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Titel: Mit der Stationierung neuer US-Raketen in Deutschland wird das Atomkriegsrisiko steigen
Datum: 17. Dezember 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Aufrüstung
Verantwortlich: Redaktion
Die Stationierung neuartiger US-Mittelstreckenraketen in Deutschland haben die USA und die Bundesregierung für das nächste Jahr vorgesehen. Aber die öffentliche Debatte darüber hat längst nicht die Breite erreicht, die angesichts der damit verbundenen Gefahren im Vorfeld eines Atomkriegs angemessen ist. Von Bernhard Trautvetter.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Dieser unangemessene Zustand der Debatte hängt unter anderem damit zusammen, dass die Friedensbewegung als naiv, gefährlich oder auch als verkappte Unterstützer des „einzig Schuldigen am Krieg“, also Russlands, hingestellt wird. Wir kennen das, es war schon so ähnlich, als Millionen gegen die Stationierung der Enthauptungsschlagraketen Pershing II vor vier Jahrzehnten gegen die Kriegsgefahr auftraten. Der Spiegel schrieb 1981:
„Bonner Spitzenpolitiker diffamieren Pazifisten als »infantil« und als Moskaus Fünfte Kolonne.“
Die Friedenskräfte unserer Tage haben erkannt: Diese neuen US-Waffen haben Sprengköpfe, die auch ohne Nuklearkern eine sehr hohe Sprengkraft entfalten können. Außerdem können sie mit ihrer geringen Vorwarnzeit bzw. mit der Fähigkeit, vom gegnerischen Radar weitgehend unerkannt zu bleiben, massive aber höchst zielgenaue Schläge auch tief in russischem Raum ausführen. Damit steigern sie das Risiko eines Atomkriegs, sobald Spannungen zwischen der NATO mit ihren Atommächten und der Atommacht Russland die Nervosität in den gegnerischen Vorwarnzentralen der Radaraufklärung und innerhalb der Führungsspitzen der Armeen weiter zuspitzen. Diese Stationierung stellt schon aus diesen Gründen ein Risiko dar, von dem niemand jemals das Recht hat, es einzugehen.
Vorhang der Verheimlichung
Die Verantwortlichen in Berlin und Washington sowie in der NATO handeln hinter dem Vorhang der Verheimlichung: Es gibt keine Angaben darüber, wie viele der vorgesehenen Systeme die USA in Deutschland stationieren. Bekannt ist nur, welche Offensivraketen ab Herbst 2026 stationiert werden sollen:
Da ist zum einen die ›Standard Missile SM-6‹, eine lenkbare Rakete für die Zerstörung gegnerischer Bodenziele. Sie hat die Fähigkeit, bis zu 1.600 Kilometer mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit ins Ziel zu fliegen.
Gleichzeitig bereiten die USA die Stationierung von Offensivsystemen des Typs ›Tomahawk‹ in Deutschland vor. Dazu schrieb die Berliner Morgenpost am 14.10.2025:
„Die Tomahawks, auch Cruise Missiles genannt, zählen zu den amerikanischen Erstschlagswaffen, die in zahlreichen Konflikten eingesetzt werden. Sie sind eine Art unbemanntes Einweg-Flugzeug, das mit einem sehr modernen Navigationssystem in niedriger Höhe (30 bis 90 Meter) fliegen und seine Richtung unterwegs ändern kann. Auch Hindernissen weichen die Tomahawks aus. Wegen dieser Eigenschaften sind sie nur schwer für die Flugabwehr des beschossenen Landes zu erkennen.“
Die Tomahawk fliegt mit etwa 880 km/h weit in gegnerisches Territorium, etwa um Bunker, Radaranlagen, Raketensilos oder Kommandoposten auszuschalten. Ihre Reichweite beträgt 1.700 bis 2.500 Kilometer.
Besonders brisant ist zudem die Planung, die Hyperschallrakete ›Dark Eagle‹ in Deutschland zu stationieren. Ihre Reichweite beträgt bis zu 2.800 Kilometer, die sie mit einer Geschwindigkeit von bis zu 6.115 km/h zurücklegt.
