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Titel: „Der Weg zurück ins 19. Jahrhundert ist falsch.“

Datum: 13. Januar 2006 um 11:22 Uhr
Rubrik: „Lohnnebenkosten“, Generationenkonflikt, Rente
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Ein wirklich lesenswerter Beitrag von Winfried Schmähl über den Holzweg auf den die „Rentenreformen“ die Altersvorsorge geführt hat und welche Alternativen man hätte.

Die „Rentenreformen“ der letzten Jahre führen dazu, dass

  • die Einkommensverteilung im Alter deutlich ungleicher werden wird,
  • die Gefahr von Altersarmut zunimmt,
  • die Einkommensbelastung für die Altersvorsorge für lange Zeit durch die „Reformmaßnahmen“ steigt,
  • die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) mit einer engen Leistungs-Gegenleistungs-Beziehung angesichts des drastischen Niveauabbaus ihre Legitimation zunehmend verlieren wird.

Man muss davon ausgehen, dass es angesichts des drastisch verminderten Leistungsniveaus der GRV für die Bürger zu verpflichtenden Formen der kapitalfundierten individuellen oder über Betriebe abgewickelten Alterssicherung kommt, also faktisch zu einem zweiten obligatorischen System neben der GRV.

Winfried Schmähl ist Professor am Zentrum für Sozialpolitik (ZES) in Bremen. Er ist Mitglied in der von der rot-grünen Bundesregierung eingesetzten Kommission für den 5. Altenbericht.
Für den eiligen Leser seien hier einige seiner Kernaussagen kurz zusammengefasst:

