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Titel: Ex-Militärs: Europa auf gefährlichem Weg

Datum: 10. Oktober 2025 um 11:20 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
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Die Hoffnung, dass es nach dem Treffen der beiden Präsidenten Donald Trump und Wladimir Putin am 16. August Fortschritte durch diplomatische Schritte für ein Ende des Krieges in der Ukraine gibt, haben sich bisher nicht erfüllt. So sieht es der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat. Er setze aber trotzdem weiter darauf, dass Trump seine Vermittlerrolle weiter ausübt und Putin den Krieg mit einem Friedensvertrag beenden will, wie er im Gespräch erklärte. Die beiden Schweizer ehemaligen Offiziere Jacques Baud und Ralph Bosshard schätzen das ähnlich ein und warnen wie Kujat vor den Folgen der provokativen westlichen Politik gegenüber Russland. Von Tilo Gräser.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie ein Rückschritt nach dem Gipfel in Alaska wirkt unter anderem, dass US-Präsident Donald Trump nun der Ukraine die Genehmigung erteilt hat, Langstreckenangriffe gegen Russland durchzuführen. Das hat Trump laut dem US-Sonderbeauftragten für die Ukraine, Keith Kellogg, vor etwa einer Woche erklärt. Am 1. Oktober meldete die Zeitung The Wall Street Journal (WSJ), die USA würden Kiew die Geheimdienstdaten für Angriffe auf Energieinfrastruktur in der Tiefe Russlands übermitteln.

„Das haben sie ja schon lange gemacht“, kommentierte das Harald Kujat, die ukrainischen Angriffe auf das strategische Frühwarnsystem und die strategische Bomberflotte Russlands seien von den USA allerdings nicht gewollt gewesen. Der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur machte auf die Unterschiede zwischen Geheimdienstinformationen und Daten für Ziele von Langstreckenwaffen aufmerksam. Er hält eine Arbeitsteilung für möglich, was aber Spekulation sei: Die USA würden die Langstreckenwaffen an die Europäer verkaufen, die diese an die Ukraine weitergeben, und liefern dann die Zieldaten dazu.

Auch der frühere Schweizer Geheimdienstmitarbeiter und Oberst Jacques Baud sieht in Kelloggs Aussagen grundsätzlich nichts Neues. Er verwies im Gespräch auf entsprechende Bitten aus Kiew bereits an die US-Administration von Joseph Biden im Jahr 2024. Das sei bewilligt worden, allerdings nur für eine taktische Tiefe von bis zu 50 Kilometer. Das sei etwas anderes als die strategische Tiefe von mehreren hundert Kilometer bis nach Moskau oder Sibirien. Der Kiewer Präsident Wolodymyr Selenskyj habe versucht, die USA zu zwingen, die entsprechenden Waffen wie die ATACMS-Systeme für größere Entfernungen freizugeben. Als damit im November 2024 Ziele in der russischen Stadt Brjansk angegriffen wurden, habe Moskau mit dem Einsatz der neuen Rakete vom Typ „Oreschnik“ gegen ein Rüstungsunternehmen im ukrainischen Dnipro reagiert.

Baud machte darauf aufmerksam, dass Selenskyj wie der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wisse, dass niemand ihn bestrafe, egal, was er tue. Doch nach seiner Kenntnis haben die USA noch keinen Einsatz von Langstreckenwaffen in die operative (300 bis 500 Kilometer) oder strategische Tiefe Russlands an Kiew freigegeben. Würden sie es tun, würden die USA direkt in den Krieg einbezogen. Bisher seien sie wie Deutschland und andere Länder rechtlich gesehen bereits daran beteiligt, wenn auch indirekt, durch Ausbildung, Logistik und Waffenlieferungen, aber noch nicht direkt durch Kampfoperationen. Der Schweizer Militärexperte, der für die UNO und die NATO tätig war, sieht im Gegensatz zur US-Politik das US-Militär „nicht so enthusiastisch“ in Bezug auf eine solche Waffenfreigabe.

