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Titel: Eine Replik auf die Kritik von Erhard Eppler am Buch „Die Reformlüge“ von Albrecht Müller

Datum: 18. Januar 2005 um 12:26 Uhr
Rubrik: Rezensionen, Strategien der Meinungsmache, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Prof. Dr. rer. pol. Heinz-J. Bontrup, Dipl.-Ökonom, FH Gelsenkirchen, Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung

Ökonomisches Nichtwissen

Erhard Eppler hat Recht, wenn er über sich schreibt: „Ich bin kein Volkswirt“. Entsprechend fällt seine „ökonomische“ Rezension über das von Albrecht Müller vorgelegte Sachbuch „Die Reformlüge“ aus. Allein der folgende Vergleich von Eppler spricht Bände: „Wer dieses Buch aus der Hand legt und zur Tageszeitung greift, fragt sich verblüfft, ob er im falschen Film sei.“ Presseartikel, und in ihren Kommentierungen zu meist neoliberal ausgerichtete Medien, sind für Eppler wissenschaftliche Referenzgröße für eine Sachbuchbesprechung, die methodisch nicht einmal eine ist, weil man nach dem Lesen der Buchbesprechung über die von Albrecht Müller beschriebenen „40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“, nicht im geringsten weiß, was denn überhaupt Inhalt des Buches ist. Die flüchtigen und polemischen Anmerkungen des ehemals politisch links eingestuften Epplers erwecken den Eindruck des Mottos: Was nicht sein soll, das nicht sein darf. Nach dem vehementen Eintreten Epplers für die Agenda 2010 auf dem SPD-Parteitag 2003 kommt diese Einstellung allerdings nicht überraschend. Albrecht Müller, ebenfalls ein SPD-Urgestein, enttarnt die neoliberale Politik der SPD mit seinem Buch auf Basis einer wirtschaftswissenschaftlich fundierten Kritik, die für eine breite Leserschaft verständlich geschrieben und verdienstvoll aufbereitet wurde. Eppler hat dem inhaltlich und fachlich nichts entgegenzusetzen. Was im Grunde bleibt, ist die mittlerweile sattsam bekannte Diffamierung gegen alle, die sich gegen den unheilvollen neoliberalen Politikkurs stemmen. So ist dann auch Müller ein Ewiggestriger, der immer noch dem Keynesianismus der 1970er Jahre verfallen sei. Neoliberalismus als politische und ideologische Strategie, die darauf abzielt, den Vorrang des Privateigentums, die Herrschaft der Märkte und die Profitinteressen der Unternehmen über alles zu stellen und den demokratischen Sozialstaat zu opfern, sei eben das Ergebnis einer unveränderbaren Globalisierung, der sich die Politik nun einmal beugen müsse. Dazu Eppler: „Das globalisierte Kapital sitzt am längeren Hebel, wo immer es die Kräfte misst mit nationalen Regierungen oder Gewerkschaften. Die Kapitalbesitzer kennen ihre Macht und nützen sie.“ Was für eine politische Bankrotterklärung aus der Feder eines Politikers! Das Kapital hat also mehr Macht, als die einzig demokratisch legitimierte Politik. Wofür brauchen wir dann aber überhaupt noch die Politik? Offensichtlich nur noch, um den Kapitalinteressen genüge zu tun. Eppler sollte einmal einen Blick in unsere Verfassung werfen. Da steht etwas anderes. Er sollte sich auch die Frage stellen, wer eigentlich für die verschärfte Globalisierung und Liberalisierung der Märkte, die Deutschland übrigens insgesamt als Volkswirtschaft ökonomisch nicht fürchten muss, verantwortlich ist. Globalisierung und Liberalisierung sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie sind ein von Menschen (Politikern und neoliberalen Ökonomen) „geschaffenes Produkt“, das heute fast nur einseitig zur Befriedigung von Kapitalinteressen ausgelegt und ausgestaltet wird. Ausgangspunkt war Anfang der 1970er Jahre ein eingeleiteter neoliberaler Paradigmenwechsel und die damit einhergehende unredliche Diskreditierung des Keynesianismus, der dem Kapital und rechtsliberalen Politikern wegen seiner Marktinterventionen und Sozialstaatlichkeit schon immer ein Dorn im Auge war. Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Milton Friedman hat mit seinem 1969 veröffentlichten Buch „Kapitalismus und Freiheit“ die intellektuelle Basis für diesen Paradigmenwechsel geschaffen. Hier ist die neoliberale Botschaft, als monetaristische Heilslehre verpackt, mehr als deutlich, d.h. radikal, beschrieben: Unternehmen sind demnach immer dann sozial, wenn sie ihre Gewinne maximieren und der Sozialstaat auf einen Nachwächterstaat zurechtgestutzt wird. Dieser Doktrin verfiel in den 1980er Jahren nicht nur Ronald Reagan und Margret Thatcher, sondern, wie wir heute wissen, weltweit die gesamte politische Schicht. Die „Freiheit der Märkte“ wurde glorifiziert und der Wettbewerb in den Mittelpunkt gerückt, als habe nicht schon der geistige Vater der kapitalistischen Ordnung, Adam Smith, hinlänglich auf ein kapitalistisch immanentes Marktversagen hingewiesen. Neoliberale Ökonomen haben es dann aber ideologisch verstanden, dieses Marktversagen in ein ambivalentes Staatsversagen umzuwandeln. Entweder wird hier der Staat als ein übermächtiger, bürokratischer Moloch dargestellt, der seine Bürger unterdrücke und insbesondere die private Wirtschaft behindere, oder in der anderen Variante als schwach, unbeweglich, willkürlich und korrupt diffamiert, der so zum Spielball mächtiger Einzelinteressen würde. Daher sei, so oder so, ein radikaler Abbau des Sozialstaates und ein Rückzug des Staates aus der Wirtschaft notwendig. Wie sagte doch der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Günther Rexroth (FDP): „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“. In einer freien Gesellschaft sei Wirtschaft eine absolute Privatangelegenheit, in der es deshalb auch nichts zu demokratisieren gäbe.

