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Titel: Die „Ermächtigung“ des Herrn Gauck oder die späte Rache der ehemaligen DDR an der alten Bundesrepublik

Datum: 13. März 2012 um 8:59 Uhr
Rubrik: Bundespräsident, Grüne, SPD
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Am 18. März wird der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Anders als vor knapp zwei Jahren als Christian Wulff sich gegen Joachim Gauck erst im dritten Wahlgang durchsetzen konnte, dürfte der neue Bundespräsident schon bei der ersten Abstimmung eine überwältigende Mehrheit der Stimmen aus der Bundesversammlung bekommen. Joachim Gauck hat die Unterstützung der Führungsgremien von CDU, CSU, FDP, SPD und der Grünen. Die von diesen Parteien entsandten Wahlleute stellen 1.100 der 1.240 Mitglieder der Bundesversammlung. Selbst wenn einige Wahlmänner oder Wahlfrauen Joachim Gauck nicht wählen wollen oder können, wird die von der Partei die LINKE benannte Gegenkandidatin Beate Klarsfeld keinerlei Chance haben, denn nach aller Erfahrung folgen die Wahlleute bei der Stimmabgabe den Empfehlungen ihrer Parteiführungen. Wenn sie allerdings Gaucks Texte und Reden lesen würden, dann müssten zumindest die Sozialdemokraten, die Grünen und jene vom Arbeitnehmerflügel der Union gegen ihn stimmen, wenigstens im ersten Wahlgang. Von Wolfgang Lieb.

Anders als alle seine Vorgänger im höchsten Staatsamt hat Gauck kein politisches Spitzenamt inne gehabt, aus dessen Ausübung sich die Mitglieder der Bundesversammlung ein Bild über den Stil und vor allem über das tatsächliche politische Handeln des zur Wahl stehenden Kandidaten machen könnten. Gaucks frühere Tätigkeit ab 1990 als „Sonderbeauftragter der Bundesregierung“ und ein Jahr später als „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ – ein Amt, das er zehn Jahre lang ausübte – ließ angesichts dessen Zuständigkeit nur einen begrenzten Einblick auf das Denken und Handeln des neuen Bundespräsidenten zu.

So viel lässt sich aber über diese Amtsausübung sagen: Man kann Verständnis dafür aufbringen, dass sich Gauck angesichts seiner persönlichen Erfahrungen in der ehemaligen DDR auf die Seite der Opfer der Stasi stellte, aber es war nicht sein Auftrag, Ankläger und Richter zugleich zu sein und es war schon gar nicht die Aufgabe seines Amtes moralische Urteile zu fällen. Gauck hat sich als Opfer verstanden und hat sich gleichzeitig zum Richter über die Täter aufgeschwungen. Es ist, wie wenn in einem Strafgerichtsverfahren der Staatsanwalt gleichzeitig der Richter wäre. Aus einem, der aufklären sollte, wurde ein Jäger. Dieses Verständnis hat ihn schon bei seiner ersten Kandidatur vor zwei Jahre gewiss nicht für das doch auf gesellschaftliche Integration und Ausgleich angelegte Amt eines Bundespräsidenten ausgezeichnet.

Mit der Prominenz, die ihm durch seine damalige Gegenkandidatur gegen Christian Wulff zugewachsen ist, konnte Gauck seither als selbsternannter „Demokratielehrer“ durch die Lande ziehen und dabei mit großer medialer Unterstützung Sympathien in breiten Teilen der Bevölkerung erwerben. Dennoch: Joachim Gaucks Bild in der Öffentlichkeit ist wesentlich von den Medien geprägt, sowohl die Bürgerinnen und Bürger als auch die Wahlleute können sich in ihrem Urteil über ihn im Wesentlichen nur auf das Medienecho und auf seine Worte stützen.

