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Titel: Zweiter Weltkrieg: Russisches Kinderblut für deutsche Soldaten – Erinnerungen einer 85-jährigen „Spenderin“

Datum: 8. Mai 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gedenktage/Jahrestage, Militäreinsätze/Kriege
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Dass ein großer Teil der Gefangenen in deutschen Konzentrationslagern von 1941 bis 1945 sowjetische Kriegsgefangene, Zivilisten und Kinder waren, ist in Deutschland wenig oder gar nicht bekannt. So gut wie unbekannt ist auch die Tatsache, dass Kinder aus Russland, Weißrussland und der Ukraine als Blutspender für verletzte deutsche Soldaten genutzt wurden, oft in einem Ausmaß, dass die Spender nicht überlebten. Ulrich Heyden sprach in Moskau mit der 85 Jahre alten Russin Ewdakija Anikanowa.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ewdakija Anikanowa befand sich als Vierjährige im Konzentrationslager Paldiski (Estland), wo man aus ihrem Körper Blut abzapfte und es über einen Schlauch direkt einem bewusstlosen deutschen Soldaten zuführte.

Am 11. April 2025 lernte ich die 85 Jahre alte Russin Ewdakija Anikanowa kennen. Das war auf einer Gedenkveranstaltung der minderjährigen Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern, die jedes Jahr am Denkmal „Tragödie der Völker“[1] auf dem Gedenkkomplex „Poklonaja Gora“, westlich des Moskauer Stadtzentrums, stattfindet. Der 11. April wird in Russland als Feiertag der Selbstbefreiung der Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald begangen.

Das Wetter war kühl, die alten Leute jedoch – inzwischen fast alle über 80 – saßen stumm, aber mit gespanntem Blick auf den Stühlen. Vor der Brust hielten sie rote Nelken. In ihren Gesichtern las ich Spannung und Unruhe, so als ob sie noch viel zu erzählen hätten.

„Die Ungebrochenen“

Es sprachen Vertreter der Moskauer Stadtverwaltung, der Kirche und einer Jugendorganisation. Ein Sprecher sagte, dass in Moskau noch 2.500 Menschen leben, die als Minderjährige in deutschen KZs waren. 2024 lebten nach offiziellen Angaben in ganz Russland noch 50.000 Menschen, die in deutschen Konzentrationslagern waren.[2]

Einige Redner priesen die Versammelten auf der Veranstaltung als „Ungebrochene“, also Helden. Aber als Helden wurden diese Menschen bis zum Ende der Sowjetunion nicht behandelt. Ihnen, die sich physisch auf der Frontseite des Feindes befanden, haftete immer etwas Fragliches an. Man verdächtigte sie, mit dem Feind zusammengearbeitet zu haben. Frauen wurden verdächtigt, dass sie mit deutschen Soldaten im Bett waren.

Ja, es gab solche Fälle, erzählte mir Ewdakija Anikanowa, mit der ich am Rande der Veranstaltung ins Gespräch kam. Die 1940 Geborene wuchs im Südwesten von Moskau im Dorf Iwankowo auf. Aber selbst die Russinnen, die von deutschen Soldaten zum Beischlaf gezwungen wurden oder es freiwillig taten, konnten sich ihres Lebens nicht sicher sein.

Eine Vierjährige als Blutspenderin

Ewdakija Anikanowa beantwortete trotz ihres hohen Alters und des noch kühlen Wetters stehend meine zahlreichen Fragen. Sie erzählte, sie sei als Vierjährige in Estland und Lettland in den Konzentrationslagern Paldiski und Alitus gewesen. Als sie dann erzählte, sie habe Blut für einen deutschen Soldaten spenden müssen, war das wie ein Schock für mich. Es ist etwas völlig anderes, ob man darüber liest oder ob man als Deutscher einer Betroffenen direkt gegenübersteht.

