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Titel: Albrecht Müllers Wochenrückblick: Nichtwissen oder Schockstrategie?

Datum: 30. September 2011 um 16:03 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Schulden - Sparen, Sozialstaat
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Auch in der zu Ende gehenden Woche gab es viele Anlässe und viele Gründe, den Kopf zu schütteln angesichts erkennbar unvernünftiger Äußerungen und Entscheidungen. Schäuble missachtet die Gefahren einer Rezession, er fordert Sparen und „Strukturreformen“, in Europa verschärft man die Regeln des so genannten Stabilitätspakts, obwohl sonnenklar ist, dass die ergänzende koordinierte Beschäftigungspolitik fehlt; und wenn jemand wie die saarländische Ministerpräsidentin die Vernunft der Schuldenbremse bezweifelt, dann wird sie mit massivem Druck zurückgepfiffen; usw. Es ist, als lebten wir in einem Irrenhaus. Ich selbst bin unsicher, ob wir von Dummheit regiert werden oder ob vermeintliche Interessen die Debatte und die politischen Entscheidungen leiten. – Zwei Leser und Freunde der NachDenkSeiten haben für sich entschieden. Albrecht Müller.

Einer schreibt, er glaube nicht, dass Politik und Wirtschaft aus der Geschichte der Brüningchen Politik nichts gelernt hätten. Er könne sich nicht vorstellen, dass die herrschenden Klassen in allen EU-Ländern nicht wissen, was sie tun und welche Konsequenzen ihr Tun für die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Ländern hat. „Wenn Merkel zum Beispiel fordert, die übrigen EU-Staaten sollen sich am Beispiel der Bundesrepublik mit Lohnzurückhaltung und Sozialabbau orientieren, dann scheint mir genau dies in ein längerfristiges Planungsmuster zu passen.“

Im Anhang sind beide Mails dokumentiert. Sie enthalten eine Reihe von Denkanstößen.

Einiges spricht dafür, dass nicht Dummheit, sondern Interessen und der notwendige politische Zynismus die Verlautbarungen und die politischen Entscheidungen bestimmen:

  • Die Krise hat das Ansehen und die Grundlagen sozialstaatlicher Regelungen ramponiert. Die Forderungen nach weiteren Strukturreformen, nach Gürtel-enger-Schnallen zielen auf die Fortsetzung dieser Interessenpolitik und gegen das Versprechen der Sozialstaatlichkeit.
  • Die Krise zahlt sich für Spekulanten aus. Sie haben großen Einfluss auf die Politik. Das zeigte sich in Deutschland von Anfang an: Angela Merkel machten den Berater von Goldman Sachs, Issing, zum Vorsitzenden einer Kommission zur Erarbeitung neuer Regeln für die Internationalen Finanzmärkte. Merkel und Steinbrück retteten auf Kosten der Steuerzahler und zu Lasten der Banken, Versicherungen und Finanzdienstleister jede Bank, sie erklärten alle – auch die IKB, die Commerzbank, und die HRE – zu systemrelevanten Instituten und verursachten so einen immensen Schuldenanstieg, den sie jetzt dem Staat und dem Sozialstaat zuschreiben. Sie erwiesen sich als getreue Helfer der Finanzwirtschaft.
  • Auch das zögerliche Verhalten der Bundesregierung gegenüber der Spekulation gegen Griechenland und andere Länder Südeuropas erwies sich als Förderung der Spekulation. Das konnte man auch vorher schon wissen. Insofern muss man Zweifel haben, ob dahinter nur Nichtwissen steckt. Oder Kalkül.
  • Die verkündete Fortsetzung der Sparpolitik hilft wie bisher schon, den Anteil öffentlicher Leistungen und staatlicher Tätigkeit weiter zu reduzieren. Das kommt nicht nur einer Ideologie sondern auch privaten Interessen zugute, jenen die an Privatisierungen und am Verscherbeln von Volksvermögen verdienen.
  • Wirtschaftskrise und hohe Arbeitslosigkeit verstärken die Reservearmee und schwächen die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern und Gewerkschaften.
  • Auch Naomi Kleins Forschungen zur Schockstrategie stützen die Vermutung, dass wir es nicht mehr nur mit Dummheit sondern mit einer gezielten Strategie zu tun haben.

