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Titel: „Im Ukraine-Krieg geht es dem politischen Westen keinen Zentimeter um Grund- und Menschenrechte“
Datum: 16. Juni 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Den Donbass mit eigenen Augen sehen, um zu begreifen, was dort passiert – deshalb ist Flo Osrainik über Umwege in die Ostukraine gereist. Der Bestseller-Autor gehört zu den Wenigen in Deutschland, die sich vor Ort selbst ein Bild gemacht haben. Für sein aktuelles Buch „Donbassdonner – Ein Reisebericht von der anderen Seite der Geschichte“ hat sich Osrainik im Donbass umgeschaut und akribisch seine Eindrücke festgehalten. Im NachDenkSeiten-Interview spricht er über seine Erlebnisse und findet klare Worte zur westlichen Ukraine-Politik. Von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Marcus Klöckner: Herr Osrainik, es gab eine Zeit, da galt es im Journalismus als Selbstverständlichkeit, beide Seiten eines Konflikts zu Wort kommen zu lassen. In Deutschland fokussiert die Berichterstattung im Ukraine-Krieg nahezu nur auf die Ukraine – was die Leute auf der russischen Seite der Front sagen, denken und fühlen, kommt hier so gut wie nicht an. Sie waren nun im Donbass, auf der russischen Seite. Warum sind Sie dorthin gereist?
Flo Osrainik: Aus genau diesem von Ihnen genannten Grund bin ich in das Kriegsgebiet des Donbass gereist: um mir mit meinen eigenen Augen ein Bild zu machen. In der westlichen Berichterstattung ist alles, was den Ukraine-Krieg angeht, im Großen und Ganzen nichts anderes als reine Propaganda der Konzern- und Staatsmedien. Alles das, was um den Krieg passiert, der ja bereits im Jahr 2014 nach dem geglückten Putsch gegen den damaligen ukrainischen Präsidenten und des daraufhin von außen sowie gegen die ukrainische Verfassung eingesetzten Putschregimes zur Unterdrückung der russischstämmigen Bevölkerung im Lande begonnen wurde, wird verzerrt oder verdreht dargestellt und teilweise komplett weggelassen. Es ist wie vor und während eines jeden Krieges, der von der Oligarchie veranstaltet wird.
Und wir wissen ja, dass das erste Kriegsopfer die Wahrheit ist, noch bevor der erste Schuss fällt. Die Umstände verlangen deswegen geradezu nach einer korrekten Darstellung der Ereignisse, wo immer das möglich ist, und zwar beginnend mit dem Maidan im Jahr 2013; und im größeren Kontext eigentlich schon viel früher, etwa mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands samt aller gebrochenen Verträge, Vereinbarungen, Versprechen sowie der real- und geopolitischen Heuchelei der doppelten Standards. Und die ursprüngliche NATO-Doktrin, die Russen draußen, die Deutschen unten und die US-Amerikaner drinnen zu halten, will ich erst gar nicht erwähnen. Nun gut, jetzt hab ich sie ja doch erwähnt.
Das wären dann die ganz großen Zusammenhänge. Aber lassen Sie uns auf Ihre Reise fokussieren.
Nachdem sich mir die Gelegenheit aufgrund einer Einladung eines russischen Freundes und Kollegen aus Berlin, Ilia Ryvkin, bot, über Moskau nach Donezk zu reisen, musste ich ja schon fast in einem für mich nächstmöglichen Zeitfenster in den Donbass – und zwar auf die Seite der Unabhängigkeitsbewegung oder eben der Separatisten, die nach den antirussischen Vorgängen in Kiew völlig zu Recht auf ihr demokratisches Recht, eben auf das Grundrecht aller Menschen und Völker auf Selbstbestimmung bestanden … und dafür mit allen Konsequenzen bis heute einstehen, eben auch mit ihrem Leben. Erlauben Sie mir kurz noch eine Anmerkung?
Bitte.