Doppelter Gewinn für die USA

Ralph Bosshard, ehemaliger Schweizer Oberstleutnant und Mitarbeiter der OSZE, verwies auf Nachfrage auf die Versuche Kiews seit 2014, „am liebsten die ganze Welt in einen Krieg gegen Russland hineinzuziehen“. Die ukrainische Delegation bei der OSZE in Wien – besonders Botschafter Igor Prokopchuk –, hätte jahrelang krampfhaft versucht, möglichst viele Delegationen für ihre Statements zu gewinnen. Doch von den 193 UN-Mitgliedsstaaten sei nur eine Gruppe, diejenige der EU- und NATO-Mitgliedsländer, dazu bereit.

„Spätestens seit dem Gipfeltreffen von Anchorage wissen wir, dass auch die USA nicht zum Kreis jener Staaten gehören, die an der Seite der Ukraine in einen Krieg gegen Russland eintreten. Von den EU- und NATO-Staaten sind nur wenige dazu bereit, das würden Nachfragen in Lissabon, Athen und Dublin zweifelsfrei zeigen.“

In der Lieferung von Waffen generell und besonders mit Abstandswaffen großer Reichweite sehe die Trump-Administration einen Hebel, um das Geschehen zu beeinflussen. Wenn die Europäer die notwendigen Waffen dann auch noch finanzierten, wäre das ein doppelter Gewinn für die USA.

„Tomahawk“ an Kiew?

Zu den laut Berichten in der US-Führung diskutierten Lieferungen von „Tomahawk“-Marschflugkörpern an die Ukraine sagte Kujat, dass das komplexer sei, als es klinge. Das sei „nicht so, als ob man Munition für ein Gewehr liefere“. Experten meinen, die Ukraine habe nicht die Fähigkeiten, „Tomahawk“ abzufeuern. Zudem seien die US-Bestände an diesen Waffen und ihren Trägersystemen viel zu gering und viel zu wertvoll, als dass das Pentagon einer Abgabe zustimmen würde. Der Ex-Bundeswehr-General stimmte dem zu und verwies darauf, dass die entscheidende Frage dabei sei, wer ein solches Waffensystem einsatzfähig macht und wer die Ziele vorgibt.

„Wenn der erfolgreiche Einsatz eines Waffensystems nur durch die Unterstützung anderer erreicht werden kann, dann ist das eine Kriegsbeteiligung.“

Er habe Zweifel, ob die USA der Ukraine tatsächlich „Tomahawk“-Marschflugkörper liefern werden, erklärte Kujat. Diese würden inzwischen – ursprünglich für landgestützten Einsatz vorgesehen – normalerweise von Zerstörern und U-Booten gestartet, über die die Ukraine nicht verfüge. Von dem erst kürzlich dafür entwickelten bodengestützten Abschusssystem „Typhoon“ existieren demnach bisher nur zwei einsatzbereite Batterien, die dritte solle im nächsten Jahr in Deutschland aufgestellt werden. Die USA seien darauf bedacht, immer einen Mindestbestand für eigene Einsätze zurückzuhalten, erklärte der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses und fügte hinzu: „Außerdem werden sie sicherlich nicht das Risiko eingehen, dass diese neue, sensible Technologie in russische Hände fällt.“

Baud sieht ebenfalls die Ukraine bisher nicht in der Lage, das komplexe Waffensystem der „Tomahawk“ einzusetzen. Die Vorbereitung dafür würde zudem mehrere Monate dauern. Auch er wies darauf hin, dass das eine direkte Kriegsbeteiligung der USA bedeuten würde.