Noch Jahrzehnte nach dem Sieg über den Hitler-Faschismus galten die sowjetischen KZ-Häftlinge nicht als vollwertige Bürger. Stalin hatte angeordnet, dass die Menschen aus den von der deutschen Wehrmacht bedrohten Dörfern diese Richtung Osten verlassen. Das Recht auf eine Wohnung werde garantiert, erinnert sich Ewdakija. Die Sowjetmacht half nach dem Krieg auch beim Wiederaufbau des Dorfes. Doch Ewdakija sagte: „Wie sollten wir das Dorf verlassen? Wir konnten doch das Vieh nicht allein und die Felder nicht unbestellt lassen. Zudem waren alle Straßen Richtung Osten mit Flüchtenden verstopft.“

Natürlich habe man auf die Befreiung durch die Rote Armee gewartet, sagte Ewdakija. Als einmal während der Okkupation durch die Deutschen ein Doppeldecker über dem Dorf auftauchte und als Gruß das Flugzeug leicht um seine Längsachse schaukelte, hätten die Menschen Hoffnung geschöpft. Doch leider habe man nach kurzer Zeit eine Rauchwolke gesehen. Das Flugzeug sei offenbar abgeschossen worden.

Die Verbindung mit der heimischen Erde

Warum haben die Leute ihre Dörfer nicht verlassen, als die Wehrmacht nahte? Die Leute hatten ihre Holzhäuser selbst gebaut, Wege und Brücken selbst angelegt, das Vieh selbst großgezogen. Alles, was man aß, hatte man selbst erwirtschaftet. Auf dem Dorffriedhof lagen mehrere Generationen der Vorfahren. Das Dorf zu verlassen, etwa, um in ein Krankenhaus zu fahren, bedurfte auch nach der Oktoberrevolution der Erlaubnis des Dorfältesten. Erst ab 1962 bekamen die Menschen in russischen Dörfern Pässe.

Das patriarchalische System in den russischen Dörfern machten sich die deutschen Besatzer zunutze. Als sie das Dorf Iwankowo am 1. Oktober 1941 besetzten, riefen sie die Bewohner zusammen und erklärten, sie würden jetzt eine „neue, deutsche Ordnung“ einführen. Eine Polizei wurde gebildet, Willige dafür fanden sich. Die Polizei musste Listen anlegen mit den Namen der Juden, Kommunisten und Frauen, deren Männer bei der Roten Armee kämpften.

Matrona, die Mutter von Ewdakija, versuchte, die Liste zu verbrennen. Sie wurde geschlagen und verhört, redete sich aber damit heraus, dass sie ungebildet sei und nicht gewusst habe, worum es sich handelte.

Über die deutschen Soldaten erzählt Ewdakija nicht nur Schlechtes. Deutsche Wehrmachtsärzte hätten ihr das Leben gerettet. Als sie an Scharlach erkrankte und an Atemnot litt, spritzte ihr ein Arzt im Frühling 1943 Penicillin.

„Die neue, deutsche Ordnung“

Nach dem Krieg, als sie schon in Moskau studierte, besuchte Ewdakija einmal ihre Mutter im Dorf und wurde von einem Dorfbewohner gefragt, ob es stimme, dass keine deutschen Soldaten mehr in Moskau und Leningrad seien.

Die Frage hatte folgenden Hintergrund: Der deutsche Befehlshaber im Dorf Iwankowo hatte das Dorf in den fast zwei Jahren Besatzung komplett von der Außenwelt abgeschirmt und unter der Dorfbevölkerung die Falschinformation verbreitet, die deutsche Wehrmacht habe bereits Moskau und Leningrad eingenommen. Aktuelle Informationen über die Front hatten die Dorfbewohner nicht. Die Partisanen waren sieben Kilometer entfernt in einem Wald, zu ihnen hatte man keinen Kontakt.

„Schlaft bei den Kühen“

Nachdem die deutsche Wehrmacht das Dorf Iwankowo mit motorisierten Einheiten eingenommen hatte, wurde ihnen erklärt, sie müssten ihre Häuser verlassen. „Baut euch Schuppen oder schlaft bei euren Kühen“, wurde den Menschen gesagt. Die Häuser seien jetzt für die deutschen Soldaten.

Der Leser wird sich vielleicht fragen, wie eine Frau, die den Überfall der Wehrmacht und das Konzentrationslager im Alter von zwei bis vier Jahren erlebte, sich überhaupt noch erinnern kann.