Dieser von den faschistoiden Kräften in Kiew begonnene und geführte Krieg gegen die Unabhängigkeit der Menschen im Süden und Osten des Landes sollte ja dem Machterhalt der Post-Putschisten über die umkämpften Gebiete dienen und Russland provozieren. Die Sache mit dem Machterhalt rund um den Donbass sieht für Kiew spätestens seit dem offiziellen Eingriff Moskaus schlecht aus. Dass der vom westlichen Ausland vorbereitete, unterstützte und nach Kräften angeheizte Krieg, also die Provokation Russlands über den ukrainischen Bürgerkrieg, der ein Stellvertreterkrieg war, geklappt hat, wissen wir seit dem Eingriff der Russen auch alle.
Das aber schon wieder Erschreckende dabei: Die – und ich erlaube mir, hier Klartext zu sprechen – Chefpsychopathen im Westen sind offensichtlich richtig scharf auf einen (atomaren Welt-)Krieg mit Russland und wissen, in ihren luxuriösen Regierungspalästen und Konzernzentralen bestens abgeschirmt und weit von jeder Front, den Terror des Krieges nur für andere, also für das manipulierte Volk, das dann im Schützengraben sterben und in den Kellern zittern muss, zu hasspredigen. Wer dann Profit aus allem zieht, weiß ja auch längst jeder.
Welche Eindrücke haben Sie im Donbass gewonnen? Was waren Ihre Beobachtungen?
Nachdem wir die Volksrepublik Donezk – und zwar von links nach rechts und andersrum – bereist haben, kann ich nur meine Eindrücke aus dieser Region wiedergeben. Und diese Eindrücke sind zum einen, dass sich die deutliche Mehrheit der Menschen dort zumindest sichtbar von Kiew abgewendet hat. Nun gut, das verwundert nicht, wenn man weiß, dass der russischstämmige oder russischsprachige Anteil im Südosten des Landes bei bis zu um die 90 Prozent liegt. Trotzdem wollte ich das selber sehen und auch hören, also nicht nur gelesen haben. Ich habe dazu unter anderem auch einen unserer Kontakte und Begleiter, der vor Ort im Einsatz ist, gefragt. Und ich zitiere dazu kurz eine Stelle aus meinem Buch:
Bei dem Gitarristen bleiben wir wieder stehen und hören ihm eine Weile zu. Ilia raucht eine Zigarette. Neben uns ist ein Toilettenhäuschen mit einem Wandgemälde. Eine glückliche Familie. Ein Mann und eine Frau. In ihrer Mitte die beiden Kinder. Davor liegt ein Kranz aus roten Rosen. Ich will Roman unbedingt noch etwas fragen. Wegen der vielen Flaggen und Symbole, die überall zu sehen sind. »Roman, was passiert, wenn die Ukrainer mithilfe der NATO nach Donezk zurückkommen?«
Er zögert keinen Moment und lächelt mich an. »Keine Chance!« »Okay. Aber was, wenn doch?« »Dann kämpfen wir bis zum Ende.«
Und zum anderen blieb der Eindruck oder eben das Wissen, dass die Kinder und Teenager im Donbass mit dem ständigen Klang und Donner des Krieges und der Bomben, so wie auch ich es wahrgenommen habe, aufgewachsen sind. Die Kinder und Jugendlichen dort kennen nichts anderes, von Geburt an ist es normal für sie. Und auch dazu fällt mir aus dem gleichen Kapitel, das von einem Spaziergang durch Donezk handelt, eine Stelle ein:
Wir kehren um. Schon im Vorbeifahren war mir ein Hochhaus aufgefallen, dessen Rückseite ich nun sehe. Ich hätte es mir denken können. Wieso sollte ausgerechnet dieser Turm von Treffern verschont geblieben sein? Ein großes Loch klafft oben in dem abgeschrägten Dach. Roman läuft neben mir, Ilia hinter uns. »Hier wurde einiges getroffen. Im Stadion finden bis auf Weiteres auch keine Spiele statt. Das ist beschädigt. Und gesperrt.« Es knallt. »Das war ausgehender Beschuss, der klingt etwas anders als eingehender Beschuss. Jedes Kind hier kennt den Unterschied. Die Kinder können dir sogar sagen, welche Waffensysteme das sind.« Übertreibt er? Wobei, die Kinder im Donbass sind mit dem Donnern der Bomben und Granaten aufgewachsen.