Bosshard verwies darauf, dass für den Einsatz der Marschflugkörper Geheimdiensterkenntnisse der USA notwendig seien: „Damit legen de facto die US-Amerikaner fest, welche Ziele bekämpft werden und welche nicht.“ Doch aus seiner Sicht möchten sich die USA nicht auf einen Schlagabtausch mit Russland einlassen. In der Praxis würden die USA Russland die Ziele bekanntgeben, welche die Ukrainer mit den Langstreckenwaffen bekämpfen werden und ihnen eine angemessene Reaktionszeit geben. Das sei im vergangenen Sommer im Fall des Iran so gehandhabt worden und habe der Iran so gemacht, wenn er in der Vergangenheit US-amerikanische Stützpunkte im Nahen Osten beschoss.

Enormes russisches Zerstörungspotenzial

Kujat bezweifelt, dass die Marschflugkörper den Krieg für die Ukraine entscheiden könnten. Russland verfüge mit seinem „hochüberlegenem Potenzial an Hyperschallwaffen sowie Kurz- und Mittelstreckenraketen mit unabhängig voneinander steuerbaren Mehrfachgefechtsköpfen über eine unvergleichliche Eskalationsdominanz“. Er warnte vor den Folgen:

„Weder die US-amerikanische noch die ukrainische Regierung sind sich offensichtlich darüber im Klaren, dass ein massiver Einsatz von ‚Tomahawk‘-Marschflugkörpern in Russland veranlassen könnte, dieses enorme Zerstörungspotenzial einzusetzen.“

Auch dazu verwies Baud darauf, dass Selenskyj wie Netanjahu anscheinend einer nihilistischen Kultur folgend keine Grenzen kenne, die ihnen auch niemand aufzeige. Und beide seien „bereit, eine globale Katastrophe zu verursachen, auch wenn sie damit ihre Ziele nicht erreichen können“. Er warnte ebenfalls, dass ein Angriff auf die russische Führung und den Kreml zu einer „sehr massiven“ Antwort führe. Und: Damit würden nach der geänderten russischen Nuklearstrategie die Kriterien für den Einsatz von Atomwaffen erfüllt. Das hätte Konsequenzen für ganz Europa.

Positiv sei zum einen, dass die russische Führung nicht impulsiv oder emotional reagiere und sehr analytisch vorgehe. Zum anderen habe Russland eine ausgezeichnete Luftverteidigung, die es ermögliche, die wichtigsten potenziellen Ziele für ukrainische Angriffe zu schützen und Waffen wie die „Tomahawk“-Marschflugkörper zu zerstören. Allerdings machen Baud die Auswirkungen auf die internationale Situation Sorgen, wie er sagte. Er sei erstaunt, „dass die westlichen politischen Führungen dieses Problem gar nicht erwähnen. Das macht mir ein bisschen Angst, dass unsere Führungskräfte allgemein nichts darüber sagen.“

Er habe den Eindruck, dass die westlichen Politiker sich über diese Situation freuen, „weil sie sehen, dass Russland davon leiden wird“. Baud kommentierte das deutlich:

„Das ist ein bisschen krank irgendwie. Man ist zufrieden, dass die Russen leiden, aber man erwähnt nicht einmal, was die Konsequenzen für uns wären.“

Trump und Vance mit Illusionen über Ukraine

Trump hatte auf der Plattform Truth Social nach einem Treffen mit dem Kiewer Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am Rand der UN-Generalversammlung unter anderem erklärt, die Ukraine könne doch noch gewinnen, mit der Unterstützung der Europäer. Der US-Präsident habe anscheinend Selenskyjs Lagebeurteilung übernommen, auch was die Situation Russlands angeht, so Kujat dazu. Er halte das für realitätsfern und „geradezu für absurd“. Die USA wollten sich eigentlich aus dem Stellvertreter-Krieg gegen Russland zurückziehen. Aus Trumps Worten spreche eine „gehörige Portion Frustration“, aber zugleich sei es auch der Versuch, Druck auf Russland auszuüben.

Auch der Schweizer Militärexperte Baud verwies auf das Interesse Washingtons, sich aus dem Konflikt zurückzuziehen. Er betonte im Gespräch, Trump sei kein Pazifist und suche nicht den Frieden, wie viele glauben. Der US-Präsident habe nur erkannt, dass der Krieg in der Ukraine gegen Russland nicht zu gewinnen ist, und er wolle nicht mit der absehbaren Niederlage Kiews in Verbindung stehen.