Wirtschaftspolitik und eine aktive Konjunktursteuerung durch Finanz- und Geldpolitik, Sozialstaatlichkeit und eine demokratisierte Wirtschaft sind aber gerade in einer globalisierten Welt nötiger als je zuvor.[1] Wir müssen dazu auch nicht, wie Erhard Eppler es uns glauben machen will, erst abwarten bis sich die neoliberalen Geister ausgetobt haben, bis es zu einer „Privatisierung der Gewalt“ gekommen und auch den Bossen der privaten Wirtschaft klargeworden ist, „dass der Staat mehr ist als ein Markthindernis.“ Bis es so weit ist, muss nach Ansicht von Eppler aber zunächst das Tal der Tränen mit der falschen neoliberalen Medizin weiter durchschritten werden. Es muss der Mehrheit des Volkes erst noch viel schlechter gehen, bevor es dann allen besser geht!? Was für eine ökonomische Logik. Wir sind schon alle gespannt, wie die nächste neoliberale Dosis, die uns dann endlich als Medizin ins gelobte Land der Vollbeschäftigung führt, nach „Daniel Düsentrieb Hartz“ (Peter Bofinger) und Agenda 2010 ausfallen wird.

Heute ist natürlich zur Bekämpfung des größten Problems, der alles lähmenden und strangulierenden „Geißel“ Massenarbeitslosigkeit, ein rein „national“ ausgerichteter Keynesianismus nicht mehr ausreichend. Es bedarf sicher eines politisch koordinierten europäischen Makrodialoges und zusätzlich eines differenzierten zweigeteilten (dichotomen) konjunkturellen und strukturellen post-keynesianischen Ansatzes. Der dabei in der kurzen Sicht konjunkturelle Ansatz muss auf den Dreiklang eines antizyklischen deficit spendings und einer darauf abgestimmten Geldpolitik sowie einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik setzen. Hinzu kommen muss aber auch eine Bekämpfung immer größer werdender privatwirtschaftlicher Macht von Unternehmen, die zu einer Unterminierung und Pervertierung keynesianischer Konjunkturpolitik geführt hat. Dem steht die neoliberal postulierte staatliche Abmagerungskur und Beschneidung des Sozialstaats, die Kürzung von Löhnen und Lohnnebenkosten bei längerer Arbeitzeit und immer mehr prekären Beschäftigungsverhältnissen gegenüber. Oben drauf kommt noch eine selbst auferlegte – ökonomisch völlig unsinnige – Zwangsjacke in Form des so genannten „Stabilitäts- und Wachstumspaktes“. Die Ergebnisse sind seit Jahren zu beobachten. Prozyklisches Sparverhalten mit negativen deflatorischen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. Fehlende Binnennachfrage bei hohen aber fraglichen Wachstumsraten in der Außenwirtschaft, insbesondere auch durch eine massive Lohnpolitik der Umverteilung zur Gewinnquote verursacht, und auf Grund des Sparparadoxon immer mehr – und nicht wie behauptet – weniger Staatsverschuldung. Mit einer solchen Politik fallen wir weit hinter den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Keynesianismus zurück und leben letztlich nicht über, sondern unter unseren Verhältnissen. [2] Womit auch die Frage beantwortet ist, wer hier eigentlich der Ewiggestrige ist.

