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Titel: 2,20 Euro Stundenlohn – Wie deutsche Unternehmer mit Inklusion exklusive Profite machen
Datum: 29. Dezember 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Werkstätten für behinderte Menschen sollen den Sprung in ein geregeltes Berufsleben ermöglichen. In einem Bruchteil der Fälle klappt das. Die allermeisten Betroffenen bleiben dagegen als billige Arbeitskräfte auf ihrer Stelle kleben – mit Hungerlohn und ohne Perspektive. Das nutzen ausgerechnet solche Firmen schamlos aus, die auf die Integration Benachteiligter pfeifen. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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In Krisenzeiten verlieren viele ihre Arbeit. Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung sind oft die ersten, die es trifft. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) zählte im Oktober über 185.000 Schwerbehinderte ohne Job, knapp 9.000 mehr als im Jahr davor und 20.000 mehr als 2023. Mit fast zwölf Prozent war die Arbeitslosenquote 2024 nahezu doppelt so hoch wie die aller Erwerbspersonen im Land. Anlässlich der Vorlage des „Inklusionsbarometers Arbeit“ der Aktion Mensch vor gut einem Monat befand deren Sprecherin Christina Marx: „Der Missstand verfestigt sich weiter. Wir sehen uns mit einem drastischen Rückschlag für die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert.“
Die Lage ist ernst. Behinderte schaffen schon in Normalzeiten sehr viel schwerer den Sprung ins Berufsleben. Und nach einer Entlassung fällt die Rückkehr noch einmal schwerer, zumal in Phasen ökonomischen Niedergangs. Ihre Abgangsrate aus der Arbeitslosigkeit lag 2024 bei unter drei Prozent, während sie bei Menschen ohne Behinderung bei über sechs Prozent verblieb. Die deutsche Wirtschaft zeigte sich schon in der Vergangenheit nicht besonders eifrig, Menschen mit Handicap Arbeit zu geben, obwohl der Staat bis zu 75 Prozent ihrer Bezahlung übernimmt. In den vergangenen Jahren ist ihre Bereitschaft weiter gesunken. Dabei hänge von ihren Einstellungs- und Beschäftigungsbemühungen die weitere Entwicklung ab, bemerkte Marx und setzte hinzu: „Wir kommen nicht umhin, den Unternehmen regelrechten Widerstand zu attestieren.“
Pflichtverletzung leicht gemacht
Nach dem 9. Sozialgesetzbuch müssen Unternehmen mit 20 oder mehr Beschäftigten mindestens fünf Prozent Menschen mit Schwerbehinderung einstellen. Gemäß Inklusionsbarometer sank die Quote unter allen der Bestimmung unterliegenden Firmen im Vorjahr auf 4,4 Prozent – den niedrigsten Stand seit 2013. Ein Verbund aus Süddeutscher Zeitung (SZ), dem inklusiven Magazin Andererseits und dem Informationsfreiheitsportal „Frag den Staat“ hat im Rahmen einer umfassenden Recherche zum Thema genauere Zahlen ermittelt. Demnach erfüllten im Jahr 2023 lediglich 38,6 Prozent der fraglichen Betriebe ihre Beschäftigungspflicht. In knapp 111.000 Fällen geschah dies nur teilweise (35,4 Prozent) oder gar nicht (26 Prozent). Damit beschäftigt jeder vierte Arbeitgeber keinen einzigen Menschen mit Beeinträchtigung.
Eigentlich hat der Gesetzgeber für solche Fälle vorgesorgt: Wer die Vorgaben verletzt, muss eine Ausgleichsabgabe an den Staat leisten. Das Geld wandert zu den Integrationsämtern der Länder, die es wiederum zu großen Teilen an jene Betriebe weiterreichen, die ihren Pflichten nachkommen und Behinderte in Arbeit bringen. Beispielsweise fließen die Mittel so in die Schaffung und Sicherung barrierefreier Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Die Kompensationen belaufen sich, gestaffelt nach Betriebsgröße und Erfüllungsquote, auf 155 Euro bis 815 Euro monatlich. Im Jahr 2022 hätten so insgesamt zirka 900 Millionen Euro zusammenkommen müssen. Tatsächlich waren es aber 84 Millionen Euro weniger, weil es für Unternehmer einen Ausweg mehr gibt, um sich aus der Verantwortung zu stehlen.
