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Titel: So wird unseren Studierenden das angebotsorientierte Wirtschaftsdogma eingebläut

Datum: 10. Januar 2006 um 17:34 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Ideologiekritik, Strategien der Meinungsmache, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Hans-Werner Sinn predigt im „Diskussionsforum 2005“ seines ifo-Institutes seine ökonomische Weltsicht. Sebastian Gechert, ein Leser der NachDenkSeiten, der Volkswirtschaftsstudent ist, stellte uns seinen Disput mit „Deutschlands bestem Ökonomen“ (BILD) zur Verfügung. Ein lesenswertes Beispiel dafür, welcher Un-Sinn unseren Studierenden eingetrichtert wird.

Der nachfolgend wieder gegebene Disput ist ein wunderschöner Beleg für die schlichten Annahmen und dogmatischen Unterstellungen, deren sich die herrschende angebotsorientierte ökonomische Lehre bedient:
Man unterstelle als Grundannahme ein „allgemeines Gleichgewicht einer Volkswirtschaft“. Ein Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt in Form von Arbeitslosigkeit ergibt sich dann, „wenn die Löhne über ihrem markträumenden Niveau sind.“ Man behaupte, dass es „überhaupt nicht klar“ sei, „wie höhere Löhne auf die Nachfrage wirken“ und stelle apodiktisch fest, „dass hohe Löhne Binnennachfrage schaffen, ist nicht richtig“. Dagegen behaupte man umgekehrt, dass „Umverteilung von Kaufkraft zu Lasten der Arbeitnehmer und zu Gunsten der Unternehmer zu Gunsten der Unternehmer“ zu mehr Investitionen führen, denn „wenn Unternehmer sparen, investieren sie in der Regel“. Und schließlich hilft dann der Glaube, dass das Angebot sich seine Nachfrage schafft. So einfach funktioniert diese Ökonomie und die Lösung aller Probleme ist dann die Senkung der Löhne.

Von theoretische Einwänden oder Fakten des Studierenden lässt sich einer der meistzitierten Gralshüter der herrschenden ökonomischen Glaubenslehre nicht beeindrucken. Er folgt dem Leitsatz aller Ideologen: Um so schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie meiner Theorie nicht entspricht.

Eigene Beiträge und Prof. Sinns Antworten im ifo-Diskussionsforum 2005

25.11.05 Gechert, Sebastian, Chemnitz, [email protected]
Sehr geehrter Prof. Sinn, wenn ich mir die Freiheit erlauben darf Sie zu zitieren: “[…]Die Löhne werden durch Angebot und Nachfrage bestimmt und fallen dementsprechend. Dann wächst die Beschäftigung, bis alle beschäftigt sind. Mit der Beschäftigung wächst die Produktion und im gleichen Umfang auch das Einkommen resp. die Kaufkraft. Die Deutschen sind reicher.[…]” Sie haben hier die klassische Mikroökonomie sehr treffend beschrieben. Leider ist der Arbeitsmarkt aber kein Gütermarkt. Wir haben es hier mit einem Kreislaufzusammenhang zu tun, wie er auf gesamtwirtschaftlichen Märkten vorherrscht. Eine Senkung der Löhne bis zum “Marktgleichgewicht” führt zu geringerer Kaufkraft, die öffentliche Debatte (wie auch Ihre Bücher) in diese Richtung schürt Ängste und sorgt somit für Kaufzurückhaltung. Die Vergangenheit zeigt auch, dass eine Reallohnsenkung, wie sie in den letzten Jahren bereits eingesetzt hat nicht dazu führt, dass die Beschäftigung wächst „[…]bis alle beschäftigt sind.[…]“ Das Gegenteil ist der Fall: Durch Lohnsenkung geht es den Menschen und der Volkswirtschaft schlechter, lediglich der Verteilungskampf wird weiter zugunsten der Herrschenden Klasse verschoben.

