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Titel: Marcel Fratzscher – der Aufmerksamkeitsökonom

Datum: 8. Oktober 2025 um 12:36 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, PR
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Er hat es mal wieder geschafft! Mit seinem „Vorschlag“, alten Menschen das Wahlrecht zu entziehen, stürmt DIW-Chef Marcel Fratzscher derzeit wieder die Schlagzeilen. Fratzscher spricht nun von Satire – das sei doch alles nicht ernst gemeint gewesen. Mag sein. Fratzscher ist von Haus aus Ökonom, verwechselt sein Fach aber immer wieder mit der Aufmerksamkeitsökonomie in eigener Sache. Das generiert Schlagzeilen, Klicks und Medienpräsenz, und wie es der Zufall will, hat Fratzscher ja auch gerade ein Buch zum Thema „Generationenvertrag“ veröffentlicht, das verkauft werden will. Eine Win-Win-Situation, wäre da nicht die weitere Spaltung der Gesellschaft, die der Medienzirkus im Rennen um Auflagen und Buchverkäufe anrichtet. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ökonomen haben es in der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie nicht gerade einfach; Herren in dunklen Anzügen, die sich mit trockenen Zahlen und Zusammenhängen beschäftigen, die ohnehin niemanden interessieren, sind halt nicht gerade sexy und generieren keine Klicks. Hat man dann als Ökonom auch noch ein Buch geschrieben, ist das Scheitern vorprogrammiert, schließlich ist eigentlich alles gesagt – nur vielleicht noch nicht von jedem.

Marcel Fratzscher ist ein Ökonom und zumindest früher gehörte er sogar zu den besseren seiner Zunft. Er stellte sich mit seinen Büchern gegen den damaligen ökonomischen Zeitgeist und durfte bei der EZB progressive Analysen erstellen, die dann jedoch niemanden an der EZB-Spitze wirklich interessierten. Da Fratzscher jedoch auch ein geschickter Netzwerker ist, sorgten seine Verbindungen zur SPD und zu den Gewerkschaften dafür, dass er 2013 Chef des DIW wurde und fortan als Dauergast in Talkshows und in Gastartikeln bekannter Zeitungen dem deutschen Michel die Makroökonomie näherbringen soll. Doch irgendwann wechselte Fratzscher das Spielfeld. Ging es ihm früher noch um Chancengleichheit und eine gerechtere Wirtschaft, spielt er nun am liebsten Alt und Jung im von ihm gehypten „Generationenkonflikt“ aus. Das freut natürlich vor allem die Eliten. Teile und herrsche.

Ich kenne Fratzscher nicht persönlich und kann über die Gründe nur spekulieren – es ist jedoch augenscheinlich, dass der einst progressive Makroökonom mit den Jahren seine Orientierung verloren hat und irgendwann zum Aufmerksamkeitsökonomen in eigener Sache mutierte. Und das sehr erfolgreich. Je platter seine Thesen wurden, desto mehr Aufmerksamkeit generierte er. So funktioniert unser Mediensystem und Fratzscher scheint diese Lektion verstanden zu haben.

Im Marketing spricht man bei so etwas wohl von einem „Unique Selling Point“, einem Alleinstellungsmerkmal, das vom Konsumenten klar mit einer Marke verbunden wird. Auch die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien funktioniert nach diesem Prinzip. Hat man es als echter oder vermeintlicher Experte geschafft, mit einem bestimmten Thema verbunden zu werden, sind Einladungen in Talkshows, Vortragsanfragen und Bücherverträge garantiert. Fratzscher hat sich als Alleinstellungsmerkmal den „Generationenkonflikt“ ausgesucht – ein Thema, das in der medialen Öffentlichkeit ja bereits seit längerem omnipräsent ist, Klicks, Auflagen und Einschaltquoten generiert und so wunderbar beliebig ist, dass es sehr gut von anderen, wichtigen Themen ablenkt.

Und was macht man, um sich bei einem Thema auch nachhaltig als „Experte“ zu positionieren? Richtig! Man schreibt ein Buch, haut vorab einige steile, verkürzte Thesen zum Thema heraus und schon kommen die Anfragen für Gastartikel und Talkshow-Auftritte – und nebenbei gibt es freilich auch noch ein wenig Kleingeld vom Verlag.

Fratzschers Buch „Nach uns die Zukunft“ ist am 29. August erschienen. Eine Woche vorher – in Verlagskreisen nennt man das wohl perfektes Timing – hatte Fratzscher die Gelegenheit, in einem SPIEGEL-Interview mit absurden, zugespitzten Aussagen Reklame für sein neues Buch zu machen. Sein Interview-Aufreger zur Förderung der Aufmerksamkeit und Auflage hieß damals „soziales Pflichtjahr für alle Rentner“. Es ging um den Generationenvertrag, der Fratzscher zufolge von den bösen Boomern gebrochen wurde, und nun solle die Generationengerechtigkeit wieder hergestellt werden, indem man die Alten für soziale Tätigkeiten und die Bundeswehr zwangsverpflichtet.