„An etwas habe ich mich erinnert,“ schreibt Ewdakija in ihrem 2011 erschienenen Buch „Die schwarzen Flügel des Krieges“ [3]. „Ich erinnere mich bis heute an grelle, bunte und lebendige Bilder verschiedener Situationen aus dem Leben in der Zeit.“ In ihrem Buch wurden die Augenzeugenberichte von 60 Menschen veröffentlicht, die als Minderjährige in deutschen Konzentrationslagern waren.

Ihr Buch gab Ewdakija in ihrer Funktion als Vorsitzende der „Gemeinschaft der minderjährigen KZ-Insassen im Moskauer Bezirk Südwest“ heraus. Aus dem Buch las sie in Schulen vor. Aber heute hätten die Schulen keine Zeit mehr für solche Lesungen, murrt Ewdakija. Der Lehrplan sei übervoll, und „die ganze Jugend“ – auch ihre Enkelin – sei „mit Computerspielen beschäftigt“.

Der heilige Brunnen

Trotz der offiziellen kommunistischen Ideologie gab es im Dorf Iwankowo noch religiöse Traditionen. So gab es einen „heiligen Brunnen“, dessen Wasser vorwiegend für Feiertage und für Kranke benutzt wurde. Als die deutschen Besatzungssoldaten begannen, mit dem Wasser dieses Brunnens ihre Autos zu waschen, beschwerten sich zwei jüngere Frauen. Sie wurden nach einer Sitzung eines von den deutschen Militärs beaufsichtigten „Gerichts“ erschossen, erzählt meine Gesprächspartnerin. Fünf Kinder wurden zu Waisen. Weitere Erschießungen gab es in dem Dorf nicht.

Die über das Dorf verhängte „neue, deutsche Ordnung“ war äußerst streng. In der Dunkelheit durften keine Feuer angezündet und keine Lampen eingeschaltet werden. Versammlungen mit mehr als zwei Menschen waren verboten. Laut schreien, singen oder das Gelände des Dorfes verlassen, war ebenfalls verboten. Diese Verbote sollten Angriffe der Partisanen verhindern. Die nächsten Wälder, in denen sich Partisanen aufhielten, lagen in sieben Kilometer Entfernung. Während der eineinhalb Jahre Besatzung ließen sich keine Partisanen blicken.

Die Deportation ins Konzentrationslager

Im Juni 1943 musste die Wehrmacht wegen der Übermacht der Roten Armee abziehen. Die gesamte Dorfbevölkerung wurde nach Estland in das Konzentrationslager Paldiski deportiert. „Vor dem Abzug brannten die deutschen Soldaten unsere Häuser ab und sprengten unsere Öfen. Die Rotarmisten sollten nichts haben, um sich zu wärmen“, erzählte mir Ewdakija, die damals etwas über drei Jahre alt war.

Die Aufsicht über die Deportation der Dorfbewohner führten ukrainische Hilfspolizisten, die sich nach der Erzählung von Ewdakija äußerst brutal gegenüber den Deportierten verhielten. Man ging zu Fuß, kleine Kinder und Kranke wurden mit Pferden transportiert.

Nach 70 Kilometern – vor der Stadt Brjansk – musste sich der Menschenzug in Deckung begeben, weil es am Himmel einen Luftkampf zwischen deutschen und sowjetischen Flugzeugen gab. Einige der Deportierten wurden verletzt und getötet. Ewdakija versteckte sich mit ihrer Mutter und der schwangeren Schwester der Mutter unter einem Lastkarren. Diese schwangere Schwester wurde durch einen Holz- oder Granatsplitter getötet.

Die Hilfspolizisten trieben die Deportierten zur Eile. Sie durften sich nicht von ihren Toten verabschieden. Die Verletzten waren für die Hilfspolizisten nur Ballast, sie wurden erschossen.

Mehlsuppe und Peitsche

In Estland musste Matrona, die Mutter von Ewdakija, in der Landwirtschaft arbeiten und deutsche Verteidigungsanlagen ausheben. Ewdakija kam in ein Konzentrationslager für Kinder. In dem KZ waren vor allem Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren.

Die Kinder bekamen dreimal am Tag etwas zu Essen, morgens und abends Tee mit Zuckerersatz und einem Stück Brot. Mittags ein Becher mit Wasser und Mehl. „Für mich reichte das, weil ich klein war. Aber für die älteren Kinder war das zu wenig. Viele starben“, erzählt meine Gesprächspartnerin.