Antwort Prof. Sinn:
Sehr geehrter Herr Gechert, Sie irren sich. Das Resultat, dass Lohnsenkungen die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhen, ist auch insbesondere im allgemeinen Gleichgewicht einer Volkswirtschaft gegeben, und selbstverständlich berücksichtigt es die Kreislaufzusammenhänge. Dass eine Senkung der Löhne zu geringerer Kaufkraft führt, wie Sie schreiben, ist natürlich nicht richtig. Sie führt zu einer Umverteilung von Kaufkraft zu Lasten der Arbeitnehmer und zu Gunsten der Unternehmer, das ist alles. Die Frage ist allenfalls, ob die Unternehmer so viel mehr nachfragen, wie die Arbeitnehmer weniger nachfragen. Sie kann bejaht werden, denn die Lohnsenkung erhöht die Rentabilität der Investitionen, so dass die Unternehmer nicht nur mehr Geld haben, sondern es auch attraktiv finden, es für den Kauf von Investitionsgütern auszugeben, um dadurch noch größere Gewinne zu machen. Richtig ist, dass es zu Umverteilungsgewinnen “der herrschenden Klasse” kommt, wie Sie sagen. Das liegt daran, dass die Arbeiter durch die ex-kommunistischen Niedriglöhner Konkurrenz bekommen haben und die Unternehmer für ihr Kapital weltweit viel höhere Renditen bekommen. Ändern kann man das kaum, jedenfalls nicht durch eine Fortsetzung der Hochlohnpolitik in Deutschland. Die hohen Renditen auf den Weltkapitalmärkten sind von uns kaum beeinflussbar. Die Hochlohnpolitik führt deshalb zu einer Fortsetzung der Kapitalflucht, die wir schon heute zu beklagen haben. Deutschland ist das Land mit der niedrigsten Nettoinvestitionsquote unter allen Industrieländern, und zugleich hat es einen Rekord-Kapitalexport. Im Übrigen: die Reallohnsenkung der letzten Jahre ging mit einem Anstieg der realen Lohnkosten einher, und nur die sind für die Unternehmer relevant. Aber selbst, wenn die realen Lohnkosten gefallen wären: Ein paar Jahre Zurückhaltung bei der Steigerung der Löhne kann nicht 30 Jahre exzessiver Steigerungen kompensieren, wie wir sie seit 1970 hatten. Deutschland hat nach Dänemark mit 27,80 Euro die höchsten Stundenlohnkosten für Industriearbeiter auf der ganzen Welt. Viele Grüße Ihr Hans-Werner Sinn

28.11.2005 Gechert, Sebastian, Chemnitz, [email protected]
“Die Frage ist allenfalls, ob die Unternehmer so viel mehr nachfragen, wie die Arbeitnehmer weniger nachfragen. Sie kann bejaht werden[…]” Diese Aussage kann so nicht stehen bleiben, denn dann müsste man bei Einkünften aus Lohnarbeit von der selben Sparquote ausgehen, wie bei Hochverdienern. Dies wird in einfachen Rechenmodellen häufig vorausgesetzt, ist aber falsch. Wenigverdiener sparen weniger an, als Besserverdiener, folglich ist der Rücklauf in den Wirtschaftskreislauf dort wesentlich größer. Geringverdiener haben sogar z.T. negative Sparquoten, eine Steigerung dieser Löhne würde folglich in vollem Umfang in den Kreislauf zurückfließen, was bei einer Zielsetzung “gesellschaftliche Wohlfahrt” nur gut sein kann. Dieses Ziel scheint für Sie aber nicht wichtig zu sein. “[…]und zugleich hat es einen Rekord-Kapitalexport[…]” Der Rekordkapitalexport geht mit unserem Rekordaußenbeitrag einher, schließlich müssen die exportierten Waren auch bezahlt werden. Dies ist eine saldenmechanische Notwendigkeit. “Ein paar Jahre Zurückhaltung bei der Steigerung der Löhne kann nicht 30 Jahre exzessiver Steigerungen kompensieren, wie wir sie seit 1970 hatten.” Die Lohnsteigerungen sind eine Errungenschaft unserer sozialen Marktwirtschaft. Sie gingen damals außerdem mit einer größeren Steigerung des BIP einher. Globalisierung gab es auch damals schon. “Deutschland hat nach Dänemark mit 27,80 Euro die höchsten Stundenlohnkosten für Industriearbeiter auf der ganzen Welt.” Die hohe Qualität deutscher Produkte sollte auch dementsprechend entlohnt werden. Wozu sollte man auch in einen Konkurrenzkampf mit Billiglohnländern treten. Dies wäre ein gesellschaftlicher Rückschritt. Investitionen in Bildung und Forschung und nicht der derzeitige Rückschritt auf allen Ebenen könnten uns dies auch weiter ersparen. Viele Grüße Sebastian Gechert