Niemand sollte sagen können, er habe es nicht gewusst, wem er seine Stimme gab

Niemand sollte aber nach der Wahl sagen dürfen, er habe nicht gewusst oder nicht wenigstens geahnt, wem er seine Stimme gegeben hat. Nur wenige Stunden nachdem sich die Koalition und die Oppositionsparteien SPD und Grüne auf Joachim Gauck als zukünftigen Bundespräsidenten festgelegt hatten, brachte der zur bertelsmannschen Verlagsgruppe Random House gehörende Kösel-Verlag einen Text von ihm mit dem Titel „Freiheit, Ein Plädoyer“ auf den Markt. Einen besseren Zeitpunkt, einen Bestseller zu landen, konnte es nicht geben. Tatsächlich ist eine so dünne und dürftige Schrift für zehn Euro eher Betrug am Leser. Aber dennoch sollten wenigstens die Wahlleute, die politisch und weltanschaulich eher den Sozialdemokraten oder den Grünen zuneigen, sich der kleinen Mühe unterziehen und sich das Gaucksche Plädoyer für die „Freiheit“ (das auf einer Rede anlässlich des Neujahrsemfangs der Evangelischen Akademie Tutzing im Januar 2011 basiert) vor ihrer Stimmabgabe einmal zu Gemüte zu führen. Sie könnten dort authentisch nachlesen, wes Geistes Kind der neue Bundespräsident ist.

Freiheit, Verantwortung und Toleranz als „globale Leitkultur“

„Freiheit, Verantwortung und Toleranz“ sind für Gauck nicht nur seine persönlichen Grundwerte, sondern er verkündet diese Begriffstrias als die drei „Wesensmerkmale“ als „Grundlage einer globalen Leitkultur“ (S. 3). In der ihm eigenen Bescheidenheit, gibt sich Gauck nicht etwa mit einem persönlichen Vorschlag zufrieden, nein, seine Definition der Grundwerte soll gleich eine „globale Leitkultur“ prägen.

Die Freiheitsidee findet sich in den Grundsatzprogrammen nahezu aller politischen Richtungen, deshalb ist für die Ausfüllung des Freiheitsbegriffs vor allem das Spannungsverhältnis mit anderen Grundwerten entscheidend. Für Gauck soll nicht mehr die aufklärerische Parole der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – die Grundlage der europäischen Demokratie -, auch nicht die aus der Arbeiterbewegung stammende Losung „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ und es sollen auch nicht die nach wie vor auf dem Papier stehenden Grundwerte der CDU „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“ das gesellschaftliche, ja sogar das globale Zusammenleben leiten. Sein Freiheitsbegriff steht im Spannungsverhältnis zu persönlicher „Verantwortung“ und einem sehr eigentümlichen Verständnis von Toleranz.

Die Wertetrias der FDP

Sucht man nach den geschichtlichen Wurzeln der Gauckschen Wertetrias, so liegt die Geistesverwandtschaft näher als man vielleicht denken mag: In der Bundessatzung der „Freien Demokratischen Partei“ heißt es in § 1 Abs. 2: „Die FDP ist die liberale Partei in Deutschland. Verpflichtendes Ziel für alle Liberalen ist die Stärkung von Freiheit und Verantwortung des einzelnen. Die FDP steht für Toleranz und Weltoffenheit, für eine Ordnung der sozialen Marktwirtschaft und für den freiheitlichen Rechtsstaat.“

Angesichts dieser programmatischen Gemeinsamkeit ist es nicht weiter erstaunlich, dass der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler Gauck zum Kandidaten der „Liberalen“ ausgerufen hat. Einen authentischeren Vertreter der Programmatik der FDP konnte er kaum finden. Die FDP dürfte also ihre Freude an Gauck haben.

Auch wenn sich die CDU-Vorsitzende Angela Merkel aus Prestigegründen zunächst geziert hat, hat sie von Gauck als Kanzlerin und für ihre Partei nichts Anstößiges zu befürchten, stehen doch „Gerechtigkeit“ oder „Solidarität“ bei den Christdemokraten längst nur noch auf Papier und diese Werte spielen allenfalls in Sonntagsreden beim Arbeitnehmerflügel noch eine Rolle. In der praktischen Politik hat sich die CDU-geführte Regierung von diesen beiden Grundwerten seit Jahren verabschiedet. Jedenfalls dürfte man Mühe haben, irgendeine politische Entscheidung der letzten Zeit zu finden, die mit Gerechtigkeit und Solidarität in Einklang zu bringen wäre.