„Er findet alle Argumente, um zu sagen: Die Ukrainer können so was selber machen. Und die Europäer sind stark genug, um die Ukraine zu unterstützen. Und deshalb kann ich mich ruhig zurückziehen.“

Ex-OSZE-Mitarbeiter Bosshard betonte ebenfalls, „dass die USA keinesfalls selbst in den Krieg eingreifen möchten“. Aus seiner Sicht erkläre die Trump-Administration, weshalb sie nicht mit eigenen Kräften in den Konflikt eingreifen wird. Sie könne den Sieg erklären und sich dann zurückziehen, „so wie es US-Administrationen in der Vergangenheit immer wieder praktizierten“.

„Wenn ein Krieg gegen Russland ähnlich leicht zu gewinnen wäre wie gegen den Irak 1991 und 2003, dann wäre das etwas Anderes, aber selbst ein konventioneller Krieg gegen Russland ist mit unkalkulierbaren Risiken verbunden.“

Trump habe im Wahlkampf versprochen, die USA würden unter seiner Führung nicht wieder in unzählige Konflikte eingreifen, und das wolle er einhalten, auch weil im Frühsommer 2026 der Wahlkampf für die US-Zwischenwahlen beginnt. Die Lage Trumps erinnere ein wenig an diejenige von Richard Nixon gegen Ende des Vietnam-Kriegs, als dieser versuchte, mit der „Operation Linebacker II“, einer groß angelegten Bomberkampagne, die Nordvietnamesen an den Verhandlungstisch zu bomben. Wenn das im Falle der Ukraine gelänge, würde sich das Trump an seine Fahne heften und sich als „entschlossenen und klugen Führer darstellen, der den Frieden geradezu erzwingt“.

Fehlende ukrainische Reserven

Ex-NATO-Offizier Kujat widersprach den jüngsten Behauptungen von US-Vizepräsident James D. Vance, Russland sei geschwächt und erreiche auf dem Schlachtfeld nichts. Die russischen Streitkräfte hätten zwar Schwierigkeiten bei ihrem Vormarsch, aber:

„Die Wahrheit ist, dass die ukrainischen Streitkräfte zu keiner Zeit fähig waren, die strategische Lage zu ihren Gunsten zu wenden.“

Das werde ihnen auch in Zukunft nicht gelingen, betonte Kujat. Deshalb versuche Kiew seit Beginn des Krieges, diesen zu eskalieren und die NATO hineinzuziehen, bestätigte er die Aussagen der ehemaligen Schweizer Militärs. Das sei auch mit den Angriffen auf strategische Ziele auf russischem Territorium geschehen. Mutmaßliches Ziel von Selenskyj sei es auch, durch solche Angriffe die russische Bevölkerung gegen Präsident Putin aufzubringen und Russland dadurch zu schwächen. Er versuche weiterhin, den Krieg zu eskalieren, um die Europäer in diesen zu ziehen und durch eine Eskalation auf eine höhere Ebene das Geschehen doch noch für die Ukraine zu drehen.

Es müsse ein „Wunder geschehen“, wenn die Ukrainer noch einmal die Oberhand gewinnen würden, erklärte Ex-Oberstleutnant Bosshard. Die russischen Truppen befänden sich seit Monaten regelmäßig im Vormarsch und kämen zunehmend schneller vorwärts, trotz Grabenkrieg und des Einsatzes präzisionsgesteuerter panzerbrechender Artillerie und von Drohnen. Alle bisherigen ukrainischen Gegenangriffe hätten bisher nichts erreicht. Für neue „müssten seitens der Ukraine jetzt bedeutende Reserven vorhanden sein, die bislang unentdeckt blieben und ungehindert an die Front geführt werden können“. Solche Reserven sehe er derzeit nicht, so der Schweizer Militärexperte.

