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Titel: „Verrückt“ oder „böse“? Zum Prozessauftakt gegen Anders Behring Breivik

Datum: 16. April 2012 um 9:35 Uhr
Rubrik: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Innere Sicherheit, Terrorismus
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Amokläufe enden meist mit dem Tod des Amokläufers, der sich am Ende seines mörderischen Wütens selbst umbringt, von den Sicherheitskräften getötet wird oder sich von der Polizei umbringen lässt. Man hat es oft bedauert, dass man sie deswegen nicht vor Gericht stellen und der irdischen Form der Gerechtigkeit zuführen kann.
Wie schwer sich allerdings eine Gesellschaft mit einem überlebenden Amokläufer und der juristischen Wahrheitsfindung tun kann, ist seit Juli 2011 in Norwegen zu beobachten. Der Prozess gegen Anders Breivik wird am heutigen Montag beginnen und wir können gespannt sein, wie das Gericht in der umstrittenen Frage der Schuldfähigkeit entscheidet und wie es seine von Größen- und Allmachtsphantasien und paranoiden Projektionen durchtränkte Programmatik wertet: böse oder krank, Gefängnis oder Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt? Gespannt aber vor allem auch darauf, was der Prozess an wirklicher Aufklärung über die Hintergründe und Motive der Tat und für die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts der norwegischen Gesellschaft leistet. Von Götz Eisenberg

Wolfgang Schmidbauer hat in seiner „Psychologie des Terrors“ angemerkt: „Ein Mörder, der sich selbst tötet, hinterlässt in uns eine Leere. Er maßt sich nicht nur an, Richter und Henker derer zu sein, die er tötet, sondern er entzieht sich unserem Urteil, unserem Recht, unserem Wunsch, etwas von seiner Tat zu begreifen und uns mit ihm auseinanderzusetzen. Mehr als sein eigener Richter ist er sein eigener Erlöser; wir aber, Zeugen seiner Tat, bleiben unerlöst und mit allen unbeantworteten Fragen zurück. Die von diesen Tätern geschaffene Leere füllen wir zwangsläufig mit eigenen Phantasien, mit Erinnerungen, mit Mythen aus der Geschichte oder aus den Medien.“
Wie schwer sich eine Gesellschaft mit einem überlebenden Amokläufer und der juristischen Wahrheitsfindung tun kann, ist seit Juli 2011 in Norwegen zu beobachten. Es ist seltsam: Da hat man einen Täter, der ein amokartiges Massaker angerichtet hat, der überlebt und vor der Tat seine Motive auf circa 1500 Seiten eines „Manifests“ dargelegt hat – und schon erklären die Gutachter die vorgetragenen Begründungen und Motive zu Krankheitszeichen und den Täter für unzurechnungsfähig. Andere überlebende Amokläufer verbreiteten ihren Schrecken wortlos, konnten auch später die Motive ihrer Tat nicht erläutern. Wären ihnen ihre Motive selbst zugänglich gewesen, hätten sie die Tat wahrscheinlich nicht begehen müssen. Auch Justiz und forensische Psychiatrie beißen sich an solchen Fällen fast immer die Zähne aus, stellen die Suche nach den Motiven irgendwann resigniert ein – und erklären die Täter dennoch für schuldfähig und verurteilen sie. Überlebende und Angehörige von Opfern bleiben unerlöst und ratlos zurück und müssen versuchen, sich selbst einen Reim auf das Geschehen zu machen und die Gründe für die Tat herauszufinden.
Breivik nimmt die Welt wahr als einen alles kontrollierenden und beherrschenden „Multikulturalismus“, es wimmelt von Marxisten, Humanisten, Kapitalisten, Ausländern, Schwulen und lasterhaften, geschlechtskranken Frauen. Alle haben sich gegen die weiße Rasse und die abendländische Kultur verschworen. Diese Not habe nun eine westeuropäische Widerstandsbewegung in Gestalt der „Kreuzritter“ auf den Plan gerufen, die für die europäische Säuberung reiten. Er selbst sieht sich als „einzigartiger Pionier, neuer Regent Norwegens und Nachfolger des Königs“. Einmal an der Macht, will er Krankheiten ausrotten, den „norwegisch-ethnischen Pool verbessern“, die Scheidungsrate reduzieren, „Reservate für Urvolk-Norweger anlegen“ und flächendeckend DNA-Tests durchführen.