Was meinen aber die Sozialdemokraten, für die doch „Solidarität“ – also die Bereitschaft der Menschen, füreinander einzustehen und sich gegenseitig zu helfen – erst die Macht zur Veränderung hin zu mehr Freiheit und gleichen Lebenschancen darstellt? Oder wie stellen sich die Grünen dazu, dass der Grundsatz der „Gerechtigkeit“ für Gauck keine tragende Rolle spielt?

Jeder ist seines Glückes Schmied

Gauck entwickelte seinen Freiheitsbegriff – wie er selbst schreibt – als „Insasse“ (S.20) der ehemaligen DDR als „Sehnsucht“ in seinen Gedanken. „Freiheit“ als „das Allerwichtigste im Zusammenleben“ heißt für Gauck nicht eine „ungebundene“, „ungezügelte“ Freiheit „von etwas“, sondern Freiheit „für etwas“ und „zu etwas“ (S.16). Freiheit sei eine Lebensform der (Selbst-) “Ermächtigung“ (S. 38). Es ist der typisch liberale, individuelle Freiheitsbegriff, der nicht nach den persönlichen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen fragt „für was“ und „zu was“ der Einzelne seine Freiheit überhaupt wahrnehmen kann. Er verlangt eine persönliche Haltung zur Freiheit und fragt nicht nach der gesellschaftlichen Verfasstheit der Freiheit. Gauck nimmt den einzelnen in Verantwortung und nicht die Politik. Jeder ist eben seines persönlichen Glückes Schmied. Es geht nicht um die Freiheit der größtmöglichen Zahl, sondern um die persönliche Freiheit des Einzelnen sein Leben zu gestalten – egal ob reich oder arm, ob oben oder unten.

Verantwortung als individuelle „Ermächtigung“

Dementsprechend beklagt Gauck das „merkwürdige Unvermögen“ vieler Menschen aus der ehemaligen DDR, den Schritt von der „Sehnsucht nach Freiheit“ zur „Gestaltung von Freiheit“ (S. 24) zu tun. Gestaltung von Freiheit heißt für ihn, die Fähigkeit einzuüben, „ja zu sagen zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung“. Und dieses Ja sagen nennt er „Verantwortung“. Damit meint er „die Bezogenheit auf das eigene Selbst hintanzustellen“ (S. 26). Wir seien „geboren zur Lebensform der Bezogenheit“. Das belegt er individualistisch am Beispiel der Mutterliebe seiner Tochter (S. 29) und nicht etwa in Bezug auf gesellschaftliches Zusammenleben. Der „wunderbaren Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen“ gibt er sogar eine bibelexegetische Fundierung. In unserer Verantwortungsfähigkeit stecke ein Versprechen, das dem Einzelnen wie dieser ganzen Welt gelte: „Wir sind nicht zum Scheitern verurteilt“, so lautet die seelsorgerische Verheißung des Hirten, der sich zum Staatsmann aufschwingen möchte. Gauck ist ein Theologe der Beschwichtigung und nicht der Befreiung, seinen pastoralen Auftrag versteht er nicht als Mahner gegen Ungerechtigkeit und er will nicht den Armen und Gedemütigten seine Stimme leihen.

„Verantwortung“ oder „Hinwendung“ sei eine Lebensform von “Ermächtigung“, von „Erfülltheit“, die sich bei Jugendlichen etwa durch ein Engagement bei der „Freiwilligen Feuerwehr“, im Fußballverein oder beim gemeinsamen Musizieren auspräge (S.41f.). Jeder einzelne erfüllt seine Verantwortung eben wie er kann: Die einen finden ihre Erfüllung durch ihr Engagement im Verein und die anderen „ermächtigen“ sich, Firmen zu lenken, Medien zu steuern oder eben schlicht mit ihrem „Vermögen“ gesellschaftliche und politische Macht auszuüben – jedem das Seine eben. Es ist die inhaltsleere Formel, die nichts darüber aussagt, was einem jeden als das Seine zusteht, mit der sich Unterdrückung genauso ebenso rechtfertigen lässt wie materielle Ungleichheit. Es ist also nur logisch, wenn für Gauck das Streben nach mehr Gerechtigkeit als Grundwert nicht vorkommt und schon gar nicht kommt die Solidarität als Mittel zur Durchsetzung einer gerechteren Gesellschaft vor.