Antwort Prof. Sinn:
Sehr geehrter Herr Gechert, Sie haben völlig Recht, dass Unternehmer eine sehr viel höhere Sparquote haben. Der Punkt ist nur, dass nicht nur Konsum Nachfrage ist, sondern genauso Investitionen. Wenn Unternehmer sparen, investieren sie in der Regel. Statt ihrer Frau einen Pelzmantel zu kaufen, was Konsum wäre, kaufen sie ihren Arbeitern ein neues Fabrikgebäude oder eine neue Maschine. Mit freundlichem Gruß Ihr Hans-Werner Sinn

29.11.05 Gechert, Sebastian, Chemnitz, [email protected]
Sehr geehrter Prof. Sinn. Es ist richtig, dass die Unternehmer Zwecksparen betreiben müssen, um später Investitionen tätigen zu können. Andererseits sieht man von diesen Investitionen recht wenig. Wie Sie bereits gesagt haben, ist die Nettoinvestitionsquote in Dtl. sehr niedrig. Dies liegt aber vor allem daran, dass die deutsche Produktionskapazität nur zu ca. 80% ausgelastet ist. Warum sollte man dann noch mehr Maschinen/Anlagen kaufen, wenn sowieso schon einige still liegen. Auf der anderen Seite fehlt es den Niedriglöhnern und Arbeitslosen an den einfachsten Dingen. Dort ließe sich sehr leicht eine Nachfragesteigerung erreichen. Die angebotsfreundliche Politik der letzten Jahre führt also in die falsche Richtung. Steuersenkungen, verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten usw. versickern zu großen Teilen in den Taschen der Teilhaber, die sich dann wirklich Pelzmäntel für ihre Frau kaufen.

Antwort Prof. Sinn:
Sehr geehrter Herr Gechert, nein, es geht nicht um das Zwecksparen. Wenn ein Unternehmer investiert, spart er! Sparen und Investieren ist dann dasselbe. Die Ersparnis ist dann selbst unmittelbar Nachfrage. Natürlich kann auch ein Unternehmer sparen, indem er nicht investiert, sondern sein Geld am Kapitalmarkt anlegt. Aber dann kann jemand anderes die Ersparnis als Kredit aufnehmen und damit Investitionsgüter kaufen. Die Investitionen sind sehr gering, weil die Lohnkosten sehr hoch sind. Das ist der Hauptgrund. Die Firmen verkaufen doch gut. Der Export läuft prächtig. Nur investiert man zunehmend auch in ausländische Fabriken, die die Vorleistungen liefern. Mit freundlichem Gruß Ihr Hans-Werner Sinn