Moderne Arbeitssklaven
Hier kommen die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) ins Spiel. Offiziell sind sie Orte der Förderung, Beschäftigung und Teilhabe. Ihr gesetzlicher Auftrag lautet, geeignete Kandidaten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten, sprich sie zu befähigen, an der Seite von Beschäftigten ohne Behinderung einer geregelten und gleichwertig bezahlten Tätigkeit nachgehen zu können. Davon kann keine Rede sein. In der Praxis entpuppen sich die Einrichtungen vielmehr als Verwahranstalten für moderne Arbeitssklaven. Aktuell kommen bundesweit über 300.000 Personen, die als erwerbsgemindert gelten, in einer WfbM unter. Auch hier zeigt die Tendenz seit den 1990er-Jahren steil nach oben. Nach einer Erhebung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) wechselten 2023 zwischen 0,13 und 0,94 Prozent der in diesen Einrichtungen Angestellten in einen regulären Job. Eine Befragung der Werkstattleitungen ergab ein Bundesmittel von 0,35 Prozent. Sprungbrett ins geregelte Berufsleben? Von wegen! Die allermeisten – 99,65 Prozent – bleiben auf ihrer Stelle kleben, nicht selten jahrzehntelang.
Dabei könnte nach Ansicht von Fachleuten wenigstens ein Drittel des fraglichen Personenkreises durchaus in der freien Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst Fuß fassen, also mithin mehr als 100.000. Dass das nicht passiert, hat im Wesentlichen mit der verkorksten Rechtslage zu tun, vorneweg dem Fehlen eines harten Sanktionsregimes mit Strafen, die Arbeitgebern bei Pflichtverletzung wirklich wehtun. Richtig absurd wird das System aber erst dadurch, dass es die Umgehung der Regeln sogar belohnt. Wie das? Man kann sich als Unternehmer auch vor den Ausgleichszahlungen drücken, indem man Aufträge an die WfbM vergibt. Je nach Umfang reduziert sich so das Bußgeld beziehungsweise entfällt es ganz. Nicht nur werden so Ausgaben vermieden. Die Masche steigert sogar die Gewinne, weil der Auftraggeber seine Produktion zu niedrigsten Kosten auslagern kann. Oder er holt sich behinderte Menschen als billige Arbeitskräfte in die Fabrik, verliehen durch die WfbM. Auch das ist eine gängige Praxis.
Ausbeutung auf Staatskosten
Besagte Recherchekooperation schilderte im Sommer den Fall eines Mannes, der in seiner Werkstatt Pappschachteln falten und mit Utensilien eines Vitamin-D-Testkits der Firma Cerascreen bestücken muss. Bei einer 30-Stunden-Woche erhält er dafür im Monat 260 Euro, was einem Stundensatz von unter 2,20 Euro entspricht. Von dem kümmerlichen Verdienst bekommt er täglich auch noch 2,90 Euro für ein betriebsinternes Mittagessen abgezogen. Sein Existenzminimum sichern eine Erwerbsminderungsrente und ein Mietzuschuss. Die Betroffenen gelten rechtlich zumeist nicht als Arbeitnehmer, sondern als „arbeitnehmerähnliche Personen“ in einem Reha- beziehungsweise Werkstattverhältnis, womit ihnen auch die gängigen Arbeits- und Mitbestimmungsrechte verwehrt bleiben. Nur in seltenen Fällen wird Mindestlohn gezahlt. Wie das ZDF-Magazin „Frontal“ im Juli 2024 berichtete, sind 93 Prozent der in WfbM Tätigen auf staatliche Hilfe angewiesen.
2022 haben allein in Bayern 2.500 und damit etwa ein Zehntel aller abgabepflichtigen Betriebe ihre Ausgleichsschuld auf null gesenkt und nebenher ihre Profite durch den Einsatz spottbilliger Arbeitskräfte gemehrt. Ausbeutung? Nicht doch: „Wir sind stolz auf diese Partnerschaft und sehen sie als Beispiel dafür, wie Wirtschaft und Inklusion Hand in Hand gehen können“, äußerte ein Cerascreen-Sprecher auf SZ-Anfrage. Und so werben ausgerechnet solche Unternehmen mit „Vielfalt und Chancengleichheit“, die ihre Werkstore für Menschen mit Behinderungen verrammeln. Die Integrationsämter vertreten ebenfalls den Standpunkt, dass die Praxis einen wertvollen Beitrag leiste, um die Arbeitsfähigkeit von Behinderten zu fördern.
