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Titel: Wir brauchen eine andere Zeitenwende – für unsere Kinder und uns

Datum: 17. November 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Finanzpolitik, Sozialstaat
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Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF hält in seinem neuen Bericht über die Situation der Kinder in Deutschland der Politik und Gesellschaft einmal mehr (wohl vergeblich) den Spiegel vor. Weit über einer Million Kindern in Deutschland fehlt es am Nötigsten, heißt es unter anderem. Und das in einem der reichsten Länder des Kontinents, das – so die Politik – wieder Führung übernehmen muss. Sie setzt dabei vor allem auf die Jugend, auf die Heranwachsenden, auf dass die Nation ertüchtigt wie selten und verpflichtend wehrhaft werde wie seit dem letzten Weltkrieg nicht mehr. Gestählt und patriotisch ließen sich dann all die Missstände besser ertragen? Die Kinder, ihre Eltern und all die Menschen, die sich um sie kümmern – Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter, die diese Missstände erleben –, müssten halt die Zähne zusammenbeißen? Nein, müssen sie nicht. Es braucht (wie in vielen anderen Lebensbereichen) für Kinder und Jugendliche eine Zeitenwende – eine, die die jetzige stoppt. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Politik versagt auch hier: von 14 Millionen Kindern leben neun Prozent in Armut

Manch Anmoderation in Nachrichtensendungen zum UNICEF-Bericht belegt, dass es etablierten, wohlhabenden Teilen unserer Gesellschaft unangenehm ist, zuzugeben, dass Menschen nicht auf der Sonnenseite leben. So wird zunächst gesagt, dass im Großen und Ganzen doch alles in Ordnung sei. Vielen gehe es ja gut, Kinder eingeschlossen. Dann wird doch zugestanden, dass es auch Menschen gibt, die davon bedroht sind, im Schatten zu leben – so wie viele Kinder im Land, die von Armut bedroht seien. Nein, sie sind nicht nur bedroht, sie leben in schlechten, inakzeptablen Verhältnissen. Die „Tagesschau“ meldet:

Kinderarmut immer noch auf hohem Niveau

Keine warme Mahlzeit, fehlende Kleidung: Bei mehr als einer Million Kinder in Deutschland werden Grundbedürfnisse nicht erfüllt. Das Kinderhilfswerk UNICEF warnt in einem Bericht vor den Folgen für ihre Entwicklung. In Deutschland fehlen einem aktuellen UNICEF-Bericht zufolge mehr als einer Million Kindern die Voraussetzungen für eine gute Zukunftsperspektive. Die von Armut betroffenen Kinder hätten etwa keinen Platz, um Hausaufgaben zu machen, könnten sich kein zweites Paar Schuhe oder vollwertige Mahlzeiten leisten und nehmen kaum an Freizeitaktivitäten Gleichaltriger teil, hieß es in der Veröffentlichung des Kinderhilfswerks. Es gehe um neun Prozent der insgesamt 14 Millionen Kinder in Deutschland.

(Quelle: Tagesschau)

Deutschlands UNICEF-Chef Georg Graf Waldersee richtete bei der Berichtpräsentation das Wort an die Verantwortlichen und kritisierte die Regierung:

Noch immer fehlt es an einer politischen Gesamtstrategie gegen Kinderarmut. Natürlich wissen wir um die schwierige Haushaltslage, aber wir dürfen sie nicht als Vorwand akzeptieren.

So weit, so gut – wobei ich keine schwierige Haushaltslage sehe, sondern Politiker, die ganz andere Prioritäten setzen als die, die richtig und wichtig wären. Waldersee bleibt ungehört, die politische Klasse klagt über leere Kassen (für die Zivilgesellschaft). Sie nimmt in Kauf, dass nicht nur die neun Prozent (wobei statistische Zahlen geduldig und kalt sind) Kinder betroffen sind. Selbst Kinder aus der Mittelschicht bekommen mit, wie ihre Eltern in der Küche mit Sorgenfalten laut darüber diskutieren, dass das Leben teurer wird, die Zeiten mies sind und wie sie die Erhöhung von Gebühren für die Kinder noch stemmen können: Der Kitaplatz, das Essen, der Schultransport, die Materialien für die Schule und und und. Alles wird teurer und teurer (weitere Preissteigerungen sind hier gar nicht aufgezählt). Wer dabei nicht mithalten kann, kann Anträge stellen, bekommen die Eltern lapidar zu hören.