Wenn man Ihr Buch liest, bekommt man eine Ahnung, unter welcher Gefahr die Bürger dort leben und dass der Tod ein ständiger Begleiter zu sein scheint. Wie haben die Menschen, denen Sie begegnet sind, auf Sie gewirkt?
Wir haben darauf geachtet, dass man nicht überall mitbekommt, dass ich ein Ausländer bin. Jedenfalls, wenn wir uns in der Nähe von Militärs aufgehalten haben. Dazu muss ich aber auch sagen, dass wir, das heißt Ilia und ich, anonym im Donbass waren. In Moskau war das natürlich anders. Wir haben im Donbass in keinem Hotel, sondern in für uns angemieteten Wohnungen gewohnt oder auch eine Nacht in einem „Safe House“ verbracht. Das heißt, dass wir dank unseres Hauptkontaktes vor Ort, den Ilia von einer früheren Recherchereise in die Region für sein Buch „Russendämmerung“ bereits kannte, so gut wie überall und durch jeden Checkpoint bis hinter die Front bei Bachmut konnten, ohne auch nur ein Wort sagen oder einen Pass vorweisen zu müssen. Nachdem ich auch kein Russisch spreche, Ilia hat alles übersetzt, und unsere Kontakte auch kein oder wenig Englisch konnten, war das alles nicht so einfach. Vieles habe ich auch durch Beobachtungen der Menschen, der Umgebung und der Umstände wahrgenommen und beschrieben.
Nochmal zu den Menschen, bitte.
Ich tue mich ein wenig schwer, zu sagen, wie die Menschen, und ich versuche dabei nur an Zivilisten und an keine Soldaten und Milizionäre zu denken, unter den Umständen des Krieges auf mich gewirkt haben. Die Gefahr des Todes durch Drohnen-, Raketen- oder Artillerietreffer ist zwar da, man hört und sieht sie auch oft genug, aber irgendwie ist trotzdem alles relativ – auch die Gefahr. Und ich kann ja nicht in die Köpfe, nur in die Gesichter der Menschen schauen. Irgendwie wirkte alles surreal und doch real. Mariupol und das Stahlwerk dort kamen mir trotz Sonnenschein und blauem Himmel gespenstisch und wie ein Filmset, aber aus echtem Stein, Stahl und Seelen, vor. Die Zivilisten zwischen den Soldaten in Switlodarsk haben mich an meine Zeit in der Armee erinnert. Damals gab es in der Kaserne zivile Angestellte zwischen uns Soldaten. Und Switlodarsk, das von den Ukrainern zurückerobert wurde und viele Soldaten beherbergt, kam mir eben wie eine große Kaserne mit Zivilisten, darunter Kinder oder ein Harley-Fahrer, vor. Was sollen die Menschen auch machen, aufhören zu leben und weiter in modrigen Kellern ausharren?
Ein Beispiel über Switlodarsk aus dem [Buch, Anm. d. Red.] „Donbassdonner“:
Mehr als die Hälfte des Orts ist zerstört. Die Sonne steht tief. Das letzte Licht scheint durch die Ruinen. Die Straßen sind sauber. Irgendwie hat hier alles seine Ordnung. Eben wie in einer Kaserne. Ich sehe Soldaten, Zivilisten, Milizionäre. Das Rathaus ist von großen dunklen Tannen umgeben. Von dem Gebäude daneben stehen nur noch die Mauern. Fünf Stufen führen zum Eingang des Rathauses hinauf. Die Scheibe der Tür ist mit Zetteln beklebt. Davor steht eine Frau auf der obersten Stufe. Sie trägt ein blaues Kleid. Ihr Stil erinnert mich an die Mode der 1980er/1990er Jahre im Osten. Eine Hand steckt in der Jackentasche, in der anderen hält sie einen Rucksack und ein Kuscheltier. Sie sieht uns. Schaut grimmig. Neben ihr steckt ein kleines Mädchen, von Kopf bis Fuß in Rosa, den Kopf durch den Türspalt. An der Rathausfassade hängt eine rote Flagge.