08.12.2005 Gechert, Sebastian, Chemnitz, [email protected]
Sehr geehrter Prof. Sinn, ich beziehe mich noch einmal auf meinen Beitrag vom 29.11. und Ihre Antwort darauf: Dass das Sparen gesamtwirtschaftlich dem Investieren spiegelbildlich entgegen steht, ist richtig. Jedoch trifft dies nur auf eine Betrachtung ex post (also im Nachhinein) zu. Bei der Planung der Unternehmer kann das keine Rolle spielen. Schließlich beschafft sich der Bäckermeister keinen neuen Ofen, nur weil er sieht, dass auf der anderen Straßenseite jemand sein Geld zur Bank schafft. Nein, die Investition drückt sich hier in einer Bestandserhöhung am Ende der Wirtschaftsperiode aus. Der Bäcker hätte jetzt 3 Sack Mehl mehr auf Lager als im Vorjahr, weil die Leute das Geld lieber zur Bank geschafft haben, als sich noch ein paar Brötchen mehr zu kaufen. Nur aus diesem Blickwinkel betrachtet, entspricht das Sparen dem Investieren!(Das Beispiel klingt zwar etwas belustigend, ist aber durchaus ernst zu nehmen). Somit kann Sparen auch keine unmittelbare Nachfrage sein. Sie ist höchstens mittelbare Nachfrage , indem ein anderer das Geld als Kredit aufnimmt (wie Sie es richtig beschrieben haben). Noch etwas zum Thema Löhne: Wenn die Firmen so gut verkaufen, warum haben wir dann so ein angeblich großes Problem mit den Lohnkosten? Unterstellt man, dass die Unternehmer rational handeln, verkaufen sie zu höheren Preisen, als ihre Stückkosten. Wenn sie dann auch im Ausland gut verkaufen, scheinen diese Preise nicht zu hoch zu sein, um “dem Druck der Globalisierung” standhalten zu können. Und wenn man dann noch sieht, dass der deutsche Außenbeitrag stark positiv ist (siehe Exporte und Importe in der Tabelle: http://www.destatis.de/basis/d/vgr/vgrtab1.php) muss diese Leistung auch trotz der “teuren” deutschen Arbeiter erwirtschaftet worden sein. Der Außenhandel ist also stark trotz hoher Lohnkosten. Woran es fehlt, damit das Klagen aus allen Mündern aufhört, ist die inländische Nachfrage. Und diese schwächelt, wenn die Inländer weniger Geld durch sinkende Löhne, weniger Vertrauen in die Zukunft durch ungesicherte Arbeitsplätze und größere Ängste aufgrund der aktuellen Debatte um “härtere Einschnitte” und “radikale Reformen” haben. Denn das dämpft die Nachfrage und erhöht das Sparen. Dieses Sparen jedoch erzeugt keine Investition, wie wir sie uns wünschen. Es führt nur in einen Abwärtskreislauf.

Antwort Prof. Sinn:
Sehr geehrter Herr Gechert, Sie haben bezüglich der Läger und der Ex-Post-Identität natürlich Recht. Nur: Ein Teil der Ersparnis ist auch ex ante Nachfrage, nämlich die von den Unternehmen aus einbehaltenen Gewinnen finanzierten Investitionen. Unternehmensersparnis und Investition ist teilweise, natürlich nur teilweise, dasselbe. Bezüglich der anderen Argumente kann ich nur auf meine “Basar-Ökonomie” verweisen. Danach vernichten hohe Löhne die arbeitsintensiven Sektoren zuerst, treiben Arbeit und Kapital in die kapitalintensiven Exportsektoren, senken dort die Preise und erhöhen so die Wertschöpfung im Export. Zugleich spezialisieren sich die Firmen auf die kundennahen Endstufen der Produktion, was impliziert, dass die Exportmengen noch schneller steigen als die Wertschöpfung im Export. Im Übrigen: Dass hohe Löhne Binnennachfrage schaffen, ist nicht richtig. Zwar mag der Konsum steigen, doch definitiv geht die Investitionsgüternachfrage zurück. Womöglich geht sogar der Konsum zurück, weil die Arbeitslosigkeit steigt und die Leute noch mehr Angst bekommen. Mit freundlichem Gruß Ihr Hans-Werner Sinn