Natürlich ist das, was er in seinem Manifest schreibt, gemessen an dem, was wir für „normal“ halten, ziemlich verrückt und steckt voller paranoider Projektionen, aber warum nimmt man ihn nicht dennoch beim Wort? Klaus Theweleit hat aus den schriftlichen Hinterlassenschaften der Freikorpsmänner der frühen 1920er Jahre ein Psychogramm des Faschisten und des Faschismus herausgelesen. Fast alles, was Theweleit dort gefunden und in seinem zweibändigen Buch „Männerphantasien“ beschrieben hat, finden wir nun auch bei Breivik. Er ist die zeitgenössische Gestalt eines Faschisten, denkt und fühlt wie ein Faschist und zeigt die für einen Faschisten typischen Wahrnehmungsverzerrungen.

Auch Adolf Hitler hat in den wenigen Monaten, die er von seiner Festungshaft absitzen und im Gefängnis Landsberg verbringen musste, den ersten Teil eines ähnlich kruden und wirren Manifests verfasst, das später unter dem Titel Mein Kampf erschien. Hätte er die fünf Jahre, zu der das Volksgericht München ihn wegen des Putschversuchs von 1923 verurteilt hatte, absitzen müssen, wäre Hitler sicher auch auf 1500 Seiten gekommen. So wurde er am 20. Dezember 1924 nach nur 9 Monaten vorzeitig entlassen. Wir wissen, wie es weiterging: Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre vermasste sich im Zug der Weltwirtschaftskrise und der durch sie in Gang gesetzten kollektiven Regression auf einfachere Mechanismen der psychischen Regulation der Privatwahn eines einzelnen zum Wahnsinn einer ganzen Nation. Der renommierte deutsche Psychiater Ernst Kretschmer sagte 1919 in einer Vorlesung über „Psychopathen“: „In ruhigen Zeiten diagnostizieren wir sie, in unruhigen regieren sie uns.“

Die Psychiatrisierung eines Täters wie Breivik hat bei aller Beunruhigung zugleich auch etwas Beruhigendes. Die Annahme einer „paranoiden Schizophrenie“ hat den Vorteil, dass die Gesellschaft von ihrer Mitverantwortung freigesprochen wird: „Nun, es handelt sich eben um einen Verrückten. So etwas kommt vor, überall und zu allen Zeiten gab und gibt es Verrückte, die schlimme Sachen tun.“ Man muss sich dann nicht mit den Wurzeln des Rechtsextremismus und seiner Verbreitung in zeitgenössischen Gesellschaften auseinandersetzen. Wir brauchen damit nicht mehr in den Spiegel von Terrorismus und Amok schauen und laufen nicht Gefahr, uns darin womöglich selbst zu entdecken. Dieses Erschrecken ersparen wir uns, in dem wir den, der aus unserer Mitte heraus und möglicherweise sogar im Namen einer schweigenden Mehrheit Verbrechen und Gewalttaten begeht, für verrückt erklären.

Dieses Erschrecken hätten wir uns auch gern bei den Nazi-Tätern erspart. Mit Erleichterung hätten wir reagiert, wenn die psychologische Untersuchung der in Nürnberg angeklagten Nazi-Führer ergeben hätte, dass sie allesamt abnorme, sadistische Persönlichkeiten gewesen wären. Das waren sie aber gerade nicht. Es ließen sich bei ihnen keinerlei klinische Auffälligkeiten finden. Zum gleichen Resultat kam auch ein Gutachter im Eichmann-Prozess. Eichmann sei vollkommen normal, und er fügte hinzu: „Normaler jedenfalls, als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe.“ Das Erschrecken über die auch im Gerichtssaal von Jerusalem zu Tage getretene Normalität fasste Primo Levi in die Worte: „Es gibt Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.“
Psychiatrisiert man einen Massenmörder, ist die Gesellschaft nicht haftbar zu machen, es ist etwas geschehen, das außerhalb ihrer Mitverantwortung liegt und seine Ursache ausschließlich in der krankhaften Persönlichkeit des Täters hat. Der Amokläufer steht für sich selbst: Er repräsentiert etwas zeitlos Böses und wird medial als zeitgenössische Gestalt des Teufels dargestellt und inszeniert.