Dennoch, diese Politik liegt aus meiner Sicht nicht im Interesse der Mehrheit der Wirtschaft und der Mehrheit der konservativen Bürgerinnen und Bürger. Diese Politik führt am Ende dazu, dass gut ausgebildete Ressourcen und Anlagekapazitäten brach liegen. Das kann auch nicht im Interesse jener sein, die auf der Seite der Gutverdiener und Spitzenverdiener sind. Insofern ist in der erkennbaren Strategie, selbst wenn es eine ist, ein hohes Quantum an Dummheit enthalten.

Soweit dazu.

Jetzt noch die Empfehlungen der Woche, zusammengestellt von Jens Berger, ganz unten folgt noch der Anhang mit den beiden zitierten Mails:
Während die großen deutschen Medien in dieser Woche ein großes Zinnober um die EFSF-Abstimmung im Bundestag machten und damit den Euroskeptikern in den Reihen der Unions- und FDP-Fraktionen die beste nur denkbare Selbstdarstellungsplattform boten, zeigte sich wieder einmal, dass die Diskussion hierzulande sehr „deutsch“ ist. Während unsere Leitartikler sich mit parteipolitischer Arithmetik befassten und nationale Egoismen auslebten – und daher auch von den NachDenkSeiten bestmöglich ignoriert wurden – zeigten die Kommentatoren in England und den USA erstaunlich viel Sinn für den Gesamtzusammenhang. Als Beispiel seien hier die Artikel von Mark Weisbrot im Guardian und Jeremy Warner im Telegraph genannt.

Ein kleiner Lichtblick am deutschen Zeitungshorizont war der Artikel „Henkel wirbt für Anti-Euro-Partei“ von Malte Kreutzfeld in der taz. Kreutzfeld greift ein wichtiges Thema auf, dass auch die NachDenkSeiten bereits beleuchtet haben: siehe „Bürgerkonvent 2.0 – die deutsche Tea-Party-Bewegung“ und „Albrecht Müllers Wochenrückblick: Zur besonderen Verankerung der Union bei Medien und Vorfeldorganisationen“ Symptomatisch für den Zustand der Massenmedien ist hier, dass dieses Thema mit Ausnahme der taz komplett ignoriert wird. Der politische Kompass der selbsternannten „Qualitätszeitungen“ scheint auszusetzen, wenn die rechte Meinungsmache nicht aus der Gosse, sondern aus der Belle Etage kommt.

Abschließend wollen wir unsere Leser noch auf zwei Blogartikel hinweisen: Im Blog Herdentrieb erinnert Dieter Wermuth die Leser noch einmal daran, dass es die Banken waren, die die Krise ausgelöst haben und führt dabei elegant den Begriff „Schuldenkrise“ ad absurdum. Einen kurzen und schmerzlosen Seitenhieb auf die Denkfaulheit der Leitartikler unternahm in dieser Woche der Finanzblog „Kantoos Economics“ , der anhand der Inflationsschätzungen der FED die in Deutschland sehr populäre Mär von der amerikanischen Druckerpresse, die das Land in die Inflation führt, widerlegt.

Anhang – Zwei Mails von Freunden der NachDenkSeiten:

Betr.: Nichts gelernt aus der Geschichte: Prozyklische Politik wie bei Brüning

Lieber Albrecht Müller,

ich glaube nicht, dass Politik und Wirtschaft aus der Geschichte der Brüningschen Politik nichts gelernt haben, die letztendlich zu Hitler, Krieg, Völkermord und Massenelend geführt hat.