Eine ernsthafte Debatte dieser Aussagen kann man sich wohl schenken. Es ging sicher ohnehin zu keinem Zeitpunkt um die Aussagen als solche – sondern um Aufmerksamkeitsökonomie, Klicks und Auflage. Wie Pawlow’sche Hunde sprangen nahezu alle Akteure, die im weiteren Umfeld der Fratzscher-Aussagen tätig sind, auf die „Provokation“ an. Operation geglückt. Der SPIEGEL freute sich über Folgestorys, die ihrerseits Klicks generierten, Fratzscher und sein Verlag freuten sich über so viel Medienpräsenz und die Kritiker freuten sich, weil nun auch sie in der Zeitung standen. Win-Win-Win – und in den Kommentarspalten und den sozialen Netzwerken zoffte sich das Publikum, aber auch das ist ja ökonomisch durchaus gewollt, generiert doch jeder Shitstorm auch Platz für zahlreiche Anzeigen, die man verkaufen kann. Also viermal „Win“.

Ob sich die absurde „Debatte“ um ein „soziales Pflichtjahr für alle Rentner“ nun tatsächlich 1:1 auf die Verkäufe von Fratzschers neuem Buch ausgewirkt hat, darf jedoch bezweifelt werden; zumindest findet sich das Buch bislang noch nicht einmal in der SPIEGEL-Bestsellerliste. Bei Amazon ist es auf „Bestseller-Rang“ 79.281 und hat bislang magere acht Bewertungen bekommen – mit einem Schnitt von 1,8 von 5 möglichen Punkten. So was nennt man wohl einen Flopp. Und was macht man bei einem Flopp? Richtig! Man legt noch einmal nach. Anscheinend hatten SPIEGEL und Co. diesmal weder Zeit noch Lust für den nächsten Fratzscher’schen PR-Coup, also begnügte sich der Aufmerksamkeitsökonom mit dem – mir bis dato unbekannten – Podcast „Absolute Mehrheit“ aus der ARD-Jugendsparte Funk.

Im Podcast steigerte Fratzscher das Absurditätsniveau seiner „Forderungen“ noch einmal und sagte nun in einer Schnellfragerunde, man solle alten Menschen doch einfach das Wahlrecht entziehen. Fratzscher: „Wenn Menschen in den ersten 18 Jahren nicht wählen dürfen, dann sollten sie in den letzten 18 Jahren ihres Lebens auch nicht wählen dürfen.“ Auch hier erspare ich den Lesern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Forderung selbst. Irgendwem das Wahlrecht entziehen zu wollen, ist schließlich ein Klassiker im neueren Troll-Repertoire. Die AfD-Gründer wollten den „untersten Klassen“ das Wahlrecht entziehen, Markus Krall, das Enfant terrible aus dem Umfeld der Werteunion, träumt davon, Empfängern von Transferleistungen das Wahlrecht zu entziehen. Solche Forderungen sind stets Garant für – wenn auch negative – Publicity.

Und es geschah … nichts. Die Sendung ist seit dem 16. September abrufbar, doch anscheinend hört und interessiert sie niemanden. Und was macht man, wenn man eine „steile Aussage“ getätigt hat, die niemanden interessiert? Richtig, man schreibt ein Dementi, da man sich missverstanden fühlt und unterstreicht dabei, dass es sich um Satire gehandelt habe. So bekommt die nicht gehörte Provokation noch einmal Pfeffer. Das Kalkül lautete wohl, die Medien durch das Dementi erst auf die Sendung aufmerksam zu machen, und im Falle Fratzscher ist das auch durchaus geglückt. WELT, BZ, Focus und Co. hievten das Thema nun – mehr als zwei Wochen nach dem Podcast – auf ihre Startseite. Und wieder gab es eine vierfache „Win“-Situation – die Medien bekamen ihre Klicks, Fratzscher und sein Verlag konnten das Buch bewerben und die Leser sich darüber echauffieren, wie fürchterlich Fratzschers Vorschlag ist; natürlich ist er das, aber das ist ja ohnehin jedem klar.

Eigentlich können wir nur hoffen, dass Fratzschers Buch nun in die Bestseller-Liste kommt und er in jede nur denkbare Talkshow eingeladen wird. Denn wer weiß, was sonst als nächstes PR-Manöver kommt? Sollte Marcel Fratzscher mitlesen: Der Film „Soylent Green“ liefert vielleicht einige Vorlagen. Doch das sollten wir uns doch besser ersparen.

Ach so, nun vermissen Sie sicherlich eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Das stimmt. Aber damit hatte ich mich im letzten Jahr bereits im Artikel „Boomer gegen Millennials? Wir haben keinen Generationen-, sondern einen Klassenkonflikt“ auseinandergesetzt. Da steht alles drin, was man dazu wissen muss. Alles andere ist Clickbait und Aufmerksamkeitsökonomie.


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