16.12.2005 Gechert, Sebastian, Chemnitz, [email protected]
Sehr geehrter Prof. Sinn, Ihre Argumentation beruht darauf, dass Unternehmen aufgrund von erzielten Gewinnen investieren. Dazu wäre es natürlich hilfreich, geringere Löhne zu bezahlen, um den Profit zu steigern. Tatsächlich investieren Unternehmen aber in der Erwartung zukünftiger Gewinne: Bei einer Investitionsrechnung ist das Entscheidungskriterium, ob sich die Auszahlung irgendwann amortisiert. Danach wird entschieden, ob investiert wird, oder nicht. Und das hängt entscheidend davon ab, ob die entsprechende Nachfrage beim Konsument der produzierten Güter vorliegt, damit auch Gewinne eingefahren werden können. Eine starke Konsumentennachfrage erhöht also auch die Bereitschaft zu investieren, denn so werden hohe Renditen erwartet. Das erreicht man aber nicht über Lohnsenkungen. Richtig ist, dass der Faktor Arbeit im Vergleich zum Faktor Kapital in Deutschland benachteiligt ist. Angesichts steigender Ungleichverteilung des Vermögens in Deutschland kann man das aber nicht ändern, indem man am unteren Ende der Verteilungskurve etwas wegnimmt. Besser wäre, den Faktor Kapital stärker zu belasten. Die deutsche Steuerquote ist eine der geringsten in Europa, vor allem was die Kapitalbesteuerung anbelangt. An dieser Schraube zu drehen, wäre also durchaus möglich. Das passt aber momentan nicht in die politische Landschaft, die auf Zurückdrängung des Staates aus allen Bereichen abzielt. Die Steuersenkungen der letzten Jahre, besonders der Kapitalertragssteuer, haben jedoch offensichtlich nur zu Renditesteigerungen geführt. Auf die Arbeitslosigkeit hatte dies keinen Einfluss. Ganz im Gegenteil, bei Jahreshauptversammlungen heißt es gern: “Wir haben dieses Jahr einen Rekordgewinn zu vermelden, das haben wir unseren starken Anstrengungen zu verdanken. Als Belohnung dafür schicken wir 5000 unserer Angestellten in einen langen wohlverdienten Urlaub.” Der “Basarökonomie”, wie Sie Deutschland beschreiben, wird man im Übrigen über niedrigere Löhne auch nicht Herr werden können. Denn dann werden die Deutschen noch weniger Endprodukte nachfragen können, was die Unternehmen noch weiter dazu zwingt, sich auf den Export zu spezialisieren. Ich möchte mich trotz der unterschiedlichen Meinungen, die wir beide vertreten bei Ihnen bedanken, dass Sie die Zeit finden mit mir hier zu diskutieren. Freundliche Grüße sendet Sebastian Gechert

Antwort Prof. Sinn:
Sehr geehrter Herr Gechert, vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Sie machen einen entscheidenden Fehler bei Ihrer Darlegung: Sie setzen Konsum mit Nachfrage gleich und sehen nicht, dass Investition genauso Nachfrage ist. Das laufende Sozialprodukt wird zum Aufessen verwendet und dazu, den Kapitalhaufen laufend zu vergrößern. Letzteres ist genauso Nachfrage wie ersteres. Was Sie zu den erwarteten Gewinnen in der Investitionsrechnung schreiben ist völlig richtig. Nur müssen Sie bedenken, dass auch eine erwartete Steigerung der Investitionsgüternachfrage die Investitionsgüternachfrage erhöht. Das ist das Akzelerationsprinzip. Wenn zum Beispiel die Bauindustrie mehr Nachfrage nach neuen Gebäuden erwartet, wird sie mehr Baumaschinen kaufen. Dass die Nachfrage die Investitionen beflügelt, heißt nicht, dass man hohe Löhne bräuchte. Hohe Löhne senken die Nachfrage nach Investitionsgütern, was über den Akzelerationsmechanismus, den Sie beschreiben, einen weiteren negativen Einfluss auf die Investitionsgüternachfrage hat. Kurzum, was ich sagen will: Es ist überhaupt nicht klar, wie höhere Löhne auf die Nachfrage wirken und wie sie dann über das Akzelerationsprinzip die Investitionen verändern. Ich vermute, höhere Löhne erhöhen die Konsumgüternachfrage weniger, als sie die Investitionsgüternachfrage senken, so dass sich ein negativer Akzelerationseffekt über die Nachfrage auf die Investionen ergibt. Mit freundlichem Gruß Ihr Hans-Werner Sinn

