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Titel: Das vererbte Risiko – Wenn Herkunft über Gesundheit entscheidet: Alltag und Schule. Serie zu Kinderarmut (Teil 2)
Datum: 8. November 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Chancengerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Redaktion
Die Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern ein zentraler Gesundheitsfaktor. Kinder, die regelmäßig und gerne zur Schule gehen, sind körperlich und seelisch stabiler. Doch das deutsche Bildungssystem verstärkt Ungleichheit, statt sie zu mildern. Schulen sind auch Spiegel der sozialen Lagen: Kinder aus ärmeren Haushalten sind häufiger krank, fehlen öfter, haben geringere Konzentrationsspannen und mehr psychosomatische Beschwerden. Diese körperlichen Signale sind das Echo eines Alltags unter Stress, verursacht durch soziale Benachteiligung. Von Detlef Koch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Den erstenTeil dieser Serie finden Sie unter diesem Link. Die in dieser Serie auftretende „Lina“ ist eine fiktive Person – die Lebensumstände und Geschehnisse haben aber einen sehr realen Hintergrund.
Alltag und Schule – Wie Armut den Körper formt
Wenn Lina[1] morgens die Schule betritt, hat sie bereits eine unsichtbare Hypothek im Ranzen. Sie besteht aus unausgeschlafenen Nächten, Lärm aus der Nachbarwohnung, einem Frühstück aus gesüßtem Tee, gelegentlich auch aus gar nichts. Ihr Lehrer, Herr Behrens, bemerkt die Müdigkeit, das fahrige Verhalten, das häufige Fehlen. Er weiß, dass vieles davon kein Zeichen von „Desinteresse“ ist, sondern von Überforderung. Aber er weiß auch, dass die Schule diese Überforderung selten ausgleichen kann.
Das Klassenzimmer als Spiegel sozialer Ungleichheit
In der Schule verdichtet sich die soziale Lage eines Kindes zu beobachtbarem Verhalten.
Kinder aus ärmeren Haushalten sind häufiger krank, fehlen öfter, haben geringere Konzentrationsspannen und mehr psychosomatische Beschwerden – das zeigen alle großen Kinder- und Jugendgesundheitsstudien in Deutschland.
Laut der KiGGS-Studie klagen Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus doppelt so häufig über chronische Schmerzen wie Gleichaltrige aus wohlhabenden Familien, sie leiden häufiger unter Schlafstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen.
Diese körperlichen Signale sind das Echo eines Alltags unter Stress. Wer in beengten Wohnungen lebt, lernt früh, Lärm und Reizüberflutung zu ignorieren. Wer sich über Monate Sorgen um Geld oder Essen macht, gewöhnt sich an die Anspannung. Doch der Körper vergisst nicht. Dauerstress verändert die Ausschüttung von Stresshormonen, hemmt das Immunsystem, beeinträchtigt Wachstum und Lernfähigkeit.
Lina ist acht Jahre alt, doch ihre Blutwerte ähneln denen eines Erwachsenen mit chronischem Stress. Schulpsychologen beschreiben dieses Phänomen als „toxischen Stress“.
Er unterscheidet sich von normaler Belastung dadurch, dass er keine Erholung zulässt.
Das Kind hat keine sicheren Räume, in denen sich der Körper regulieren kann – keine Rückzugsmöglichkeiten, keine stabile Tagesstruktur. In diesem Zustand reagiert der Organismus auf jede neue Anforderung – Prüfungen, Konflikte, Geräusche – mit Überlastung.
Ernährung als täglicher Grenzgang
Der Kühlschrank ist ein Seismograph sozialer Unterschiede. In Haushalten mit niedrigen Einkommen fehlen seltener Kalorien, aber häufiger Vitamine und Spurenelemente.
Eine Untersuchung des Ernährungswissenschaftlers Hans Konrad Biesalski zeigte, dass Kinder aus ALG-II-Haushalten häufig an „verdecktem Hunger“ leiden: Ihre Energiezufuhr ist ausreichend, aber sie konsumieren zu wenig Obst, Gemüse und Vollkornprodukte.
Das Resultat ist eine paradoxe Kombination aus Übergewicht und Nährstoffmangel – ein Muster, das Biesalski den „Double Burden“ nennt.
