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Titel: „Aus dem Zusammenhang gerissen“: ein gerissenes Argument

Datum: 5. März 2012 um 9:29 Uhr
Rubrik: Bundespräsident, Soziale Gerechtigkeit, Wertedebatte
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Wie man die Kritik an den Aussagen des Herrn Gauck wegzuargumentieren versucht und warum dieser Versuch den Gauck-Verteidigern permanent auf die eigenen Füße fällt. Von Holdger Platta

Wie oft haben wir Kritiker des Herrn Gauck in den letzten Tagen zu hören bekommen, wir „rissen“ dessen Aussagen „aus dem Zusammenhang“. Gauck meine das genaue Gegenteil von dem, was wir ihm „unterstellten“, und in Wahrheit treibe uns doch nur eine einzige Absicht an: nachträglich den ostdeutschen Kommunismus wiederhochleben zu lassen, und Gauck sei bei diesen unseren Versuchen lediglich ein mächtiger – nicht zuletzt wortmächtiger – Kontrahent. Wer gegen Gauck sei, der sei für die DDR. Und wer gegen die DDR sei, der sei für Herrn Gauck. Entweder – Oder! Achja, wenn die Welt so einfach zweifach wäre…

Erstens: ob Friedrich Schorlemmer oder Ingo Schulze, ob Jutta Ditfurth oder Daniela Dahn – keine und keiner von uns „will die alte DDR zurück“. Und viele von uns – die soeben genannten: alle! – können belegen, daß sie sich vielfach gegen die alte DDR positioniert haben (was mich betrifft, so lese man im Internet meine „Sieben Thesen zur Stille im Land“ nach, dort vor allem den siebenten Abschnitt!). Wir alle können leicht das Gegenteil beweisen und haben deswegen auch „leicht“ reden. Was jedoch die Frage aufwirft, zweitens:

Gilt das auch für diejenigen, denen der Gegenbeweis nicht zur Verfügung steht? – Der fatale Effekt dieser Art von ‚Argumentation’ – wir alle wollten insgeheim die DDR zurück – besteht darin, daß man mit dieser Unterstellung den Gauck-Kritikern deren Anfechtbarkeit ins Menscheninnere verlegt und diese Unterstellung damit unwiderlegbar macht. Nicht der Angreifer muß seine Verleumdung belegen. Nein, wir müssen widerlegen, daß diese Verleumdung nicht stimmt. Aber wie macht man das: die Wahrheit des eigenen Inneren belegen, nachweisbar, überprüfbar? Und deckt sich das mit den Grundregeln unseres Rechtsstaats? Mit der „Unschuldsvermutung“? Haben wir es hier mit klaren Beweisen unserer Kritiker zu tun und mit sauberer Argumentation?

Nichts von alledem: bei öffentlichen Debatten im Rechtsstaat Bundesrepublik herrschen andere Gesetze als im anständigen Leben. Im Bereich der Politik, da zieht noch jede argument- und beweisfreie Denunziation, da dürfen vor allem die machtgetreuen Verdächtiger Platz nehmen bei Illner, Plasberg sowie Will und ihren Unfug von sich geben. Nochmal: ein Schorlemmer oder eine Dahn, ein Schulz oder eine Ditfurth, die hätten bei einer derartigen Talkshow nichts zu befürchten. Aber was wäre mit jenen, die sich zum Thema DDR nicht geäußert haben, unter anderem deshalb, weil sie bislang niemand gefragt hat? Die wären bei diesen Fernsehdisputen mit „Staatsanwälten“ konfrontiert, die gleichzeitig auf „Scharfrichter“ machen. Und ein „Verteidiger“ wäre weit und breit nicht in Sicht. Was auch für die sogenannten „ModeratorInnen“ gilt.

Doch zurück zum ‚Argument’, wir hätten mit unserer Kritik an den Äußerungen des Herrn Gauck schon deswegen Unrecht, weil alle diese Äußerungen „aus ihrem Zusammenhang gerissen worden“ seien. Nun, ich lasse hier einmal beiseite, daß es Äußerungen gibt, die auch ein Zusammenhang nicht zu retten vermag. Gaucks Verdikt zum Beispiel über die weltweite „Occupy“-Bewegung: die Aussage, diese sei „unsäglich albern“, war laut SPIEGEL vom 16. Oktober 2010 lediglich mit der Zusatzbehauptung versehen, daß es, Gauck zufolge, eine „romantische Vorstellung“ sei, von einer Welt zu „träumen, in der man sich der Bindung von Märkten entledigen könne“. Tja, stellt das ein Argument und eine Begründung dar, gar einen Gegenbeweis? Darf man das den „rettenden Zusammenhang“ nennen? Oder ist das dieselbe Behauptung – „unsäglich albern“ -, lediglich mit einem anderen Herablassungsakzent? Doch bevor die Gauckler in Atemnot geraten:

Ich schenke unseren Kritikern diesen Punkt! Ich schenke ihnen diesen Punkt und behaupte wie sie: jawohl, in Wahrheit hat Gauck mit seinen zitierten Aussagen jedesmal etwas ganz anderes gemeint, als wir aus diesen Zitaten – jawohl, jawohl – „herausgelesen“ haben, und womöglich hat Gauck sogar – jawohl, jawohl, jawohl – in allen Fällen das genaue Gegenteil gemeint. Heißt: für Gauck ist die „Occupy“-Bewegung eigentlich eine ganz prima Sache! Hartz-IV ist für diesen Seelenhirten durch und durch schlecht. Und wir alle – „unsäglich albern“ – haben ihn fortwährend nur mißverstanden. O.K., aber was bedeutet dann dieses?

