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Titel: Neoliberales Modell USA?

Datum: 6. Juli 2005 um 15:17 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Gesundheitspolitik, Ungleichheit, Armut, Reichtum, USA
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Von Joachim Jahnke.

Neben Großbritannien, das Tony Blair als Beispiel für Europa verkauft, preisen die Neoliberalen in Deutschland vor allem die USA als Vorbild für ein erstrebenswertes Wirtschaftssystem an. In der Tat breitet sich dieses System immer stärker um den Globus herum aus, wobei ihm in jüngerer Zeit besonders mehrere EU-Beitrittsländer zugewachsen sind und damit das neoliberale Element in der EU weiter stärken. Die Entwicklung dieses Modells in den USA verlief ziemlich natlos über die Monetaristen mit Milton Friedman von der sogenannten Chicago School, der den staatlichen Einfluß dezimieren wollte und sich für einen „laissez-faire Kapitalismus” einsetzte, die verschiedenen Angebotstheoretiker, Reagonomics, Clintons „New Democrats” bis zu den heute tonangebenden rechtskonservativen Bush-Republikanern, die sich das Ziel einer weltweiten Verbreitung ihres neoliberalen Konzepts gesetzt haben. Dabei stammen die keine Sozialbindung kennenden amerikanischen Eigentumsvorstellungen noch aus der Siedlerzeit und haben sich neuerdings mit dem religiösen Fundamentalismus vermengt.

Wie bei Großbritannien bewundern die deutschen Anhänger das geringe Niveau an Arbeitslosigkeit – meist jedoch ohne die vielen Schattenseiten der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu hinterfragen. Hierzu einige kritische Schlaglichter:

I. Wachsende Ungleichheit und private sowie öffentliche Verschuldung

Die USA haben die bei weitem größte Ungleichheit in der Einkommensverteilung unter allen hochentwickelten Industrieländern. Der Vergleich zu Deutschland fällt sehr deutlich aus: in den USA ist der Unterschied zwischen dem Anteil am Gesamteinkommen der 10 % Spitzeneinkommen und dem der 10 % untersten Einkommen mehr als doppelt so groß (Abb. 12009). Das obere Fünftel monopolisiert etwa die Hälfte aller Einkommen (Abb. 12010). Da kann es nicht überraschen, wenn die Federal Reserve in “Recent Changes in U. S. Family Finances” auch ein ungleiches Anwachsen der Vermögen feststellt, nämlich in der Gruppe der 10 % Spitzeneinkommen zwischen 1992 und 2001 um mehr als 90 %. Das eine Prozent der Familien an der Spitze besaß bereits 30 % aller Vermögenswerte, die obersten 10 % sogar 65 % (Wert für Deutschland: 47 %). Der Trend zu immer mehr Ungleicheit dürfte sich in den letzten Jahren fortgesetzt haben, zumal sich die Aktienmärkte inzwischen wieder erholt haben. Symptomatisch dafür ist der Anstieg der Zahl der Millionäre in 2004 um 10 %. Dagegen galten bei 36 Millionen Armen im Jahr 2003 18 % aller Kinder als arm.

Einkommensverteilung (Verhältnis der Einkommen der Spitzenverdiener zu dem der Niedrigstverdienenden

Einkommensverteilung in USA

Seit Jahren wächst die private und öffentlichen Verschuldung steil an – Reflex eines Landes, das weit über seine Verhältnisse lebt (siehe Abb. 0301). Die private Verschuldung baut auf dem von einer enormen Hauspreisblase abgeleiteten angeblichen Reichtum auf (siehe hier). Der Immobilienboom ist der größte in der amerikanischen Geschichte, aber wie lange hält er an und wann platzt die Blase? Wenn sich der bisherige Trend von 2005 fortsetzt, wird die öffentliche und private Verschuldung der USA Ende 2005 auf Jahresbasis umgerechnet den astronomischen Betrag von etwa 26.000 Milliarden US$ erreichen; das ergibt etwa 186.000 US$ für jeden Beschäftigten in den USA. Die öffentliche Verschuldung lag Ende Mai 2005 mit 7.778 Milliarden US$ um mehr als 8 % höher als ein Jahr vorher (d.h. weit über dem nach dem EU-Stabilitätspakt fuer die Europartner erlaubten Wert). Die Lage des amerikanischen Haushalts hat sich dabei von einer Überschußposition noch im Jahre 2001 in ein gewaltiges Defizit von über 400 Milliarden Dollar in 2004 gewandelt, das in 2005 weiter auf etwa 425 Milliarden Dollar anwachsen soll (siehe Abb. 03001).