„Die USA können vielleicht Putin an den Verhandlungstisch bewegen, aber die Mittel, um Selenskyjs Verhandlungsposition entscheidend zu stärken, haben sie nicht und die Westeuropäer haben sie schon gar nicht. In Russland ist es mit dem Respekt vor der NATO vorbei.“

Ukraine als Opfer für westliche Hybris

Auch Jacques Baud machte darauf aufmerksam, dass Russland militärisch und wirtschaftlich nicht in einer schlechten Lage sei, wie Trump und Vance meinen. Im Westen werde immer noch davon geträumt, dass Russland kollabiere, doch das sein nur „Fantasie“. Die Probleme Russlands bestünden darin, dass aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums die Arbeitskräfte knapp wurden, die Löhne deshalb und auch dadurch die Inflation anstiegen. Es werde auch nicht nur in die Rüstungsindustrie investiert, sondern ebenso in den Konsumgüterbereich, um den Fehler der einstigen Sowjetunion zu vermeiden, die sich auf die Rüstung konzentrierte.

Militärisch gesehen sei Russland ebenfalls erfolgreich, sagte der Schweizer Ex-Militär. Er machte deutlich, dass es dabei nicht um die westliche „Maßeinheit von Erfolg“ in Form von eroberten Quadratkilometern an Territorium geht. Die russische Seite habe im Herbst 2022 ihre Strategie gewechselt. Zuvor seien drei Versuche Moskaus, mit Kiew zu verhandeln – auf dessen Initiative – im Februar, im März und im August 2022 aufgrund der westlichen Einflussnahme gescheitert. Seitdem werde versucht, auf den Feind, die ukrainischen Truppen, zu warten und ihn systematisch zu zerstören, anstatt schnell vorwärts zu kommen und viel Territorium zu erobern. Das werde von den westlichen Politikern nicht richtig verstanden, so Baud. Anderenfalls hätten sie sofort Verhandlungen aufgenommen, um das Potenzial der Ukraine zu behalten.

Die westlichen Politiker würden nur in einer Dimension denken und nicht vorwärts schauen. „Das heißt, sie reagieren nur primitiv und sehr oberflächlich auf die Situation“, stellte er fest. Die Konsequenz sei, dass die Ukraine ihre aktiven Kräfte, nicht nur die militärischen, sondern menschliche Kräfte, verliere. Die Frage sei, wie es weitergehen soll, ob der Krieg weitergeführt wird, um Russland weiter Probleme zu bereiten. Die Ukraine werde für die westliche Hybris geopfert, betonte Baud.

Zugleich würden westliche Politik und Medien nur auf das hören, was Selenskyj ihnen über die Lage erzähle, und dabei sogar die realistischeren Berichte ukrainischer Medien und Journalisten ignorieren.

Putins neue Warnung

Der russische Präsident hatte am 22. September gegenüber den Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates Russlands mit Blick auf die „extreme Gefahr vor einer weiteren Verschlechterung“ der geopolitischen Lage, insbesondere im Ukraine-Konflikt“ gewarnt:

„Russland ist in der Lage, auf alle bestehenden und neu entstehenden Bedrohungen zu reagieren, und zwar nicht mit Worten, sondern durch militärisch-technische Maßnahmen.“

Das war zugleich verbunden mit dem Vorschlag der Wiederaufnahme der Verhandlungen zur atomaren Abrüstung und zur Verlängerung des New-START-Vertrags von 2010. Eine ähnliche Warnung, verbunden mit einem Verhandlungsangebot, um die Lage zu entschärfen und die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten zu berücksichtigen, hatte Russlands Präsident im Dezember 2021 ausgesprochen:

„Selbstverständlich werden wir, wie bereits erwähnt, im Falle einer Fortsetzung der eindeutig aggressiven Linie unserer westlichen Kollegen angemessene militärisch-technische Gegenmaßnahmen ergreifen und auf unfreundliche Schritte hart reagieren.“

Zuvor hatte Moskau Vertragsvorschläge an die USA und die NATO übermittelt, die auch eine Garantie des Westens einschlossen, dass die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wird. Das wurde aber ebenso wie die Warnung ignoriert – die Antwort erfolgte am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine.