So wie jetzt an Griechenland ein Exempel durchgezogen wird, mit der Folge der Verelendung eines großen Teils der Bevölkerung unter Schonung der großen Vermögen in diesem Land und unter Vergesellschaftung der Risiken „unserer“ Gläubiger Banken, so soll perspektivisch auch bei uns der Druck auf die Bevölkerung durch eine bewusst herbeigeführte Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage verstärkt werden. HARTZ V-X liegt sicher schon in den Schubladen der Herrschenden. Spar-Absicht ist nicht gleich Spar-Erfolg schreiben Sie immer wieder. Ich denke, das wissen Merkel, Schäuble & Co. auch. Der Erfolg soll auch nicht eintreten, um die Dosen der Einsparungen Jahr für Jahr zu Lasten der Bevölkerung weiter erhöhen zu können.

Griechenland scheint mir der erste europäische Test für die Durchsetzbarkeit der Brüningschen Politik im 21. Jahrhundert zu sein. Weitere Länder in der EU folgen und sollen noch folgen. Troika und Treuhänder werden sich die Filetstücke an Unternehmen und Infrastruktur unter den Nagel reißen. Die deutsche Treuhand ist da sicher mit der Verscherbelung des DDR Volksvermögens Beispiel.

Ich kann mir nicht vorstellen, das die Herrschenden Klassen in allen EU Ländern nicht wissen, was sie tun und welche Konsequenzen ihr Tun für die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Ländern hat. Diese „Eliten“ haben sicher einen längerfristigen Plan, um ihre heutige Stellung in der Welt gegenüber den USA, China, Indien und weiteren aufstrebenden und sich schnell entwickelnden Ländern zu behaupten.

Heute wird uns sogar im Fernsehen ganz offen die Umsetzung der sehr langfristigen Strategien der NATO Staaten im Kampf gegen das sozialistische Lager über viele Jahrzehnte gezeigt. Viele Linke in der Bundesrepublik haben dies in den 60er bis 80er Jahren häufig als DDR Propaganda gewertet. Auch der Krieg in Afghanistan, Irak, Libyen oder die Stationierung von tausenden Soldaten in den Staaten um Russland, China und Afrika sind nicht aus einer Augenblickssituation erfolgt, sondern einer langfristigen Strategie zur Sicherung von Rostoffen und Transportwegen geschuldet.

Warum also sollten die Eliten bei uns und den EU Staaten im Wettbewerb mit den zukünftigen Wirtschaftszentren nicht ebenso über eine langfristige Strategie verfügen. Ich kann das nicht glauben. Wenn Merkel z. B. fordert, die übrigen EU Staaten sollen sich am Beispiel der Bundesrepublik mit Lohnzurückhaltung und Sozialabbau orientieren, dann scheint mir genau dies in ein längerfristiges Planungsmuster zu passen. Die Finanzkrise, die in eine Schuldenkrise umformuliert wird, scheint jetzt der entsprechende Hebel für rasche Ergebnisse zu sein.

Mit freundlichen Grüßen
Peter K.


Lieber Herr Müller, liebe Nachdenkseitenredaktion,

danke für die deutlichen Worte. Leider wird Ihr und der Nachdenkseiten langjähriger Einsatz für eine Abkehr von der neoklassischen Wirtschaftslehre und der damit verbundenen Austeritätspolitik, für deren Versagen momentan Griechenland das abschreckendste Beispiel bietet, wohl wieder einmal bei den Entscheidern verhallen. Gerade weil Herr Schäuble so gnadenlos “lehrbuchmäßig” argumentiert, habe ich inzwischen den starken Verdacht, dass es hier weniger darum geht, wirkliche Sparerfolge zu erzielen. M.M.n. nutzen unsere “Eliten” die permanente finanzielle Bedrängnis des Staates ganz bewußt, um Druck auf die Löhne und sozialen Errungenschaften der Arbeitsnehmer und auch auf den Sozialstaat
auszuüben.