Weiter sagt sie: „Ich wurde in dem KZ gefangen gehalten, weil ich die seltene Blutgruppe ‚1 negativ‘ habe.“ [Null negativ, Anm. d. Red.] Spenderblut dieser Gruppe kann universal für alle Blutgruppen eingesetzt werden. „Ich wohnte mit Denis, einem Jungen, der die gleiche Blutgruppe hatte und so alt war wie ich, in einer Ecke des Lagers.“

Weiter erzählte meine Gesprächspartnerin: „Eines Tage brachte man uns in das Krankenhaus des Konzentrationslagers. Wir bekamen eine Süßigkeit. Dann brachte man uns der Reihe nach zu einem schwer verwundeten General. Von mir – einer Vierjährigen – konnten sie nicht viel Blut nehmen. Aber Denis wurde mehr Blut abgenommen. Er starb in der nächsten Nacht. Sehr viele Kinder starben.“

Wie der General ausgesehen habe? „Er war blond, bärtig, nicht groß und untersetzt.“

Man wollte Wölfe aus ihnen machen

Die Ordnung im Kinder-KZ war äußerst streng. Es gab eine Aufseherin mit Peitsche, sie hieß Elsa. Offenbar hatte man vor, geeignete Kinder für den Arbeitseinsatz in Deutschland zu finden. Zu diesem Zweck veranstalteten Aufseher Spiele, bei denen sie die Kinder zur Brutalität antrieben und sie so auf ihre körperlichen Fähigkeiten prüften. Ewdakija vermutet, dass man besonders reaktionsschnelle Kinder in eine besondere Schule schickte. Was weiter mit ihnen passierte, wusste sie nicht. Die „Spiele“ liefen folgendermaßen ab: Ein Aufseher hielt eine Süßigkeit oder ein Brot hoch, und die Kinder mussten hochspringen und sich um das Bonbon raufen. Ewdakija erinnert sich, einem Jungen sei ein erbeutetes Bonbon von anderen Kindern mit Gewalt aus dem Mund gepult worden.

Es gab Mädchen, die halfen, die Wunden der bei den Kämpfen um Nahrung verletzten Jungen zu pflegen. Diese Mädchen seien für eine spätere Verwendung in einer sozialen Einrichtung vorgemerkt worden, vermutet meine Gesprächspartnerin.

Doch die Grundregeln sozialen Verhaltens, welche die Kinder in ihren Familien gelernt hatten, behielten sie bei. Jeden Morgen kümmerten sich die siebenjährigen Kinder um die vierjährigen, halfen ihnen beim Aufstehen, Anziehen und Waschen. Sie achteten auch darauf, dass die Kleidung der ganz Kleinen sauber war. Ewdakija: „Die Kinder wurden sehr schnell erwachsen.“

Die Kinder bekamen auch Deutschunterricht. Ewdakija erinnert sich noch an Verse. In gebrochenem Deutsch sagt sie:

„Treue Liebe bis zum Grabe
schwör ich dir mit Herz und Hand.
Was ich bin und was ich habe,
dank ich Dir, mein Vaterland!“[4]

Endlich echter Zucker!

Weil die Front immer weiter nach Westen rückte, wurden die Kinder immer wieder in andere KZs verlegt. Im September 1944 wurde Ewdakija zusammen mit anderen Kindern von sowjetischen Soldaten befreit. Sie befand sich zu der Zeit in einem Kinder-KZ in Litauen.

Von den Befreiern wollten die Kinder als Erstes wissen, ob sie richtigen Zucker hätten, denn im KZ bekamen die Kinder nur Zuckerersatz. Die Rotarmisten hatten in ihren Taschen echten Zucker.