Diese deutlichen Warnungen würden im Westen nicht wahrgenommen, so Kujat, und stattdessen der Eindruck erweckt, Russland würde ständig „rote Linien“ ziehen und bei deren Überschreitung doch nicht reagieren. Er halte das für eine „völlige Fehleinschätzung der russischen Eskalationsstrategie“. Russland habe eine „sehr hohe Toleranzschwelle“ und bisher nur mit geringer Eskalation auf ukrainische Angriffe wie die auf die Flugplätze der strategischen Bomberflotte reagiert. Ein Einsatz von „Tomahawk“-Marschflugkörpern gegen russische strategische Ziele wie Führungszentren würden einen Wendepunkt für Russlands Art der Kriegführung bedeuten. Es könnte dann tatsächlich von einem Abnutzungskrieg zu einem Zerstörungskrieg übergehen.

Niemand könne sagen, wann Russland massiv reagiere, aber sicher sei, dass es hart zurückschlage. Deshalb sei „sehr sorgfältig“ zu überlegen, ob eine Situation geschaffen wird, die Russland in eine Lage bringt, dass es gar nichts anderes tun könne, „als wirklich massiv zurückzuschlagen“. Der Schweizer Militärexperte Baud machte im Gespräch ebenfalls auf die steigende Gefahr für Europa in Folge der anhaltenden Provokationen gegen Russland aufmerksam. Die Politiker und Medien im Westen würden den Eindruck haben und verbreiten, dass Russland nicht fähig sei, eine militärische Antwort zu geben. Es werde nicht ernst genommen, was Putin sagt, und von einem „Bluff“ Moskaus gesprochen.

Kreml hat echte Eskalationsdominanz

Für den Schweizer Militärexperten Bosshard ist klar, dass Russland nicht unverwundbar ist, „denn allein schon die Größe des Landes zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche“. Deshalb würden die USA und die Ukraine immer einen Ort in Russland finden, der nicht hinreichend geschützt sei. Da die wirklich wichtigen Objekte gut geschützt seien, würden zweitrangige Ziele ausgewählt, um Druck auszuüben.

„Im Informationskrieg kann die Ukraine beliebig eskalieren, selbst Angriffe mit zahlreichen zivilen Opfern und hohen Kollateralschäden wird die westliche Öffentlichkeit ihr verzeihen“, stellte Bosshard fest. Und fügte hinzu: „Im echten Krieg aber hat der Kreml die Eskalationsdominanz und kann in der Ukraine sehr weit gehen.“ Er habe eine ganze Palette verschiedener Mittel und zahlreiche Optionen für verdeckte Handlungen, „mit welchen er die eifrigsten Mitglieder in der Koalition der Willigen warnen und zu einer Mäßigung zwingen kann“. Er sei überrascht, dass die russische Führung das noch nicht getan habe, „aber sie reagieren erfahrungsgemäß langsam, aber sehr überlegt“. Der ehemalige Schweizer Gasthörer der Generalstabs-Akademie der russischen Armee ist sich „fast sicher, dass sie gewisse Szenarien vorher auf Gefechtssimulatoren durchspielen, bevor sie ihre Schachzüge ausführen“.

Baud verwies darauf, dass Russlands Präsident Putin „sehr angemessen“ die Probleme darstelle und beantworte. „Er ist nicht emotional und deshalb hat man den Eindruck, er hat Angst, die richtige Antwort zu geben“, schätzte der Schweizer Ex-Offizier ein. Das werde sogar in Russland kritisiert, dass Putin als ein „sehr überlegender Mensch“ nicht den Eindruck einer gewissen Entschlossenheit mache. Das führe im Westen zu einem falschen Eindruck, der sich in seiner eigenen Rhetorik bestätigt sehe, dass Russland nicht in der Lage sei, auf die Bedrohungen zu reagieren:

„Es stimmt zwar, dass Russland über enorme Mittel verfügt, um zurückzuschlagen, aber Putin will dies nicht. Er ist ein Stratege und zieht es vor, sich Optionen für kritischere Situationen offenzuhalten. Genau das haben die Europäer nicht getan, und nun sind sie Gefangene ihrer strategielosen Handlungen.“

Baud betonte, es bestehe die Gefahr, „dass wir in einer Situation sind, wo wir einen vollen Becher haben, in den weitere Tropfen kommen, bis er überläuft“. Er kritisierte, dass angesichts der zunehmend kritischen Situation niemand im Westen nicht einmal eine Idee für eine Lösung habe. Die sieht er in einem Dialog mit Russland. Die westlichen Staaten hätten zwar die diplomatischen Aktivitäten der USA begrüßt, „aber kein EU-Land hat irgendwie den Anfang einer diplomatischen Beziehung mit Russland gemacht. Das scheint mir total unglaublich. Total unglaublich!“

„Man versucht alle möglichen Lösungen zu finden – außer die normalste, die logischste, die billigste und die intelligenteste, dass man einmal mit Moskau diskutiert. Das wurde gar nicht erwähnt. Wie kann man so dumm sein, das ist für mich unverständlich.“

Kujat plädiert dafür, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, um den Krieg zu beenden. Er sieht gegenwärtig wieder einen Scheidepunkt, ob der Krieg beendet oder weiter eskaliert wird, „mit dem Risiko, dass er ausgeweitet wird auf den gesamten europäischen Kontinent“. Auf russischer Seite gebe es großes Interesse, den Krieg zu beenden, auch weil er Moskaus geopolitischen Einfluss einschränke.

Europa in strategischer Sackgasse

Aber beide Seiten müssten Schritte aufeinander zugehen und angesichts des Rückzugs von Trump aus dem Krieg würden die Europäer eine größere Rolle spielen. Doch diese hätten sich „strategisch in eine Sackgasse“ begeben und würden dennoch „immer weiter in die gleiche Richtung“ marschieren.

„Wir sind ja auch weder bereit noch in der Lage gewesen, in dreieinhalb Jahren einen eigenen Vorschlag, wie auch immer der aussehen möge, zu machen.“

Stattdessen werde in Deutschland eine mentale Kriegsbereitschaft hergestellt. Der Ex-General bezeichnete das als „völlig inakzeptabel“ und erinnerte an den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974 – 1982). Wie dieser sehe er ein militärisches Gleichgewicht als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Frieden. Hinzu müsse der Dialog mit der anderen Seite kommen sowie der Versuch, ihre Interessen zu verstehen, und politisch stabilisierende Maßnahmen. Das politische Handeln müsse vorhersehbar sein, was derzeit in Deutschland und Europa nicht der Fall sei.

Baud sieht als Problem, dass der Westen die eigenen Lügen und Mythen über den Ukraine-Krieg glaubt und keine andere Lösung gefunden hat, als ihn fortzusetzen. Auch er sieht die westliche Politik in einer Sackgasse, gefangen in der selbstverursachten Situation. Es fehle der Mut einzugestehen, von falschen Überlegungen ausgegangen zu sein und „die ganze Logik zu wechseln“ – „und deshalb müssen wir weiterhin mit der gleichen blöden Logik weitergehen“, die nicht der Realität entspreche.

„Die beste Sicherheit kommt aus guten Beziehungen“, stellte Ex-Oberst Baud klar. „Das A und O einer guten Sicherheit ist, dass man gute Beziehungen mit seinen Nachbarn hat“, sagte er. Das sei ganz einfach, aber niemand im Westen halte das für eine mögliche Lösung. „Das finde ich absolut unglaublich“, fügte er hinzu. Wie Kujat betonte er, dass Sicherheitspolitik immer auf zwei Säulen beruhe, der Außenpolitik und der Verteidigungspolitik. Erstere sei verantwortlich dafür, gute Beziehungen mit anderen zu gestalten – „ob der andere gut oder schlecht oder groß oder braun oder grün oder blau ist, das spielt keine Rolle, auch nicht, ob er das ‚richtige‘ politische System hat“.