Wer Keynes gelesen hat, wird aber auch wissen, dass er selbst nicht nur eine kurzfristige Sicht der Dinge hatte. In seiner Langfristanalyse kapitalistischer Ordnungssysteme, darauf hat in einem Aufsatz noch einmal Norbert Reuter ausführlich aufmerksam gemacht, [3] ist Keynes nicht bei einer antizyklischen Fiskal- und Geldpolitik stehen geblieben, sondern hat auf Grund prognostizierter abnehmender Wachstumsraten in entwickelten und reifen Industriestaaten bei gleichzeitig steigender Produktivität zur Lösung der dadurch entstehenden strukturellen Beschäftigungsfrage nur eine drastische Arbeitszeitverkürzung gesehen. „Es kommt ein Punkt“, schreibt Keynes bereits in der „Allgemeinen Theorie“, „an dem jeder Einzelne die Vorteile vermehrter Muße gegen vermehrtes Einkommen abwägt.“ Der unaufhaltsam voranschreitende Produktivitätsanstieg bietet dazu alle Möglichkeiten. Wir wirtschaften nicht um länger zu arbeiten und den Reichtum einer kleinen gesellschaftlichen Schicht immer mehr zu steigern, sondern Sinn des Wirtschaftens ist weniger zu arbeiten um der durch Arbeitsteilung entfremdenden und vielfach eintönigen Arbeit zu entfliehen. Arbeitszeitverkürzung ist deshalb auch die Voraussetzung, ja die Grundbedingung, zur Realisierung wirklicher menschlicher Freiheit. [4] Wie erbärmlich sind dagegen die heute vorgetragenen neoliberalen Diffamierungen der Arbeitnehmerschaft und der Arbeitslosen, sie seien überbezahlt, arbeiteten im „Freizeitpark Deutschland“ (Helmut Kohl) zu wenig, seien faul und arbeitsscheu. Einmal abgesehen von derartig menschenverachtenden neofeudalen Angriffen auf Arbeitnehmer und Arbeitslose, ist dies eine zutiefst unökonomische Bewertung. Wer glaubt die bestehende Massenarbeitslosigkeit mit einer Bekämpfung von Arbeitslosen und längerer Arbeitszeit ohne Bezahlung lösen zu können, den kann man ökonomisch nun wirklich nicht mehr ernst nehmen. Erhard Eppler sollte deshalb das Buch von Albrecht Müller noch einmal lesen und sich klarmachen, dass es nicht darum geht einen Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und SPD auf Basis einer neoliberalen Politik herbeizuführen und sich darauf zu verständigen, „was am Sozialstaat unter allen Umständen zu verteidigen ist,“ sondern dass es darum geht, den Neoliberalismus in dem oben beschriebenen Duktus in seine Schranken zu verweisen.


[«1] Vgl. Bontrup, Heinz-J., Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratisierte Wirtschaft, Köln 2005

[«2] Vgl. Bofinger, Peter, Wir sind besser, als wir glauben. Wohlstand für alle, München u.a. 2005

[«3] Vgl. Reuter, Norbert, Antizyklische Fiskalpolitik und deficit spending als Kern des Keynesianismus? Eine „schier unausrottbare Fehlinterpretation“, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 3/2004, S. 325ff.

[«4] Vgl. Fetscher, Iring, Arbeit und das „gute Leben, in: Freytag, Tatjana/Hawel Marcus (Hrsg.), Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main 2004, S. 55ff.


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