Nach der Befreiung kam Ewdakija in ein Filtrationslager. In dem Lager sah sie das erste Mal nach einem Jahr ihre Mutter wieder. „In dem Lager prüfte man, inwieweit unsere Eltern Verräter waren. In diesem Lager lebten wir ein halbes Jahr. Nachdem man uns geprüft hatte, gab man uns eine alte Kuh und schickte uns in unser altes Dorf.“

„Wir galten nicht als vertrauenswürdig“

Den Menschen, die in den deutschen Konzentrationslagern waren, traute man in der sowjetischen Zeit nicht vollständig, weshalb sie noch Jahre nach dem Krieg keine höhere Ausbildung absolvieren und keine Leitungsposten einnehmen durften. Die Mutter von Ewdakija – Matrona – hatte sich im Filtrationslager verpflichtet, über das Erlebte in den deutschen KZs nicht zu sprechen. Es passte nicht in die staatliche Ideologie, dass sowjetische Menschen als wehrlose Geschöpfe unter der Knute der deutschen Faschisten lebten.

Ewdakija lebte in ihrem Dorf bis zum 17. Lebensjahr. Sie hatte Glück: Wegen ihrer guten Leistungen in der Schule verhalf ihr der Kolchosvorsitzende zu einer Ausbildung an der Landwirtschaftsakademie in Moskau. Danach arbeitete sie 25 Jahre lang an der Moskauer Staatlichen Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Expertin für Bodenkunde. Sie leitete Exkursionen von Studenten in das europäische Schwarzerde-Gebiet.

Keiner der Jungen unter acht Jahren aus dem Dorf Iwankowo überlebte das KZ

Der Bann, der über sowjetischen Insassen deutscher Konzentrationslager lag, wurde erst unter Michail Gorbatschow in der Zeit der Perestroika gebrochen. Erst zu dieser Zeit konnten die Überlebenden aus den deutschen KZs offizielle Vereinigungen bilden.

Der Krieg hat tiefe Lücken in das Heimatdorf von Ewdakija gerissen. Vor dem Krieg lebten in Iwankowo 256 Menschen. 78 Männer gingen an die Front, auch der Vater von Ewdakija. Nur drei Männer kehrten aus dem Krieg zurück. Der Vater von Ewdakija blieb als Soldat – irgendwo vor Leningrad – verschollen. Seine Frau wartete ihr ganzes Leben auf ihn.

Von den nach Estland deportierten Dorfbewohnern kehrten nur 52 in das Dorf zurück, darunter 19 Kinder. Alle Jungen unter acht Jahren waren in den deutschen Konzentrationslagern gestorben.

Dass sie die Schrecken des Konzentrationslagers überlebte, erklärt Ewdakija damit, dass sie aus einer Familie mit starkem religiösen Hintergrund komme. Ihre Vorfahren waren „Altgläubige“, ihr Großvater ein Priester. Sie selbst glaube auch an Gott, befolge aber nicht streng die kirchlichen Regeln, wie sie ohne Scheu erklärt.

„Blutspenden“ auch in den KZs Salispils, Auschwitz und einem Heim bei Charkow

Dass man sowjetischen Kindern in den deutschen Kinder-Konzentrationslagern Blut abzapfte, taucht auch in einer 2003 veröffentlichten Untersuchung des Kiewer Journalisten Wladimir Rudyuk auf.[5] Der Journalist verweist auf eine Dokumentation der KZ-Gedenkstätte Salispils bei Riga, in der festgestellt wurde, dass in den ersten 18 Monaten der deutschen Besatzung von Lettland insgesamt 3.500 Liter Kinderblut aus dem Konzentrationslager Salispils ausgeführt wurden.

In der Untersuchung des Kiewer Journalisten kommt außerdem die Kiewerin Anna Strishkova zu Wort. Sie kam im Dezember 1943 in das KZ Auschwitz. Obwohl sie erst zwei Jahre alt war, wurden ihr, wie sie später erfuhr, mehrmals 300 Gramm Blut abgenommen. Die Prozedur sei schmerzhaft gewesen, weshalb sie sich daran erinnere. Es habe aber auch Kinder gegeben, denen man 1,5 Liter Blut abgenommen habe. Die seien nach der „Spende“ meist gestorben. Sie landeten in einem Tank für „verbrauchte Materialien“. Man habe allerdings nicht allen Kinder Blut abgenommen. Jüdische Kinder, Kinder von Partisanen und Kommandeuren der Roten Armee wurden „ohne vorherige Nutzung“ vernichtet.