Toleranz als Missionsauftrag für westliche Werte

Ziemlich zusammenhanglos zu „Freiheit“ und „Verantwortung“ wendet sich Gauck „zum Schluss“ seines Plädoyers der „Toleranz“ zu. Einen Bezug zur Verantwortung stellt er ausschließlich über die negative Abgrenzung der Toleranz von der „Gleichgültigkeit“ her: „Gleichgültigkeit ist vielmehr ein anderer Name für Verantwortungslosigkeit“. (S. 47)

Gauck tischt dabei die nicht gerade originäre Erkenntnis auf, „dass eher diejenigen, die ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen Werte sicher sind, die Werte von Fremden zu würdigen bereit sind, weil sie das Fremde weniger fürchten“ (S. 49) Die Aussage, dass wir den zu fürchten hätten, der weder wisse, wozu er da ist, noch, was er glaubt, der sich gekränkt und klein fühle und auf vermeintliches oder tatsächliches Unrecht, das ihm angetan wurde, mit massiver Gegengewalt reagiere, mag man noch als vulgäre Psychologie abtun. Ungeheuerlich, ja geradezu gefährlich wird dieses Gerede, wenn daraus eine Erklärung für den Terror des Nationalsozialismus abgeleitet wird:

„So wie unser Land in seine größte Katastrophe kam (? (WL)) und den allergrößten nationalen Übermut entwickelte, als es klein und niedergetreten war, als es gerade kein starkes Ich hatte nach dem Ersten Weltkrieg. Da entstand als Gegenbewegung eine fürchterliche Hybris, die unsere Nation überhöhte und unsere Herrschaft jedem anderen notfalls (? (WL)) mit Gewalt aufzwingen wollte.“ (S. 51)

Einmal abgesehen, dass der Holocaust dabei völlig ausgeblendet bleibt, ist das eine Analyse des Faschismus, die geradezu eine zynische Verharmlosung darstellt.

Toleranz bedeutet für Gauck vor allem die Besinnung auf die Werte der christlich-jüdischen Dogmatik, auf internationale Konventionen, auf die Menschenrechte die es als universell, unveräußerlich und unteilbar zu verteidigen gelte. Er beklagt, dass im Diskurs zwischen unterschiedlichen Kulturen „die Freude des Westens an einer bewahrenden und schützenden Freiheit kaum spürbar“ sei.

Es ist also gerade nicht der aufklärerische Toleranzbegriff, dessen Grundlage der Respekt vor dem Anderen und die Anerkennung der Gleichberechtigung unterschiedlicher Kulturen ist, nein, Gauck beklagt die „Tradition unserer antikapitalistischen Selbstgeißelung“ (S. 54). Wir sollten vielmehr für die Werte streiten, „die für den Westen Deutschlands seit 60 Jahren selbstverständlich geworden sind“ und uns nicht von Vorwürfen betroffen fühlen „wir seien Imperialisten, wir wollten ihnen unsere westlichen Werte überstülpen“. Ganz im Gegensatz zur Ideengeschichte des Toleranzbegriffes, nämlich gerade der Zurückdrängung absoluter Geltungsansprüche einzelner Religionen oder Ideologien, wird bei Gauck die Toleranz unvermittelt zum Missionsauftrag für westliche Werte über die ganze Welt.

Rechtfertigung des Bestehenden

Diesen Auftrag stützt Gauck – den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk zitierend – auf die Überzeugung, dass Europa „der beste Ort der Welt“ sei und „etwas Besseres…bisher niemand erdacht“ habe. Es ist eine nach innen und außen gerichtete Rechtfertigung des Bestehenden:

„Ja es gibt auch Mängel in unserer Demokratie und Marktwirtschaft. Wir wissen, dass das System nicht vollkommen ist und ständiger Verbesserung bedarf. Aber es ist ein lernfähiges System, das Vorbildcharakter hat.“ (S. 57)

Dieses System kannst und sollst Du nicht ändern, Du kannst Dich nur selbst ändern, so lautet sein Appell.