19.12.2005 Gechert, Sebastian, Chemnitz, [email protected]
Sehr geehrter Prof. Sinn, natürlich ist Investitionsnachfrage auch Nachfrage, das ist mir bewusst. Um das klar zu stellen: Ich möchte nicht die echten Unternehmer verteufeln, die stets ein hohes Risiko fahren und keinen festen Gehaltszettel am Ende des Monats erwarten dürfen. Sie sollen für ihren Mut und ihr Engagement auch belohnt werden. Aber man schneidet sich als gesamte politische Klasse `Unternehmen` ins eigene Fleisch, wenn man die Löhne verringern will. Denn der Akzelerationseffekt ergibt sich ja aus der Produktionskette. Nehmen wir folgendes an: Wir haben in dieser Kette Unternehmen des Typs A, Unternehmen des Typs B und die Konsumenten C. Diese 3 sind die Akteure in dieser Volkswirtschaft. A sind Baufirmen, B sind Einzelhandelsketten. Die Konsumenten C sind Bauarbeiter, Ingenieure und Verkäufer, die bei A und B arbeiten und dafür Lohn erhalten. Die C Fragen bei B Waren nach, B fragt bei A die Bauleistungen nach. Das ist ein geschlossener Prozess mit Investitionsnachfrage und Konsumgüternachfrage. Wenn nun A die Löhne senkt, hat C weniger Geld und fragt daher weniger bei B nach. Dadurch hat auch B weniger Geld und kann von A weniger Gebäude bauen lassen. Die A haben zwar ihre Kosten gesenkt, erhalten aber gleichzeitig weniger Geld von den B. Das Resultat: A hat etwa gleich viel wie zuvor, B und C haben weniger. Was ich mit diesem zugegeben recht simplen Beispiel verdeutlichen will: Am Ende der Investitionsnachfragekette stehen immer Unternehmen B, die zwar Investitionen nachfragen, aber Konsumgüter produzieren. Damit ist die gesamte Kette vom Ende her betrachtet von der Konsumgüternachfrage abhängig. Diese zu schwächen, indem man die Löhne senkt, wirkt sich indirekt wieder negativ auf die eigenen Erlöse aus, weil eben auch die Investitionsnachfrage sinkt. Aus einzelwirtschaftlicher Sicht eines Unternehmens A kann man das bestreiten, global gesehen ist es jedoch logisch. Diesen Zwiespalt zu bekämpfen, muss daher Aufgabe der Politik sein. Der Staat oder die EU haben die Möglichkeit das einzelwirtschaftliche Handeln so zu lenken, dass global das Beste für alle herauskommt. Diese Aufgabe hat man jedoch in den letzten 20 Jahren verschlafen. Wenn Sie sagen, dass der positive Effekt höherer Löhne nicht bewiesen ist, dann möchte ich Ihnen folgende Zahlen entgegen halten: In den 70er Jahren ging ein BIP Zuwachs von +118,6% mit einer Steigerung der Reallöhne von +20,5% einher. In den 80ern waren es: BIP +65,7% und Löhne +6,7%. In den 90ern: BIP +33,7%, Löhne –2,2%. Der Zusammenhang ist deutlich, die Lohnerhöhungen wirkten nicht schädlich auf die gesamte Wohlfahrt. Ganz im Gegenteil. Nun mag man entgegenhalten, das wären andere Zeiten gewesen. Das ist aber erstens kein Argument und zweitens ist die ganze Sache immer noch aktuell: Ostdeutschland müsste angesichts der niedrigeren Löhne im Verhältnis zum Westen boomen, wenn man Ihrer Argumentation folgt. Westdeutschland wächst aber stärker als der Osten, weil die Leute im Osten eine geringere Kaufkraft haben. Das mag zwar auch kein Beweis pro höhere Löhne sein. Alles in allem widerlegt es aber Ihre These, dass mit Lohnsenkungen alles ins Lot kommt. Das zeigen auch die Zahlen der 90er Jahre von oben. Fazit: Lohnsenkungen sind bereits geschehen und sie haben uns gesamtwirtschaftlich sogar schlechter gestellt. Diesen Weg weiter zu verfolgen kann keine Lösung sein.