Wir sind damit beim dritten Punkt: Gauck formulierte demzufolge – schaut man die Kehrseite der Kritik an, die unsere Kritiker an uns Kritikern üben, – seine Ansichten ungeheuer oft so, daß ungeheuer viele Mitmenschen ihn ungeheuer oft mißverstehen. Der angeblich so hochbegabte Redner Gauck gäbe in ungezählter Häufigkeit Sätze von sich, die mißverständlich seien, Sätze, die erst des gesamten „Zusammenhanges“ bedürften (aus dem sie „gerissen worden“ seien), um unmißverständlich zu sein und Gauck vor unberechtigter Kritik zu bewahren. Tja, das bei einer Person, deren einzig nennenswerte Funktion in der Öffentlichkeit als Bundespräsident darin bestehen sollte, menschenfreundlichen Klartext reden zu können!

Mir scheint, dieses „Argument“ unserer Gegner – wir „rissen“ permanent Zitate von Gauck “aus deren Zusammenhang“ und wir Kleingeister verstünden deswegen den Großredner permanent falsch –, dieser Vorwurf fiele unseren Gegnern selber auf die Füße zurück. Einverstanden: damit wäre Gauck „eigentlich“ ein guter Kerl, er wäre überhaupt nicht so bös’, wie wir seinen Sätzen zu entnehmen glaubten. Aber er wäre damit ein guter Kerl, der sich permanent nur falsch zu äußern vermag! Einverstanden, ich sage es nochmal. Doch gleichwohl nachgefragt: das sollte dann besser für uns sein? Ein neuer Bundespräsident, der unablässig eines Dolmetschers bedürfte, um zutreffend und zweifelsfrei verstanden zu werden, ein Bundespräsidenten, der quasi noch einen zweiten Bundespräsidenten benötigte, damit all diese Mißverständnispannen nicht passieren? Mag sein, Gauck eroberte damit zu Recht den Anspruch zurück, ein „Kandidat der Herzen“ zu sein. Eines wäre er dann aber auch: ein Kandidat der permanenten Mißverstehbarkeiten.

Mit anderen Worten: wir bekämen mit Gauck einen Munkel-Mann zum Präsidenten, einen Schwammigkeits-Redner, einen Unklarheits-Apostel, einen Nebeldampfplauderer und Mißverständnis-Produzenten ohne Unterlaß. Der aus dem Zusammenhang gerissene Gauck ist nichts anderes als die Variante einer gerissenen Talmi-Argumentation.

Mein Vorschlag deshalb, wir sollten lieber bei der Wahrheit bleiben: Gauck meint genau das, was er sagt, und wir verstehen genau das, was er meint. Da bedarf es auch irgendwelcher „Zusammenhänge“ nicht. Ein Präsidentschaftskandidat, der für den Zusammenhalt der Gesellschaft eintritt und nicht Stimmung macht gegen ganze Bevölkerungsgruppen – insbesondere gegen jene ‚ganz unten’ -, ein solcher Präsidentschaftskandidat darf nicht unaufhörlich angewiesen sein auf „rettende Zusammenhänge“. Und er darf auch nicht angewiesen sein auf einen fortwährend im Einsatz befindlichen – möglichst klon-identischen – Zweit-Präsidenten, der ab Amtsbeginn für’s Klardeutsch des Erst-Präsidenten zuständig wäre.

Und damit, zum Abschluß, noch ein kleines Apropos – viertens denn also:

In den letzten Wochen wurde gleich mehrfach bei den Talkshows von „Exegese“ gesprochen, wenn es um die „richtige“ Auslegung der Gauck-Aussagen ging. Das ist hochinteressant! Natürlich, unter „Exegese“ verstand man anno dunnemals nichts anderes als – ganz allgemein – die „Wissenschaft der Erklärung und Auslegung eines Textes“ (so unter anderem mein Fremdwörter-DUDEN). Doch wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert inzwischen, und seit langem wird dieser Begriff nur noch für die Auslegung der Bibel benutzt. Entsprechend mein Fremdwörter-DUDEN: „Exegese“, das meine vor allem Bibelinterpretation, ein „Exeget“ sei ein Fachmann für die Auslegung der „Heiligen Schrift“, „Exegetik“ ein „Teilgebiet der Theologie“.

Heißt das, wir haben es bei den Aussagen von Herrn Gauck mit Gottes Wort zu tun?

Ich frage ja nur.

Amen.


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