Blutentnahmen gab es auch im Kinderheim „Sokolniki“ in der Nähe von Charkow, berichtete die Berliner Tageszeitung 2008 in einem Bericht über den Ukrainer Nikolai Kalaschnikow.[6] Er war als Neunjähriger im Kinderheim „Sokolniki“, wo ihm regelmäßig Blut abgenommen wurde, das dann an verwundete deutsche Soldaten ging.

„Uns wurde Blut abgenommen, bis wir ohnmächtig zu Boden sanken”, erinnert sich Kalaschnikow, „manchmal sank der Puls auf Null“. Viele Kinder des Kinderheims starben bei dieser erzwungenen Blutspende. „Von den geschätzten 2.000 Kindern im Heim Sokolniki haben nur 56 die Befreiung durch die Sowjetarmee erlebt.”

Die Gesamtzahl der sowjetischen KZ-Opfer

4,9 Millionen sowjetische Zivilisten wurden in deutsche Konzentrationslager verschleppt. Von diesen Zivilisten starben 1,8 Millionen. Unter den Verstorbenen waren 900.000 Kinder unter zwölf Jahren.[7]

Die deutsche Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zahlte zwischen 2002 und 2007 nur an 8.000 Personen, die als Kinder im KZ waren, oder an Mütter, deren Kinder im KZ gestorben waren, Entschädigungen.

Man muss konstatieren, dass von den überlebenden sowjetischen Bürgern, die als Minderjährige in deutschen KZs waren, nur ein äußerst geringer Teil von der deutschen Stiftung entschädigt wurde. Die Entschädigungssumme betrug bis zu 4.200 Euro.[8] Ewdakija Anikanowa bekam eine Entschädigung von 3.000 Euro, weil sie nach Meinung der Stiftung nicht ein Jahr, sondern nur zwei Monate in einem Konzentrationslager nachweisen konnte. Die Stiftung zahlte insgesamt Entschädigungen für 1,6 Millionen Menschen aus 100 Staaten.

Wie lebt Ewdakija heute?

Die von mir interviewte ehemalige KZ-Insassin Ewdakija lebt heute zusammen mit ihrer Tochter, ihrer Enkelin und ihrem Schwiegersohn in einer Wohnung im Südwesten von Moskau. Ihr Mann ist gestorben. Ewdakija ist nach wie vor Vorsitzende der Organisation der minderjährigen KZ-Insassen, die in ihrem Moskauer Bezirk leben. Zurzeit sammelt sie Geld, um humanitäre Hilfe für russische Soldaten in der Ukraine einzukaufen.

Die Arbeit am Computer haben die Ärzte ihr verboten, weil die Augen geschont werden müssen. Aber Ewdakija hat schon ihr Handwägelchen gepackt, mit dem sie demnächst auf ihre Datscha fahren wird. Sie bekommt eine Rente von 480 Euro, was für russische Verhältnisse nicht schlecht ist.

Titelbild: © Ulrich Heyden


[«1] Das Denkmal aus Bronze, geschaffen 1997 von Surab Zereteli, zeigt zahlreiche unbekleidete KZ-Insassen mit ihren Kindern. Um das Denkmal herum liegen – in Bronze – die Schuhe, Kämme und Taschen der Gefangenen.

[«2] dzen.ru/a/Zj0gyXlxmXyW3D7-?ysclid=ma71imk5xa303051967

[«3] Ewdakijewa Anikanowa, Tshornyje krylja wojny, Moskau, Profisdat, 2011, ISBN 978-5-255-01770-6

[«4] August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874), „Mein Vaterland” 

[«5] Wladimir Rudyuk, Sowjetische Kinder als Blutspender für die deutsche Wehrmacht. Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel), Nr. 41/42, April 2003, S. 284-295

[«6] Phillip Gessler, Blutspender für Wehrmachtsoldaten, die tageszeitung, 18. August 2008 taz.de/Die-Kinder-von-Sokolniki/!5177196/

[«7] Ewdakijewa Anikanowa, Tshornyje krylja wojny, Moskau, Profisdat, 2011. Die Opferzahlen waren möglicherweise höher, siehe: Viktoria Nikolajewna, Verluste der sowjetischen Bevölkerung in Konzentrationslagern, 2017

[«8] Bundesministerium der FinanzenWiedergutmachung: Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht. Stand Mai 2022, S. 12


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