Private und öffentliche Verschuldung der USA

Haushaltssaldo der USA

Das amerikanische Handelsdefizit ist bereits in die jährliche Größenordnung von über 700 Milliarden Dollar explodiert, und der negative Trend hat sich bisher trotz Dollarabwertung nur wenig abgeschwächt (siehe Abb. 0302). Das Leistungsbilanzdefizit insgesamt bewegt sich auf 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu (siehe Abb. 1208). Um dieses enorme Defizit zu finanzieren, sind die USA zum größten Kapitalimportland der Welt geworden.

US Handelsbilanz (Monatsdurchschnitte)

Leistungsbilanzen 2000 - 2004 in Prozent BSP US Dollar

II. Krise der Sozialsysteme

45 Millionen Menschen oder fast 16 Prozent haben keinerlei Krankenversicherung – ein Anstieg um acht Millionen Menschen im wesentlichen aus der Amtszeit Präsident Clintons. Die staatliche Altersversorgung deckt nur etwa die Hälfte der Alterseinkommen. Wie in Großbritannien sind weitgehend private Pensionssysteme der Unternehmen an die Stelle staatlicher Vorsorge getreten. Die haben dann zwei Drittel des Kapitals in Aktien investiert. Im Durchschnitt basieren die Systeme auf der Annahme eines boomenden Aktienmarktes mit jährlichen Erträgen auf das angesammelte Vermögen von fast neun Prozent, während tatsächlich in den vergangenen Jahren nur wenig mehr als ein Prozent erzielt wurde. Der Staat betreibt zusätzlich eine teilweise staatliche Rückversicherung dieser privaten Systeme, um wenigstens Mindestzahlungen zu sichern; sie steht allerdings in keinem Verhältnis zu der wachsenden Unterdeckung der privaten Pensionssysteme. Da andererseits nur wenig mehr als die Hälfte der Amerikaner Ersparnisse für die Rentenzeit ansammelt, braut sich hier ein enormes Problem zusammen.

III. Entindustrialisierung und Arbeitszeitausbeutung

Der Anteil von Industriearbeit liegt nach ständigem Rückgang nur noch bei knapp 11 % (Abb. 12011). An die Stelle hochqualifizierter Industriebeschäftigung ist viel stärker noch als in Deutschland und Frankreich eine Berufsstruktur getreten, die von – oft niedrig bezahlten – Dienstleistungsjobs und Teilzeitarbeit mit häufigem Berufswechsel (“hire and fire”) bestimmt ist. Die amerikanische Wirtschaftsleistung beruht vor allem auf einem sehr hohen Niveau von Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit übersteigt die deutsche oder französische um mehr als 1/3 oder 452 Stunden (Abb. 12012).

Anteil der Industrie an der Beschäftigung

Arbeitsstunden pro Jahr der Beschäftigten

IV. Öffentliche Infrakstuktur

Die öffentliche Infrastruktur ist vor allem im Gesundheitswesen und bei normalen, nicht-privilegierten Schulen, erheblich schlechter als in Deutschland oder Frankreich. Das gilt vor allem für die Ausstattung mit Krankenhausbetten und Ärzten (Abb. 12013).

Krankenhausbetten und Ärzte pro 100.000 Einwohner

V. Kriminalität

Die sozialen Diskrepanzen haben zum Entstehen einer Unterklasse und in der Folge eines Justizsystems beigetragen, das sich nicht zuletzt in einer unter westlichen Industrieländern einmalig hohen Gefängnisbevölkerung dokumentiert, die im Vergleich zu Deutschland per 100.000 Einwohner achtmal höher liegt.

Quelle: www.jjahnke.net
Dies ist eines der Schwerpunktthemen auf der Webseite von Joachim Jahnke zum Buch “Deutschland global: Mit falschen Rezepten in die Globalisierung”.


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