Die Organisation der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) schreibt über diese Stationierungspläne:
„Die Bundesregierung spricht von einer ‚Fähigkeitslücke der Europäer‘, die zu schließen sei. Russland besitzt tatsächlich ein breites Spektrum von Kurz- und Mittelstreckenraketen, Hyperschallwaffen und Marschflugkörpern, das schließt die in Kaliningrad stationierten konventionell oder atomar bestückbaren Iskander-Raketen mit ein. Doch die militärischen Gleichgewichte erweisen sich bei genauer Betrachtung als komplex. Asymmetrien sind zu berücksichtigen: US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa zielen auf Moskau, russische Raketen zielen auf Westeuropa, nicht auf Washington.
Nach Expertenmeinung sind die Luft- und Seestreitkräfte der NATO denen Russlands überlegen – die Behauptung einer ›Fähigkeitslücke‹ überzeugt nicht. Mit der Stationierung würde ein ›de-facto-Moratorium‹ beendet, das nach der Kündigung des INF-Vertrags (Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen in Europa) 2019 bis jetzt eingehalten wurde.“
Die Atomkriegsgefahr steigt – auch bei konventionellen Erstschlagwaffen
Die neuen Waffen sollen konventionelle Sprengköpfe tragen. Sie können jedoch genutzt werden, um strategische Ziele (wie etwa Atomwaffenstandorte) weit in Russland zu treffen. Auch präemptive, also ‚vorbeugende‘ Angriffe werden somit denkbar. Wegen der kurzen Vorwarnzeit der Raketen und der niedrigen Flugbahn der Marschflugkörper unterhalb des Radars wäre es Russland kaum möglich, einen Angriff abzuwehren. Aus russischer Sicht geht es um die Gefahr eines Überraschungsangriffs zum Erstschlag und tendenziell um einen sogenannten ‚Enthauptungsschlag‘, mit dem die Führungsspitze einer Regierung ausgeschaltet werden kann.
Je kürzer die Vorwarnzeiten der in Deutschland stationierten Waffen, desto stärker wird der Anreiz für den potenziellen Gegner, diese Waffen vorbeugend anzugreifen. Solche präemptiven Schläge gegen Deutschland wären denkbar, wenn die russische Regierung zu der Einschätzung kommen sollte, dass die neuen Waffensysteme in der Lage wären, die eigenen nuklearen Fähigkeiten zu bedrohen.
Mit den stark verkürzten Vorwarnzeiten steigt auch die Gefahr, dass es aus Versehen zu einem Atomkrieg kommt, durch Unfälle, technische Fehler oder Missverständnisse. Die Stationierung ist zunächst „episodisch“ im Rahmen der Aufstellung einer „Multi-Domain Task Force“ geplant.
Es ist bekannt, dass mobile und flexibel einsetzbare Systeme stationiert werden sollen. Der polnische Thinktank PISM berichtet, dass „vermutlich mehrere Dutzend“ Raketen nach Deutschland kommen würden. Die Erklärung, warum die USA alle drei Raketentypen parallel in Deutschland stationieren wollen, liegt darin, dass sie in das Multi-Domain-Task-Force-Konzept integriert sind: Es geht um hochpräzise, schnelle Erstschlag- oder Reaktionsraketen, die in ein Konzept der sogenannten integrierten Offensiv- und Defensiv-Strategie eingepasst sind, für das ohne ein integriertes Konzept getrennte Waffengattungen geplant wären.
Es geht hier für die NATO-Militärs um verschiedene Ebenen des Gefechtsfeldes, die die vorgesehenen Raketen komplementär abdecken. Es geht um die Führung eines als führbar verstandenen Krieges der atomar aufgestellten NATO mit der Atommacht Russland und je nach Eskalationspotential auch China: „Dark Eagle” soll die als wertvoll eingestuften Ziele tief im gegnerischen Raum zerstören, „Tomahawk“ führt flankierend massierte Präzisionsschläge auf große Entfernung aus, und die „SM-6“ verbindet die Luftabwehr mit Angriffen auf mittleren Strecken.
Appell gegen die Stationierung
Die Friedensbewegung hat auf die hier zutage tretende Strategie der konkreten Vorbereitung eines Atomkrieges mit dem Berliner Appell gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen reagiert, der Autor dieses Textes hatte mit Akteuren der Friedensbewegung Monate zuvor eine Petition bei ›change.org‹ unter dem Motto ‚Gegen die atomare Bedrohung gemeinsam vorgehen!‘ initiiert; es geht jetzt aktuell auch darum, dass beide Initiativen eine möglichst breite Unterstützung durch Unterschriften erhalten.
Titelbild: Hamara / shutterstock.com
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