Was für das private Leben gelte, sei auch auf der internationalen Ebene richtig. „Wie kann man sich vorstellen, dass die Sicherheit allein auf die Verteidigung gestützt werden kann“, ist für ihn eine der Fragen angesichts aktueller politischer Aussagen auch in Deutschland. Baud machte zudem darauf aufmerksam, dass westliche Politiker eine Situation provozieren, „die in einen tatsächlichen heißen Krieg führen kann“. Dabei habe die „Koalition der Willigen“ gar nicht die Mittel, einen solchen zu führen. Zudem sei in Europa niemand bereit, für die Ukraine zu kämpfen.

Drohender Kernwaffeneinsatz

Militärexperte Bosshard sieht die Gefahr, dass es zu einem großen Krieg in Europa kommt, angesichts der anhaltenden Provokationen gegen Russland als „sehr groß“ an. Er kenne die Möglichkeiten der russischen Armee wie auch ihre Denkweise und Doktrin. Dabei werde auf Überlegungen aus dem Kalten Krieg zurückgegriffen, wie beispielsweise:

„Wenn der grundsätzlich ressourcenmäßig überlegene Westen gegen uns aufmarschieren will, dann werden wir die Aufmarschbasis zerstören. Und das wird massive Angriffe gegen jegliche nutzbare Infrastruktur in den baltischen Republiken und im Osten Polens nach sich ziehen, so wie jetzt in der Ukraine praktiziert.“

Er fügte hinzu:

„Rechnen Sie mal mit dem Einsatz von 200 bis 250 Kernsprengköpfen in einem Krieg, wenn der Westen wirklich sich anschicken sollte, seine überlegenen Ressourcen gegen Russland in Marsch zu setzen.“

Als er das einem Schweizer Regierungspolitiker erklärt habe, habe dieser das „nicht gern gehört“. Aber das sei seine Einschätzung der Lage. Wenn die NATO als Ganzes angreift, dann werde der Krieg von Beginn an nuklear, erklärte Bosshard. Es gebe im Westen „Idioten“, in der EU und in der NATO, einschließlich Polen, die Russland zerstören und aufteilen wollen, bestätigte er. Deshalb befinde sich das Land im Verteidigungsmodus. Die Russen hätten den Eindruck, sie müssten ihre pure Existenz verteidigen und dafür kämpfen. Dafür werde das Land investieren und seine letzten Reserven mobilisieren.

Er erwarte in den nächsten Jahren eine solche Auseinandersetzung und schätze die Gefahr als hoch ein. Nach einem Waffenstillstand werde sich die Ukraine zusammen mit der NATO auf einen Revanche-Krieg vorbereiten. Darauf bereite sich der Westen schon vor, indem er der eigenen Bevölkerung Angst mache, um die finanziellen Mittel für die Aufrüstung gegen Russland zu begründen.

Unterdessen hat Russlands Präsident Putin laut der russischen Nachrichtenagentur Tass erklärt, eine mögliche Entscheidung der USA, „Tomahawk“ an die Ukraine zu liefern, würde die Beziehungen zwischen Russland und den USA „ruinieren, oder zumindest den sich abzeichnenden positiven Trend in diesen Beziehungen“.

Am 31. Oktober werden General a.D. Harald Kujat, Admiral a.D. Kay-Achim Schönbach und Oberstleutnant a.D. Ralph Bosshard gemeinsam mit dem Journalisten Patrik Baab über das Thema „Europa zwischen Krieg und Frieden – wird Europa zum Schlachtfeld?“ diskutieren. Mehr Informationen dazu gibt es auf Telegram hier: t.me/Reden_im_Raum

Titelbild: Fraktion DIE LINKE im Bundestag (CC BY 2.0), privat, (C) RSI


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