Antwort Prof. Sinn:
Sehr geehrter Herr Gechert, nein, so ist es nicht. Sie betrachten keine Investitionsgüter, sondern industrielle Zwischenprodukte. Investitionsgüter sind Fertigprodukte, also Teile der Endproduktion, die man “auf einen Haufen” legt. Sie dienen der Vergrößerung des Kapitalstocks. Eine Ökonomie kann unterschiedliche Anteile der Endproduktion in diesem Sinne investieren. Je größer der Anteil ist, desto kleiner ist zunächst der Konsum, aber dennoch fehlt es nicht an Nachfrage, weil die Investitionsgüter statt dessen nachgefragt werden. Je größer der Investitionsanteil am Sozialprodukt ist, desto schneller wächst der Kapitalstock der Wirtschaft und damit auch das Sozialprodukt. Aus dem wachsenden Sozialprodukt kann auf Dauer ein kleinerer Anteil konsumiert werden, und doch wird der Konsum irgendwann höher sein, als es sonst der Fall gewesen wäre. Welcher Anteil des Sozialprodukts investiert wird, hängt insbesondere vom Lohnniveau ab. Je höher er ist, desto geringer ist die Investitionsquote. Also: Alternative Lohnniveaus sind mit einer Vollausschöpfung der Produktion durch Nachfrage für Konsum und Investition gekennzeichnet, doch je höher der Lohn, desto kleiner der Investitionsanteil, desto kleiner die Wachstumsrate der Wirtschaft. Mit freundlichem Gruß Ihr Hans-Werner Sinn