Schon lang vor Prozessbeginn ist in Norwegen ein heftiger Streit über das Ergebnis des ersten psychiatrischen Sachverständigengutachtens entbrannt. Im Januar 2012 hat das Gericht nach Protesten vor allem der Opferanwälte schließlich ein zweites in Auftrag gegeben. Es scheint nach wie vor so zu sein, wie Gerhard Mauz es vor vielen Jahren beschrieben hat: „Bereits bei der Auswahl der Sachverständigen fallen Vorentscheidungen, und so wie sich die forensische Psychiatrie und Psychologie darbieten, hat jeder Verfahrensbeteiligte im Kopf oder im Schreibtisch eine Liste der Sachverständigen, die seiner jeweiligen Erwartung mit der größten Wahrscheinlichkeit (ja sogar mit absoluter Sicherheit) entsprechen werden.“ Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verteidigung, so Mauz weiter, bestellten „forensische Sachverständige wie Waffen beim Versandhandel.“ So kann es nicht wundernehmen, dass das zweite Gutachten zu einem vollkommen anderen Ergebnis gelangte: Breivik weise keinerlei Zeichen einer psychotischen Erkrankung auf und sei zum Tatzeitpunkt voll zurechnungsfähig gewesen. Breivik selbst hatte gekränkt reagiert, als man seine Motive zu Symptomen einer schizophrenen Erkrankung erklärt hatte, und zeigte sich über den Ausgang der zweiten Begutachtung hoch erfreut. Breivik wünscht, bestraft zu werden, weil die Strafe ihn im Sinne Hegels als vernünftiges und verantwortliches Wesen ehren würde. Ein unvernünftiges Tier, so können wir hinzusetzen, kann nur gezüchtigt, ein „Verrückter“ nur weggesperrt, aber nicht bestraft werden. Nur wer imstande ist, zwischen „gut“ und „böse“ wählen zu können, kann strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Handelt ein Täter im Banne einer Krankheit oder einer Sucht, die sein Handeln im Sinne eines lückenlosen Determinismus steuert und sich dem Zugriff seines Bewusstseins entzieht, ist er nicht frei zu wählen und die Kategorien „gut“ und „böse“ verlieren ihren Sinn. Breivik möchte beim Wort genommen, als vernünftiges Wesen behandelt und also bestraft werden. Alles andere wäre für ihn, ließ er verlauten, eine „ultimative Kränkung“ und „schlimmer als der Tod“.
Sein Amoklauf auf der Insel Utoya endete deswegen nicht mit seinem Tod, weil er im Unterschied zu den meisten anderen Amoktätern, die ihren Schrecken wortlos verbreiten und für die der letzte Akt der Tat der eigene Tod darstellt, über eine Programmatik verfügt. Das forensische Nachspiel ist Teil seiner Tatplanung und er möchte die mit dem Prozess verbundene weltweite Aufmerksamkeit nutzen, um für seine Vorstellungen eines von der „islamischen Sklaverei“ befreiten Norwegen zu werben und mit den „marxistisch-multikulturellen Regimen in Europa“ abzurechnen. Die Süddeutsche Zeitung zitiert in ihrer Ausgabe vom 14./15. April 2012 einen Norweger, der es bereits bedauert, dass Breivik überlebte: „Vielleicht wäre es besser gewesen, das wäre hier so gelaufen wie neulich Frankreich, und die hätten ihn damals da draußen erschossen. Besser als dieser Zirkus jetzt.“
Der Prozess wird am heutigen Montag beginnen und wir können gespannt sein, wie das Gericht in der umstrittenen Frage der Schuldfähigkeit entscheidet und wie es Breiviks von Größen- und Allmachtsphantasien und paranoiden Projektionen durchtränkte Programmatik wertet: „böse“ oder „krank“, Gefängnis oder Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt? Gespannt aber vor allem auch darauf, was der Prozess an wirklicher Aufklärung über die geistigen und ideologischen Hintergründe und Motive der Tat und für die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts der norwegischen Gesellschaft leistet.


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