Rüge durch die UN
Ein Systemfehler mehr: Die WfbM profitieren selbst vom Status quo. Sie beziehen staatliche Fördergelder zur Deckung der Personal- und Betriebskosten, für die Qualifizierung und Begleitung der Mitarbeiter gibt es Betreuungserlöse, etwa Zuwendungen aus Maßnahmen wie BÜWA (Begleiteter Übergang Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt). Wenn Beschäftigte an Unternehmen verliehen werden (Außenarbeitsplatz), kommen noch die Stundensätze von Firmenseite hinzu. Wechselt der Betroffene hingegen dauerhaft in ein festes Arbeitsverhältnis, brechen alle diese Einnahmen weg. Ende November brachte der Bayerische Rundfunk das Dilemma auf den Punkt: „Für Werkstätten ist es aus finanzieller Sicht langfristig unattraktiv, Mitarbeitende an den ersten Arbeitsmarkt abzugeben.“ Da könnte etwas dran sein. Noch einmal die Statistik: 0,35 Prozent schaffen den Absprung in die berufliche Eigenständigkeit …
Keine Frage: Für bestimmte Menschen sind diese Einrichtungen von hohem Wert, weil sie sich eingebunden fühlen, eine Aufgabe haben und so an Selbstwertgefühl gewinnen. Das System mag gut gemeint sein, führt die guten Absichten aber ad absurdum. In ihrer heutigen Form beförderten die WfbM „Segregation und Exklusion. Sie sind deshalb nicht Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes“, heißt es in einem Positionspapier des Deutschen Instituts für Menschenrechte. „Sie bieten auch nicht die Möglichkeit, einen angemessenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen.“ Verwiesen wird auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN), zu deren Umsetzung sich Deutschland verpflichtet hat. Vor zwei Jahren ergab eine Prüfung durch den zuständigen UN-Fachausschuss, dass hierzulande noch vieles im Argen liegt. Insbesondere die Werkstätten liefen den Intentionen und Zielen zuwider.
Rendite vor Mensch
Im Koalitionsvertrag von Union und SPD steht ein schöner Satz: „Wir werden die Aufnahme einer Arbeit für Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verstärkt fördern.“ Ach ja? Mit ihrem Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts, das Anfang 2024 in Kraft trat, hatte die Ampelregierung immerhin der bis dahin gängigen Finanzierung der Werkstätten über die Ausgleichszahlungen einen Riegel vorgeschoben. Seither kommen die Mittel ausschließlich der beruflichen Qualifizierung am ersten Arbeitsmarkt zugute. Allerdings plant die neue Regierung eine Rolle rückwärts und will „die nachrangige Förderung von Werkstätten und Wohnheimen für Werkstattbeschäftigte aus der Ausgleichsabgabe“ wieder ermöglichen. Außerdem wolle man die Einrichtungen „erhalten und reformieren“.
„Reform“ verheißt in der Regel nicht Gutes und „Erhalt“ klingt nach „Weiter so“. Von einer Überwindung des „Ablasshandels für Inklusion“ („Frag den Staat“), einer Abkehr von der Verrechenbarkeit mit Auftragsvergaben oder deutlich strengeren Strafen findet sich im Koalitionsvertrag jedenfalls kein Wort. Man redet gerne und viel über Inklusion und Integration, aber unternimmt wenig bis gar nichts in puncto Umsetzung. Und so könnte das Projekt dasselbe Schicksal ereilen wie das Lieferkettengesetz, das das EU-Parlament auf maßgeblichen Druck Deutschlands gerade „zerbröselt“ hat – wegen zu viel Bürokratie und Wettbewerbsnachteilen. Womit sich einmal mehr bewahrheitete, was schon immer galt im Kapitalismus: Wichtiger als der Mensch ist allemal die Rendite.
Titelbild: KOTOIMAGES/shutterstock.com
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