Wenn Anträgestellen so einfach wäre

Der UNICEF-Bericht wird in Büros der Bundesministerien überflogen worden sein. In einem Sieben-Punkte-Plan zur Verbesserung der miesen Lage ist tatsächlich von viel Geld (das da ist) die Rede, welches von Politik und Staat in die Hand genommen werden muss. Neben Geld steht auch der berühmt-berüchtigte Faktor Bürokratie auf der Liste. Für wirtschaftlich schlecht gestellte Menschen, für Familien und auch deren Kinder wird richtigerweise gefordert: Die Antragstellung für Sozialleistungen muss deutlich vereinfacht werden! Mehr noch: Solche Formulare kompliziert zu formulieren, Informationen schwer zugänglich zu machen, das ist meiner Beobachtung nach ein geschicktes politisches Kalkül, das darauf setzt, dass Antragsteller scheitern, dass Anträge gar nicht erst gestellt werden und so Geld gespart wird zulasten der Menschen, denen diese Mittel zustehen. Dergleichen ist auch in der landauf, landab gängigen Fördergeld-Antragspraxis zu beobachten.

Auch das hört die Politik nicht gern: endlich mehr Geld für Bedürftige, statt gegen sie zu treten

Während Politiker und ihnen wohlgesonnene Medien immerzu auf die Bevölkerungsschichten eindreschen, die unterhalb der Mittelschicht leben, indem sie behaupten, dass deren Lage sogar komfortabel sei und die „soziale Hängematte“ als bildlicher wie untauglich zynischer Begriff der Beschreibung dient, bleiben Sozialexperten dabei: Es braucht mehr Geld, berechtigt und ohne Wenn und Aber. Ebenso deutlich wie friedlich beabsichtigt wird schön formuliert, dass das Geld „dazu geschossen“ [sic] werden soll:

Außerdem fordert UNICEF vom Arbeitsministerium, das Existenzminimum nochmal neu zu berechnen. Also wie viel Haushaltseinkommen benötigen Kinder und ihre Familien, um nicht unter der Armutsschwelle leben zu müssen. Dieser fehlende Betrag soll dann bei betroffenen Familien dazu geschossen werden.

(Quelle: WDR)

Statt Gesamtstrategie zur Chefsache zu machen, ist die Politik anderweitig engagiert

Doch hat Deutschland eben andere Prioritäten: vor allem die, den Status Quo einer tief ungerechten Gesellschaft zu zementieren. Es wird eben nicht „dazu zugeschossen“ – bei den eifrigen Umsetzern dieser Politik schon. Für die machthabenden Abgeordneten der hohen Häuser unserer Republik gibt es einen Automatismus, um deren Diäten regelmäßig ohne Widerspruch zu erhöhen. Kein Abgeordneter muss dafür kämpfen.

Auf der anderen Seite: Bei Mitteln für Kinder, Familien, bei Erwachsenen fließt das Geld zäh. Die Armut verfestigt sich – nicht nur bei Kindern und Familien, auch an der Basis um sie herum. Beispiel: soziokulturelle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Deren Mitarbeiter kämpfen die ganze Zeit: Sie engagieren sich für Kinder und Jugendliche, improvisieren wegen meist klammer Kassen, auf dass der Laden trotzdem läuft. Sie setzen auf Idealismus und auf die Unterstützung Ehrenamtlicher und Angehöriger. Das Ehrenamt wird in Politikerreden gern gelobt und als „unersetzlich“ betrachtet. Soso.

Viele Jahre schon kenne ich Mitarbeiter von Kinder-und Jugendhäusern, wundervolle Treffs für die jungen Leute in meiner Stadt und der Umgebung. Diese Menschen bemühen sich von Jahr zu Jahr immer wieder, damit finanzielle Mittel nicht gekürzt werden, befristete Stellen verlängert werden, Fördergelder nach stets ätzenden Antragsmarathons doch bewilligt werden. Wenn das gelingt, kommen gern auch mal Abgeordnete aus Land und Bund mit einem großen Scheck in den Händen ins Haus – zum Beifallklatschen und Lobeinheimsen.

