Startseite - Zurück - Drucken

NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Thema verfehlt! Lieferkettengesetz zerbröselt – aber alle reden von Brandmauer
Datum: 14. November 2025 um 15:00 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Rechte Gefahr, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Das EU-Parlament brachte einen Gesetzentwurf durch, der die Berichts- und Sorgfaltspflichten von Konzernen im Umgang mit Menschenrechten minimiert und dessen Reichweite kläglich ist. Hierin liegt der eigentliche Skandal. Dass das Votum durch eine Allianz von Konservativen und Rechtsaußen zustande kam, darf das nicht vergessen machen. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.
Wird das, was das Europäische Parlament am Donnerstag beschlossen hat, rechtskräftig, hätte man sich den ganzen Aufriss sparen können. Erklärtes politisches Ziel war es einmal, Ausbeutung, Entrechtung, Versklavung, ökologische Zerstörung, sprich Menschenrechtsverletzungen aller Art, in den globalen Wertschöpfungskreisläufen einzudämmen. Dieser Anspruchskatalog ist mit der gestern auf den Weg gebrachten EU-Lieferkettenrichtlinie reif für den Papiermüll. Auf Deutschland übertragen, müsste nur noch ein Bruchteil an Unternehmen extrem reduzierte Berichts- und Sorgfaltspflichten erfüllen. Schätzungen reichen von 120, über 150 bis hinauf zu 276. Nach der seit 2024 geltenden Rechtslage sind es noch über 5.000. Oxfam Deutschland bringt es auf den Punkt: „Tausende Großkonzerne sollen sich künftig an gar keine Regeln in ihrer Lieferkette halten müssen.“
Die Zerhackstücklung eines sinnvollen und richtungsweisenden Projekts hat sich lange abgezeichnet. Faktisch war es den Entscheidern durch die Zivilgesellschaft aufgenötigt worden, damals vor Corona, als Soziales und Klima noch relevant waren und Menschen bewegten. Mit abnehmendem öffentlichen Druck und angesichts neuer Aufreger wie „Zeitenwende“, „Kriegstüchtigkeit“ und Donald Trump gerieten die Verantwortlichkeiten der deutschen und EU-Wirtschaft für Menschenrechte rasch und nachhaltig aus dem Blick. Auf politischer Ebene wurde das Thema seit Jahren nur mehr unter der Maßgabe verhandelt, wie sich die „Belastungen“ für die Unternehmerschaft begrenzen lassen, nicht die von Kinderarbeitern in afrikanischen Kobaltminen.
Meilenstein oder Grabstein
Robert Habeck von den Grünen hatte die Prioritäten in seiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister mit dem Vorstoß, das deutsche Lieferkettengesetz zwei Jahre auf Eis zu legen, in großer Offenheit auf den Punkt gebracht. Zitat: „Das wäre das Beste.“ Spätestens damit war der Weg geebnet zum heute beherrschenden Diskurs unter Schwarz-Rot, wonach das Regelwerk ein „bürokratisches Monster“ sei, das es zu bändigen gelte. Wie treffend kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) die Vorgänge: „Ob das Abstimmungsergebnis ein Meilenstein auf dem Weg zur Weckung neuer Wachstumskräfte in der EU ist, steht dahin.“ Bei einem anderen Ausgang „wäre der Bürokratieabbau an die Wand gefahren worden, bevor er begonnen hätte“. Vom „Grabstein“, den das Votum auf Bemühungen zu setzen droht, die Globalisierung ein Stück weit zu zivilisieren, spricht der Autor nicht. Vielmehr fragt er sich: „Wo ist der Skandal?“
Ja, wo eigentlich? Nimmt man die mediale Berichterstattung, steht nämlich ein ganz anderer Aspekt im Zentrum. Eben nicht der Inhalt und die Folgen des Beschlusses, sondern die Art des Zustandekommens. Die konservative EVP-Fraktion hat die Vorlage gemeinsam mit den Rechtsaußenfraktionen EKR, PfE und ESN durchgebracht und prompt erhob sich ein lautes Geschrei, damit sei die „Brandmauer“ eingerissen. Gemeint ist das, was angeblich die guten, lupenreinen Demokraten von den bösen Demokratieverächtern, Populisten und Postfaschisten trennt. Wenn die Mauer Risse zeigt, bröckelt oder gar zusammenfällt, könne die Demokratie alsbald einpacken. So oder ähnlich geht die Erzählung, die speziell auch hierzulande im Umgang mit der AfD hoch im Kurs steht. Und wenn Konservative und Rechte schon in Europa gemeinsame Sache machten, werde gleiches demnächst auch im Bundestag passieren.