Diese euphorische Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse bezeichnet Albrecht Müller zu Recht als Botschaft des „Empört Euch nicht“. Gauck meint, man könne „keinen neuen, dritten Weg ersinnen“, er kenne keine Variante, die den Grundsätzen dieser westlichen Variante von Eigenverantwortung vorzuziehen wäre (S. 58) und deshalb gebe es „keinen Grund für den alt-neuen Versuch, eine neue Variante von Antikapitalismus in die politische Debatte zu bringen.“ Man müsse dieser Gesellschaft nur dabei helfen,

„daran zu glauben, dass sie den neuen Herausforderungen gewachsen sein wird.“ (S.61)

Gaucks Mission ist also die Unzufriedenheit von immer mehr Menschen am Funktionieren unserer Demokratie aufzufangen, von der verbreiteten Kritik an der Herrschaft des Finanzkapitalismus abzulenken, sich mit der herrschenden und zunehmenden Ungleichheit abzufinden, die um sich greifende Armut mit seelsorgerischen Verheißungen auf eine abstrakte Freiheit hinzunehmen und letztlich das persönliche Schicksal als eigenverantwortlich gestaltbar darzustellen.

Wir müssen nur „daran glauben“, dass alles gut wird, denn Glauben macht selig.

Wer auf Veränderung drängt ist „pubertär“

Die „Freiheit der Erwachsenen“ heiße „Verantwortung“ (S. 62, auch S. 26), so Gaucks Schlusssatz, alles was über das Bestehende hinausdrängt, ist „den Erwachsenen ein Gräuel“, es ist für ihn pubertär. Wohl auch deshalb hält er z.B. die Occupy-Bewegung für „albern“. Er kritisiert an seinen „evangelischen Brüdern und Schwestern und einigen Grünen und sozialdemokratischen Christen“, dass deren Güte und Großmut so unendlich groß seien, „dass sie fortwährend alle Schuld der Welt einräumen“ (S. 55), statt in das Loblied einzustimmen, dass Europa trotz „mancher ängstigender Krisen“ tatsächlich „der beste Ort der Welt“ sei (S. 56). Angesichts der tiefen Krise Europas kann man dies nur als Wirklichkeitsflucht zugunsten einer vorgegaukelten Scheinwirklichkeit bezeichnen.

Gauck spart nicht mit Kritik an seinen skeptischen evangelischen Brüder und Schwestern und an kritischen Sozialdemokraten oder Grünen, zu den menschenverachtenden und freiheitszerstörenden Umtrieben der Neonazis fällt ihm kein einziges verurteilendes Wort ein.

Unverbesserlicher „kalter Krieger“

Und noch etwas sollten gerade Sozialdemokraten wissen, wenn Sie Joachim Gauck zum Bundespräsidenten wählen: Sein Denken ist tief im Antikommunismus und kalten Krieg der fünfziger und frühen sechziger Jahre verhaftet. In einer Schärfe, wie dies keine relevante politische Kraft der Gegenwart noch formulieren würde, prangert er die Entspannungspolitik Willy Brandts an. Diejenigen die gegen Aufrüstung eintraten und das „Gleichgewicht des Schreckens“ als Bedrohung betrachteten, seien bereit gewesen,

„der guten Kontakte zu den Unterdrückern wegen die Kontakte zu den Oppositionellen zu begrenzen“. Trotz eines Kommunismus mit imperialen Absichten, seien sie bereit gewesen mental und militärisch abzurüsten. Zwar nur als suggestive Frage formuliert, sieht er die damalige Entspannungspolitik als „die Fortführung einer Appeasement-Politik, deren Gefährlichkeit uns in Europa bewusst sein sollte“. (S. 45)

Gauck ist Gefangener seiner negativen persönlichen Erfahrungen als „Insasse“ der ehemaligen DDR und mangels Erfahrungen im kapitalistischen Westdeutschland idealisiert er seine damaligen Sehnsüchte auf den „freien“ Westen. Das führt zu einem binären Denken: Er verdammt alles, was ihm auch nur nach Sozialismus oder gar Kommunismus riecht, und er verklärt alles, was er sich als Ideale einer freien Gesellschaft ersehnt hatte. Dass auch die westliche Welt vielfältiger und komplexer ist und mit schwerwiegenden Problemen behaftet ist, verblasst in seinem missionarischen Überschwang für die westlichen Werte.

Zugespitzt könnte man sagen: Gauck als Bundespräsident ist die späte Rache eines unterdrückten DDR-„Insassen“ an der alten Bundesrepublik.


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