Die BZgA kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Kinder aus Familien mit geringem Einkommen treiben seltener Sport, rauchen im Jugendalter häufiger, trinken mehr Softdrinks und essen mehr Fertigprodukte. Die Folgen zeigen sich schon im Grundschulalter.
Laut KiGGS sind 21,6 Prozent der Mädchen und 19,7 Prozent der Jungen aus niedrigen Statusgruppen übergewichtig, während es in der hohen Statusgruppe nur rund zehn Prozent sind. Linas Mutter weiß das alles. Aber sie weiß auch, dass frisches Obst teurer ist als Tiefkühlpizza und dass der nächste Supermarkt einen Kilometer entfernt liegt. Wenn das Geld knapp wird, kauft sie, was lange satt macht. Das ist kein Versagen, sondern Überlebenslogik.
Das stille Gift des Bewegungsmangels
Gesunde Bewegung, ausgewogene Ernährung und soziale Teilhabe gelten als Grundvoraussetzungen für ein gesundes Aufwachsen. Doch sie setzen Zeit, Geld und Raum voraus – drei Ressourcen, die Armut systematisch entzieht.
Laut den Erhebungen des Robert Koch-Instituts erreichen nur 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene tägliche Bewegungsdauer von einer Stunde. Bei Kindern aus einkommensarmen Familien ist der Anteil noch niedriger. Sportvereine kosten Beiträge, Fahrräder brauchen Wartung, sichere Spielplätze sind in vielen Quartieren Mangelware.
Bewegung ist nicht nur Fitness, sie ist ein Regulator des Nervensystems.
Kinder, die sich regelmäßig austoben, verarbeiten Stress besser, schlafen tiefer, haben stabilere Immunreaktionen. Wenn diese Möglichkeit fehlt, kumuliert sich Anspannung im Körper. Die Folgen reichen von Übergewicht über Haltungsschäden bis zu psychischen Störungen.
In Linas Viertel gibt es einen Bolzplatz, auf dem Jugendliche aus der Umgebung Fußball spielen. Doch er ist abends unbeleuchtet und gilt als „Problemort“. Die Mutter lässt Lina dort nur selten hin. Das Kind bleibt drinnen, vor dem Bildschirm – sicher, aber still.
Schule als Schutzraum – und als Risiko
Die Schule könnte vieles abfedern: Ernährung, Bewegung, soziale Kontakte.
Aber sie ist selten dafür ausgestattet. In vielen Bundesländern hängt die Qualität der Schulverpflegung von den Budgets der Kommunen ab. Während in wohlhabenden Regionen täglich frisch gekocht wird, besteht das Mittagessen in strukturschwachen Gebieten oft aus Aufwärmware – reich an Kohlenhydraten, arm an Nährstoffen. Lehrerinnen berichten, dass Kinder aus armen Familien häufiger auffallen: nicht durch mangelnde Begabung, sondern durch Erschöpfung.
Sie kommen ohne Sportsachen, ohne Frühstück, ohne Hausaufgaben. Oft fehlt zu Hause die Ruhe oder der Raum zum Lernen. Armut produziert in dieser Logik ein System permanenter Defizitdiagnosen – jedes Symptom wird als individuelles Versagen gelesen, nicht als gesellschaftliche Folge.
Kinderärzte, die in sozialen Brennpunkten praktizieren, sprechen von „Schattengesundheit“: Krankheiten, die zu spät erkannt werden, weil die Eltern nicht wissen, welche Ansprüche sie haben oder weil sie Wartezeiten nicht überbrücken können.
Fehlende Sprachkenntnisse oder Misstrauen gegenüber Institutionen verschärfen die Hürden. So entsteht ein Teufelskreis: Wer das System am meisten braucht, erreicht es am wenigsten.
Psychische Lasten, stille Anpassung
Lina ist ein stilles Kind geworden. Sie weiß, dass andere Kinder in den Ferien verreisen, Geschenke bekommen, mit ihren Eltern ins Kino gehen. Sie lernt früh, sich nicht zu beklagen.