Auf neoliberaler Linie
Ja, genau das wird früher oder später passieren beziehungsweise soll passieren. Maßgebliche Kräfte innerhalb von CDU/CSU arbeiten daran und der EU-Parlamentsentscheid ist ein Schritt in diese Richtung, bestimmt kein Betriebsunfall. Aber ist das alles so schlimm, wie SPD und Grüne nebst der Linkspartei glauben machen wollen? Oder doch ein Beitrag zu politischer Aufrichtigkeit, der Schluss macht mit Augenwischerei? Faktisch stehen sich Union und AfD viel näher, als es bisher den Anschein haben sollte und durfte. Sie arbeiten sogar schon gedeihlich zusammen, wenn auch nicht offiziell. Die harte Gangart der Regierung in der Flüchtlingspolitik ist keine erzwungene Antwort auf den massiv erstarkten rechten Rand. Wenigstens CDU und CSU lassen sich gerne von der AfD antreiben, die Grenzen dichtzumachen und „deutsche Interessen“ über die von Migranten zu stellen. Dasselbe gilt für die Verschärfungen beim Bürgergeld und viele andere Felder: von Rente, über Arbeitsrecht bis zur Wirtschaftspolitik. Für den rigiden neoliberalen Umbau der Gesellschaft ist die AfD kein bisschen weniger als der Blackrock-Kanzler Friedrich Merz (CDU).
In Wirklichkeit gibt es zwischen Union und AfD längst mehr Verbindendes als Trennendes. Selbst in der Russland-Frage ist man dabei, das Kriegsbeil zu verbuddeln. Bisher galt die Nähe zum Kreml und die Ablehnung des deutschen Ukraine-Beistands als Geht-ja-gar-nicht-Position der AfD. Plötzlich verbietet Parteichefin Alice Weidel Fraktionsmitgliedern Reisen nach Russland. Das signalisiert ohne Frage: Wir rücken auf Kurs außenpolitischer Mainstream. Die Hochrüstung Deutschlands ist der Partei ohnedies ein Herzensanliegen, nur dass bisher nicht entschieden schien, ob man sich auch mit Wladimir Putin anlegen würde. Jetzt liegen die Dinge klarer. Das kann auch für allerhand Anhänger der Partei ein Augenöffner sein: Frieden mit Russland oder gar Pazifismus, womit die AfD lange hausieren ging, sind nicht wirklich ernst gemeint. Zu sehen, wie sich die Partei zur Kenntlichkeit „verbiegt“, um endlich koalitionsfähig zu werden, könnte sie einiges an Glanz kosten. Sollte sie dereinst wirklich einmal mitregieren, um Rentenklau, Arbeitszeitverlängerung, Klinikkahlschlag oder Bahn-Privatisierung aktiv mitzugestalten, könnte ihr Stern noch viel schneller sinken. Manches davon steht schon heute im Parteiprogramm, was jedoch viele ihrer Wähler nicht wissen dürften.
Sparschwein mit 800 Euro
Die SPD hat ihre Reize schon vor langer Zeit verloren, indem sie dem Neoliberalismus verfallen ist. Bei der Abstimmung in Straßburg sollen selbst Sozialdemokraten mit dem rechtskonservativen Lager votiert haben. Aus der SPD habe sich sogar Parteichef Lars Klingbeil auf die EVP-Seite geschlagen, schrieb die FAZ. Im fraglichen Entwurf greift die Sorgfaltspflicht erst bei Unternehmen ab 5.000 Beschäftigten und 1,5 Milliarden Euro Umsatz. Zudem drohen bei Verstößen keine harten Sanktionen mehr: Eine zivilrechtliche Haftung entfällt, Verstöße würden lediglich als Ordnungswidrigkeit mit geringfügigem Bußgeld vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) geahndet. Über soziale und ökologische Nachhaltigkeit sollen nur noch Großkonzerne mit mehr als 1.750 Beschäftigten berichten müssen – und das nur noch in vereinfachter Form. Komplett gestrichen wurde die Berichtspflicht darüber, wie Unternehmen im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen wirtschaften wollen.
Das katholische Entwicklungshilfswerk Misereor beklagt ein „Desaster für Menschenrechte und die EU“. Es könnte noch verhindert werden. Beim anstehenden Trilog müsse die Bundesregierung Haltung zeigen, „damit Ausbeutung von Mensch und Natur wirksam bekämpft wird“, appelliert der Verband. Damit ist nicht zu rechnen. Vor drei Wochen war im EU-Parlament der Versuch, das seit 2024 geltende Regelwerk zu entkernen, noch gescheitert. Merz tobte, die Entscheidung sei „inakzeptabel“. Dann wurden die Karten neu gemischt, mit gewiss maßgeblicher deutscher Einmischung, mit besagtem Ergebnis.
Lohnt sich das? Der Normenkontrollrat hat errechnet, was hiesige Unternehmen sparen, sofern sie künftig nicht mehr nach deutschem, sondern europäischem Recht ihren Pflichten nachkommen: 4,1 Millionen Euro, oder 800 Euro bezogen auf 5.000 Firmen. So viel zu „Bürokratie-Monster“. Das haut die dickste Brandmauer um.
Titelbild: Juhku/shutterstock.com
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=142109