht als bloße Funktionseliten verstehen, sondern bedürfen der Rückbindung an Wertmaßstäbe. Verantwortungseliten müssen zusätzlich die Fähigkeit haben, sich mit Phänomenen wie wachsender Unsicherheit und Intransparenz auseinanderzusetzen und mit zunehmender Komplexität, Vernetzung und Dynamik umgehen können.“;
  6. dieses bedarfsunabhängige Stipendium auch insofern einen Paradigmenwechsel darstellt, als dass der Staat mittels der so genannten Begabtenförderwerke bisher bedarfsabhängig förderte und somit den wenigen Armen in der Förderung auch den BAföG-Höchstsatz, den Vermögenden unter ihnen jedoch „nur“ das Büchergeld in Höhe von 80 Euro monatlich zugestand. Die neue Praxis bedeutet nun: Selbst wenn Benachteiligte in den Genuss eines Stipendiums gelangen, erhalten sie nur noch 300 Euro pauschal – die Privilegierten aber auch, sozusagen als 300-Euro-Taschengeld auf den Unterhalt von Papa und Mama obenauf;
  7. der Verweis auf „Leistung“ als einzigen Indikator für Förderwürdigkeit die Kodifizierung sozialer Selektion darstellt, ist die vermeintlich attestierte „Leistung“ doch eben ein Messen an bürgerlichen Werten, dass stets und ständig, zumindest in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle, Kindern bürgerlicher Herkunft aufgrund ihres kulturellen Kapitals eine höhere „Leistungsfähigkeit“ attestiert und somit den Privilegierten bescheinigt, sich ihre qua Herkunft und materiellem Besitz vorhandenen Privilegien verdient weil – mittels Leistung – erarbeitet zu haben. Es gibt insofern kaum eine bessere Möglichkeit, fast ausschließlich den Kindern der Besitzendem im Lande mehr Geld aus Steuermitteln zur Verfügung zu stellen, als dies zu tun, indem man einen unfairen Leistungswettbewerb, der das Vorhandensein ihrer Privilegien negiert, organisiert und den Siegenden schließlich eine hochdotierte Prämie zugesteht;
  8. ein Ausbau von Stipendien vor dem Hintergrund immer größer werdender gesellschaftlicher Armut auf der einen und privaten Reichtums auf der anderen Seite per se eine Funktion erfüllt, nämlich die der Legitimierung wachsender sozialer Ungleichheit auf der biologistischen Folie vermeintlicher „Begabungsgerechtigkeit“, die letztlich darauf rekurriert, dass im Kapitalismus sich die Reichen ihre Stellung vermeintlich selbst erarbeitet und die Armen ihr Elend eben selbst verschuldet hätten – und das aus dieser Sicht, auch und insbesondere in sich selbst als links verstehenden Kreisen, eines akut ansteht: Kritik der Leistungs- und Begabungsideologie.

In meinen Onlineartikeln zu genereller Kritik an Leistungsmessung im Bildungssystem, zu allgemein notwendiger Stipendienkritik unabhängig vom nun neu Geplanten sowie zum klassistisch-sozialdarwinistischen Bildungsverständnis auch vieler „Linker“ habe ich mich diesbezüglich um Aufarbeitung bemüht.

Dieser Kommentar erscheint voraussichtlich in der kommenden Ausgabe der tendenz.


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