  • Die mit den politischen Entscheidungen insbesondere der Jahre 2001 und 2004 eingeschlagene Entwicklungsrichtung ist mit erheblichen Risiken und vielfach negativen Folgen für einen Großteil der Bevölkerung verbunden, bietet allerdings auch manchen Gruppen neue Chancen – nicht zuletzt den Anbietern von Finanzmarktprodukten. (Anm.:Dass die Versicherungswirtschaft Betreiber und Gewinner dieser „Reformen“ ist, haben wir auf den NachDenkSeiten oft belegt.)
  • Nicht nur das relative Gewicht von öffentlichen umlagefinanzierten zu privaten kapitalfundierten Systemen soll und wird sich dadurch verschieben, die direkte Finanzierungsbelastung der Versicherten wird steigen wie auch die Gefahr von Altersarmut und zunehmender Einkommensungleichheit im Alter, sondern auch der Charakter der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) wird sich grundlegend wandeln: Ist die GRV bislang stark durch ein Entsprechungsverhältnis von Leistung und Gegenleistung geprägt, so münden die politischen Weichenstellungen angesichts der erheblichen Senkung des Leistungsniveaus schließlich in ein – wohl dann faktisch steuerfinanziertes und ggf. sogar bedarfsgeprüftes – “Basissystem”.
  • Da die in der Koalitionsvereinbarung vorgesehenen (weiteren) Maßnahmen die schon zuvor absehbaren Folgen verschärfen, sind derzeit keine Anzeichen für ein Umdenken zu erkennen.
  • Der Boden für den “Paradigmenwechsel” und Strukturwandel im deutschen Alterssicherungssystem wurde bereitet durch ein Zusammenwirken von Politikern, Interessenvertretern, Wissenschaftlern und Medien, bei dem das bestehende Alterssicherungssystem als nicht mehr finanzierbar (nicht fiskalisch “nachhaltig”), die Lohnnebenkosten erhöhend (also beschäftigungsfeindlich) und die “Generationengerechtigkeit” verletzend bezeichnet wurde. Korrigierbar sei dies nur durch die Reduzierung der Umlagefinanzierung und vermehrte Kapitalfundierung. Hierzu gäbe es auch keine Alternative.
  • Weit verbreitet ist inzwischen die gezielte Verwendung des Begriffes “Eigenvorsorge” allein für die private kapitalfundierte Vorsorge, obgleich ein Sozialversicherter in einem System, wo er durch seinen Beitrag auch eine Gegenleistung erwirbt, gleichfalls Eigenvorsorge betreibt.
  • Die Renditevergleiche zwischen GRV und privater Altersvorsorge sind oft dadurch erheblich verzerrt, dass bei der Privatvorsorge allein der Tatbestand “Alter” berücksichtigt wird, während in der GRV auch der Tatbestand der Invalidität nach wie vor eine wichtige Rolle spielt (und auch Rehabilitationsleistungen erfolgen). Durch auf den ersten (!) Blick oft einleuchtend klingende Argumente, durch die Verwendung hinreichend vieldeutiger, aber positiv klingender Begriffe – wie Nachhaltigkeit, Generationengerechtigkeit – und vielfach einseitig ausgewählter Fakten wurde eine normative Begründung für die politisch nun umgesetzte Strategie vorbereitet und hat inzwischen zu einer weitgehend uniformierten veröffentlichten Meinung geführt.
  • Das Vertrauen in die GRV wurde gezielt – und wohl “nachhaltig” – unterminiert, nicht zuletzt durch die immer wieder betonte (steigende) Finanzierungsbelastung. Zwar wird in einer alternden Bevölkerung Alterssicherung unabhängig vom Finanzierungsverfahren (also ob umlagefinanziert oder kapitalfundiert) teurer, doch wurde die Diskussion allein auf die umlagefinanzierte GRV konzentriert.
  • Ein zentrales Argument (und treibendes Motiv) in der Reformdebatte ist die Senkung (Begrenzung) der Arbeitgeberbeiträge als Teil der Lohnkosten, zu denen diese in der GRV allerdings (z.B. im produzierenden Gewerbe) nur etwa zu einem Zwölftel – alle Sozialversicherungsbeiträge etwa zu einem Sechstel – beitragen. Der ökonomischen Bedeutung steigender Beiträge für die Lohnkostenentwicklung wird allerdings in der Diskussion eine überzogene Bedeutung zugemessen. Selbst ohne alle seit 2000 ergriffenen Maßnahmen würde eine im Durchschnitt um 0,07 Prozent p.a. geringere Steigerung der Bruttolöhne den lohnkostensteigernden Effekt von höheren Arbeitgeberbeiträgen bis 2030 kompensieren.
  • Wenn der beschäftigungsfeindliche Aspekt der Arbeitgeberbeiträge solche politische Bedeutung besitzt, so hätte man schon seit langem die bekannte “Fehlfinanzierung” in den Sozialversicherungszweigen von etwa 8 Beitragspunkten (also 4 Punkte für Arbeitgeberbeiträge) durch sachadäquate Finanzierung aus allgemeinen Haushaltsmitteln beseitigen können.
  • Es ist auffällig, dass zum Zeitpunkt der Diskussion über die politischen Weichenstellungen auf damit verbundene Auswirkungen, z.B. für die Einkommenssituation im Alter, auch die Gefahr steigender Altersarmut nicht hingewiesen wurde bzw. Äußerungen, in denen darauf hingewiesen wurde, bestritten wurden. Nachdem die politischen Entscheidungen gefallen waren, wird nun – insbesondere von Banken und Versicherungen – immer mehr betont, dass bei unzureichender Privatvorsorge Altersarmut drohe.
  • Die künftig erreichbaren Ansprüche auf Alterseinkünfte werden aber u.a. beträchtlich von den verschlechterten Arbeitsmarktbedingungen beeinflusst werden – was nicht nur Ansprüche auf GRV-Renten berührt, sondern auch die Möglichkeit zur Privatvorsorge.
  • Da die große Koalition auch ankündigte, den Bundeszuschuss zur GRV zu reduzieren, würde tendenziell der erforderliche Beitragssatz höher ausfallen und ggf. das politisch gesetzte Beitragsziel (20 % 2020 bzw. 22 % 2030) verletzen. Wird an dem Beitragsziel unverändert festgehalten, ergibt sich ein zusätzlicher Druck auf weitere Leistungsreduktionen in der GRV.

Eine diskutierenswerte Alternative zeigt die noch von der früheren Bundesregierung eingesetzte Kommission für den 5. Altenbericht auf. Vgl. die Ziffern 21ff. der Quelle. Dieser Bericht ist schon im August 2005 vorgelegt worden, blieb aber unveröffentlicht. Man darf gespannt sein, ob ihn die neue Bundesregierung überhaupt noch zur Kenntnis nehmen wird. Er könnte ähnlich wie der Bericht zu den Wirkungen der Hartz-Reformen, zu einem vernichtenden Urteil über die Rentenreformen führen und wäre ein weiterer Schlag gegen die angeblich so alternativlose „Reformpolitik“.


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