Das hat doch in den letzten 15 Jahren super funktioniert und den Besitzeliten Einkommenszuwächse beschert, von denen sie vorher noch nicht einmal zu träumen wagten. Deswegen wird man die herrschende Lehre wohl auch durchzusetzen suchen, wo immer und so lange es irgend geht – warum langfristig denken und investieren, wenn man kurzfristig schöne Gewinne machen kann, warum teilen, wenn man alles haben kann und was man hat, das hat man. Warum höhere Löhne zahlen, wenn die Leute auch für weniger Lohn arbeiten (müssen), warum in die Realwirtschaft investieren, wenn man am Finanzmarkt viel höhere Renditen erzielen kann, zumal mit dem Staat als Retter in der Not? Und die Leute lassen sich das bieten, weil sie die Situation nicht durchschauen und man ihnen scheinlogische Märchen aus einem Wirtschaftstraumreich erzählt, wo ebenso arbeits- wie sparsame, bescheidene, schwäbische Hausfrauen walten, die bekommen, was sie schwer verdient haben und darum nicht mehr ausgeben, als sie einnehmen, sparen, wenn sie haben, um in der Not das Ersparte zu haben, weil jeder Taler bekanntlich nur einmal ausgegeben werden kann, und die, wenn das nicht langt, den Gürtel enger schnallen, bis Gott hilft oder sie, weil sie selbstverständlich niemanden zur Last fallen wollen und die Welt seit dem Sündenfall nun einmal so ist, wie sie ist, nämlich schlecht, still und in Demut verhungert sind. Zur Belohnung kommen sie dann ins Paradies. (Ich habe einiges davon tendenziell auch einmal geglaubt – bis zu dem Zeitpunkt, wo Herr Ackermann seine Renditeziele für das Eigenkapital der Deutschen Bank verkündet und dafür gleichzeitig 6000 seiner Mitarbeiter an die frische Luft gesetzt hat, während ich mit dem Schicksal meiner Kolleginnen und Kollegen zu einem “Bündnis für Arbeit” regelrecht erpreßt wurde! Auf meiner Suche nach alternativen Antworten bin ich dann u.a. über die Nachdenkseiten gestolpert). Dabei hätten einen schon damals Sprüche wie “Wirtschaft ist zur Hälfte Psychologie…” stutzig machen müssen, denn gleichzeitig behaupten z.T. die selben Leute, alle Wirtschaftsteilnehmer agierten immer objektiv und rational. Ich bin davon überzeugt – und in den Nachdenkseiten sind ja dankenswerterweise über-genug Beispiele für Meinungsmache dokumentiert -, dass es inzwischen eine der Hauptsorgen nicht weniger Politiker ist, wie sie Partikularinteressen unserer Besitzeliten, für die sie sich im politischen Geschäft einsetzen, in der Öffentlichkeit den richtigen Spin geben können, um diese Interessen als gemeinwohlorientiert oder zumindest als ein “notwendiges kleineres Übel” erscheinen zu lassen, Stichwort: “Wie kommunizieren wir das?” Schön, dass es da Bertelsmann und Springer gibt. Der Zynismus, der Herrn Schäuble nachgesagt wird, könnte hier seine Wurzel haben – er weiß m.M.n. recht genau, was er tut und für wen… und die Kanzlerin zieht am gleichen Strang.

Aber es ist gut, dass es Sites wie die Nachdenkseiten gibt, die Gott sei Dank immer bekannter wird und die sich im Verein mit gar nicht so wenigen aufrechten Journalisten und Publizisten täglich mühen, gegen den Wahnsinn anzuschreiben. Die demokratischen Aufklärer im Feudalismus am Anfang waren auch nur eine kleine Minderheit, während das damalige System uralt war und scheinbar in der Ewigkeit wurzelte.

In diesem Sinne mit besten Grüßen
Ihr Stephan P.


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