Was hat es mit der, wie Sie es nennen, „Schreckenskammer des Krieges“ auf sich, die Sie sich angesehen haben?
Ich nehme an, Sie meinen nicht die Asservatenkammer im Regierungsgebäude von Donezk, sondern die Gedenkstätte der Veteranen im Donezker Distrikt Petrovskyi.
Genau.
Dort wurde im ersten Stock eines verlassenen Schulgebäudes ein Bereich zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer des Krieges eingerichtet. Genauer gesagt ist dort unter anderem ein abgedunkelter Gedenkraum mit Grabkerzen und Blumen vor Monitoren, auf denen unzensierte Bilder des Todes, das heißt von zivilen Opfern – auch Kindern – des ukrainischen Beschusses im Donbass seit Kriegsbeginn im Jahr 2014 laufen, zu sehen; von bis auf die Knochen verkohlten Leichen, von ineinander verkeilten Toten, von gesichtslosen Köpfen und so weiter. Schwer verdaubare Bilder, die man, wenn überhaupt, nicht so schnell vergisst. Es sind aber auch alle möglichen Kriegszeugnisse, die durch eine Türe passen, ausgestellt: etwa Soldaten- und Milizausweise mit Löchern der tödlichen Kugel, Helme, Waffen, Patches, Fahnen, Drohnen oder Gebetsbücher und andere persönliche Gegenstände von Kämpfern aus dem Ukraine-Krieg, aber auch aus der Zeit der Sowjets in Afghanistan und der Besatzung der Region durch Nazi-Deutschland.
Wie hat der Krieg die Menschen im Donbass geprägt?
Mit ziemlicher Sicherheit sind die meisten Menschen dort in irgendeiner Art und Weise traumatisiert, die Kinder sowieso. Den Krieg und die damit verbundenen Gräueltaten vergisst man ein Leben lang nicht. Davon gehe ich stark aus.
Sie sind auch politischer Analyst. Wie ordnen Sie den Krieg in der Ukraine politisch ein? Was passiert dort aus Ihrer Sicht?
Oh, an dieser Stelle möchte ich den Rahmen nicht sprengen und am liebsten auf mein Vorwort sowie auf mein letztes Buch „Lügen, Lügen, Lügen – Terror, Tyrannei und Weltenbrand als neue Normalität der Globalisten“ verweisen. Der Ukraine-Krieg gehört, wie kurz erwähnt, in einen größeren Kontext. Nur so viel, um es möglichst kurz und knapp zu sagen: Im Ukraine-Krieg geht es dem politischen Westen – und spätestens nach Corona nehme ich an, dem politischen Osten auch nicht wirklich – nämlich keinen Zentimeter um Grund- und Menschenrechte; auch keinen Meter um Freiheit oder die Selbstbestimmung der Völker. Es geht auch keinen Kilometer um eine Version irgendeiner angeblichen Demokratie. Dafür geht es aber ganz bestimmt um Zehntausende Quadratkilometer an Schürfrechten und Einflusssphären der herrschenden Oligarchie sowie um Massenmord und Terror sogenannter und selbsternannter Eliten durch Krieg.
Lesetipp: Flo Osrainik: Donbassdonner: Ein Reisebericht von der anderen Seite der Geschichte. Swalmen/NL, Corage Media, Veröffentlichung 16. Juni 2025, gebundene Ausgabe, 196 Seiten, ISBN 978-9083525914, 22 Euro.
Titelbild: rospoint/shutterstuck.com
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