22.12.2005 Gechert, Sebastian, Chemnitz, [email protected]
Sehr geehrter Prof. Sinn, ich beziehe mich auf meinen Beitrag und Ihre Antwort vom 19.12.05. Bitte erklären Sie mir etwas genauer, warum Gebäude industrielle Zwischenprodukte sind und keine Investitionsgüter. Lediglich ein Lebkuchenhaus könnte der Beschreibung „industrielles Zwischenprodukt“ teilweise gerecht werden, echte Gebäude, wie Warenhäuser und Produktionshallen sind natürlich Investitionsgüter. Wenn Ihnen das Beispiel nicht gefällt, dann können wir auch noch eine Produktionsstufe vorn angliedern, indem wir Maschinenbauunternehmen hinzufügen, die die Baumaschinen für unsere Baufirmen A produzieren. Das Ergebnis bleibt das gleiche: Am Ende der Kette werden in oder mit den Investitionsgütern Konsumgüter produziert. Die muss aber jemand kaufen können, sonst nützt die ganze Produktion nichts und die Investitionsgüter werden gar nicht benötigt. Ich denke, das Problem bei Ihrer Überlegung ist, dass Sie annehmen, es käme nur auf die Verteilung der Gesamtproduktivkräfte zwischen Investitions- und Konsumnachfrage an. Konsumgüter sind sofort aufgegessen, Investition hingegen ist nachhaltig und schafft eine Grundlage für die Zukunft. Das ist auch richtig, jedoch nur die halbe Wahrheit, denn die „[…]Vollausschöpfung der Produktion durch Nachfrage für Konsum und Investition[…]“ ist eben leider nicht gegeben. Sonst hätten wir keine gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung von lediglich ca. 82%. Die Produktionsleistung als das Axiom zu nehmen ist die falsche Sichtweise, das Angebot schafft sich nicht seine Nachfrage. Man muss die Sache andersherum betrachten, Produktion geschieht nur, wenn Aufträge (also Nachfrage) dafür vorliegen, sowohl für Investitionsgüter, als auch für Konsumgüter. Je höher beide Formen der Nachfrage sind, umso größer die Auslastung der Produktionskapazität und umso höher dadurch der Hang zur Ausdehnung der Kapazität, was sich wiederum in mehr Investitionsgüternachfrage ausdrückt. Da es demnach nicht nur auf die Verteilung der Produktionsmittel zwischen Investitionsgütern und Konsumgütern ankommt und die Investitionsnachfrage wie bereits gezeigt positiv (und nicht negativ) von der Konsumnachfrage abhängt, ist eine Schwächung der Konsumnachfrage über geringere Löhne schädlich für die gesamte Nachfrage. Das führt zu geringerer Produktion, weiterer Einschränkung der Investitionsgüternachfrage und damit höherer Arbeitslosigkeit und schwachen Wachstumsraten. Die Analogie zur Situation in Deutschland ist unverkennbar. Dazu übrigens noch ein paar anschauliche Bilder: http://www.jjahnke.net/2geschichten.html Es sei besonders auf Abb. 04054 verwiesen, die sinkende Reallöhne und –gehälter zeigt. Außerdem Abb. 04055 mit stagnierenden Konsumausgaben seit 2000 und Abb. 04029 mit sinkenden Bruttoanlageinvestitionen im gleichen Zeitraum. Besinnliche Weihnachtstage und ein frohes Fest wünscht Sebastian Gechert

Antwort Prof. Sinn:
Sehr geehrter Herr Gechert, Sie weichen semantisch aus. Auch wenn letztlich das Wirtschaften dem Konsum gilt, kann eine Volkswirtschaft auf die Dauer, für alle Ewigkeit, einen größeren Anteil ihrer Produktion für die laufende Erhöhung ihres Kapitalstocks verwenden. Wenn der Konsum in den nächsten Jahrzehnten hinreichend niedrig ist, kann er danach für alle Ewigkeit höher sein, weil die Wirtschaft dauerhaft schneller wächst. Wenn die Löhne über ihrem markträumenden Niveau sind, gibt es Arbeitslosigkeit, und der Anreiz für Investitionen fällt. In der Gegenwart und in der Zukunft ist die Produktion kleiner, als sie sein könnte. Aber die Nachfrage kann immer so klein sein wie die Produktion. Das gilt für die geschlossen Wirtschaft, und noch viel mehr für die offene. Je offener die Wirtschaft ist, desto mehr Kapital weicht ins Ausland aus. Da Sie mir nicht glauben, allerdings großes Interesse an dem Thema haben, muss ich sie bitten, ein Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre zu diesen Themen zu konsultieren. Ich kann hier keine Privatvorlesung über VWL durchführen. Im übrigen: Natürlich sind Gebäude keine industriellen Zwischenprodukte, sondern Kapitalgüter, die durch Investitionen entstanden sind. Als Investitionen bezeichnet man die Erhöhung des Kapitalbestandes der Wirtschaft. Frohe Weihnachten und alles Gute im neuen Jahr Ihr Hans-Werner Sinn


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