Diese Art von Anpassung gilt in Schulen oft als „resilient“. Tatsächlich ist sie ein Schutzmechanismus: Schweigen, um dazugehören zu können. Doch die Forschung zeigt, dass diese emotionale Selbstregulierung ihren Preis hat. Kinder, die über längere Zeit in prekären Verhältnissen leben, entwickeln häufiger Angst- und Depressionssymptome, sie zeigen geringere Selbstwirksamkeit und eine erhöhte Stressanfälligkeit. Das Deutsche Jugendinstitut fasst zusammen: „Armutslagen im Kindesalter wirken sich negativ auf die psychische Gesundheit und die Fähigkeit zur Bewältigung von Belastungen aus.“ Psychologen sprechen von einer „emotionalen Verengung“: Wer über Jahre lernt, Bedürfnisse zu unterdrücken, verliert den Zugang zu ihnen. Das kann im Jugendalter zu Rückzug, Aggression oder Selbstabwertung führen – Symptome, die oft medizinisch behandelt werden, aber soziale Wurzeln haben.
Bildung als Gesundheitsfaktor
Die Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern ein zentraler Gesundheitsfaktor. Kinder, die regelmäßig und gerne zur Schule gehen, sind körperlich und seelisch stabiler. Doch das deutsche Bildungssystem verstärkt Ungleichheit, statt sie zu mildern. Leistungsselektion ab der vierten Klasse bedeutet für viele Kinder aus Arbeiter- oder Armutsfamilien den frühzeitigen Ausschluss von Aufstiegschancen.
Die KiGGS-Daten zeigen, dass Bildung und Gesundheit in enger Wechselwirkung stehen:
Je höher der Bildungsgrad der Eltern, desto besser die Gesundheitsindikatoren der Kinder – und umgekehrt. Gesundheitliche Belastungen können wiederum schulische Leistungen beeinträchtigen, wodurch sich Ungleichheit reproduziert.
Lina versteht in der Schule schnell, dass sie zu denen gehört, „die nicht so weit kommen“. Ihre Lehrerin ist wohlmeinend, aber überfordert. Es gibt keine Schulsozialarbeiterin, keinen kostenlosen Mittagstisch, keinen Raum für Gespräche. Das Bildungssystem kompensiert nicht – es sortiert.
Wenn das System zur Krankheit wird
Die Sozialpädiaterin Sabine Walper formulierte es einmal so: „Kinderarmut ist kein individuelles Versagen, sondern ein kollektives Gesundheitsrisiko.“ Das Risiko entsteht dort, wo soziale Systeme – Schule, Gesundheit, Familie – nicht miteinander kommunizieren. Lina ist das Produkt dieser Lücken, belastet durch Infekte, Konzentrationsprobleme und Müdigkeit. Doch im Grunde leidet nicht sie, sondern eine Gesellschaft, die zulässt, dass Kinder auf diese Weise aufwachsen müssen.
Was in diesem zweiten Teil der Serie zu Kinderarmut und Gesundheit sichtbar wurde, ist, dass Armut nicht nur Lebensumstände, sondern Körper und Verhalten formt – das setzt sich im dritten Teil der Serie auf einer anderen Ebene fort: im System selbst.
Wir haben einen kleinen Einblick in das alltägliche Erleben von Benachteiligung im Schul- und Familienkontext kennengelernt. Die kommende Folge drei richtet den Blick auf jene Strukturen, die diese Ungleichheit nicht nur widerspiegeln, sondern mitproduzieren. Es geht um ein Gesundheitswesen, das formal allen offensteht, faktisch aber nach sozialen Linien sortiert – durch Wartezeiten, Bürokratie und ökonomische Anreize.
Der nächste Teil untersucht, wie sich strukturelle Hürden in medizinischer Versorgung, Prävention und psychischer Betreuung zu einem unsichtbaren Selektionsmechanismus verdichten. Er fragt, warum ein hochentwickeltes System Kinder wie Lina zwar behandeln, aber nicht schützen kann – und was es kosten würde, diese Schieflage zu beheben, bevor sie neue Generationen krank macht.
Quellen
Titelbild: Hryshchyshen Serhii / Shutterstock
[«1] Lina ist eine fiktive Person, die Lebensumstände und Geschehnisse haben einen realen Hintergrund.
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Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=141705