Doch der Alltag ist und bleibt trist, von wegen Gesamtstrategie der Politik: Die Befristungen von Stellen, von Mitteln, die Gefahren, dass gekürzt und gestrichen wird, diese ständige Unsicherheit sind Begleiter der wichtigen und unter Wert gehaltenen soziokulturellen Arbeiter. So, wie sie nicht geachtet werden, so werden auch die Kinder und Jugendlichen samt ihrer Familien nicht geachtet.

Die Politik hat dafür gerade anderes vor. Aus kleinen werden große Menschen, ihnen wird die Perspektive der Verpflichtung zum Dienst an der Waffe präsentiert, die jedoch keine ist. Die jungen Menschen kommen im Sprachgebrauch der bellizistischen Eiferer so vor, las ich vor Kurzem: „(…) zum Auffüllen der Mannschaftsstärke der Bundeswehr“. Dazu? Ich frage mal: Braucht es ein großes soldatisches Fußvolk? Braucht es viele junge Leute mit Gewehr und Tornister, wo die „moderne Kriegsführung“ heutzutage doch mittels Drohneneinsätzen, Sabotageakten und per Knopfdruck ausgeführten militärischen Aktionen aus sicheren Bunkern vollzogen wird? Wie wäre es mit einem ganz anderen Ansatz, mit einer anderen Zeitenwende?

Eine andere Zeitenwende ist fällig

Man stelle sich das mal vor: Wir schreiben das Jahr 2026. Eine neue, gar wundersame Zeitenwende hat eingesetzt. Die ganz große Politik wendet komplett ihren Ansatz, die Bundesrepublik stark, militärisch gedacht widerstandsfähig zu machen. Stattdessen soll sie zu einem Ort der Lebensfreude für alle, für Jung und Alt werden. Eine militärische Bedrohungslage wird nicht mehr als gegeben angesehen, weil die Diplomatie Vorfahrt bekommt. Die Kriegsertüchtigung historischen Ausmaßes wird nicht nur in die Schublade gelegt, sondern in den Schredder geschoben. Endlich werden all die Mittel, Ideen, das Personal, die Pläne zur Stärkung des zivilisatorischen Miteinanders „zugeschossen“. Solche ‚Schüsse‘ sind wundervoll. Das Land ist reich, wir blicken in die Zukunft und fördern unsere Zukunft: die Kinder. Was beinahe utopisch klingt, wird wahr: Mittagessen, Schule, Schulmaterial, Transport, Kitaplätze – kostenlos. Und nein, kostenlos heißt nicht, dass diese Positionen nicht bezahlt werden. Nur bezahlen nicht die Eltern, sondern wir, unsere Gesellschaft als Ganzes. Das Wort „Kosten“ wird durch Investition ersetzt, eine in das Jetzt und Hier, eine in die Zukunft. Die Bezahlung der Aufwendungen geschieht im gleichen Geist, wie wir unsere Abgeordneten bezahlen.

Die Realität ist ernüchternd und skandalös

Zurück im wahren Leben. Kinderarmut ist kein Phänomen, das nur die direkt betroffenen Menschen berührt. Sie trifft unsere gesamte Gesellschaft. Statt aber eine Zeitenwende herbeizuführen, stagniert die Bekämpfung von Kinderarmut in Deutschland weiter – mit Folgen.

Steigende psychische Belastungen

Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden dem Bericht zufolge zudem an gesundheitlichen Beschwerden. Im Jahr 2022 gaben 40 Prozent der Elf- bis 15-Jährigen an, dass sie mehrfach pro Woche oder sogar täglich Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schlafprobleme haben. 2014 waren es 24 Prozent. Auch schätzt ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen die eigene psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit als nicht gut ein. “Auch hier sind die Werte alarmierend”, sagte Sabine Walper (Deutsches Jugendinstitut/ Mitautorin des Berichts).

(Quelle: evangelisch.de)

Dennoch erneut zu Zukunft und Investition

Die Worte von Unicef-Chef Waldersee bestätigen meine Forderung nach einer anderen Zeitenwende:

Der Unicef-Vorsitzende Georg Graf Waldersee, [sic] kritisiert, es bewege sich zu wenig für Kinder. Wer Deutschlands Zukunft sichern will, müsse jetzt gezielt in Kinder investieren, insbesondere in die aus armen Familien.

(Quelle: evangelisch.de)

Titelbild: Sharomka/shutterstock.com


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