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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Schwarz-rote Notkoalition: Eine kurze Bilanz und mögliche Perspektiven, wie die AfD verhindert werden soll
Datum: 20. Dezember 2025 um 15:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Die neue Bundesregierung, bestehend aus Union und SPD, ist nun seit März dieses Jahres im Amt. Nach neun Monaten und den Haushaltsdebatten scheint eine Reflexion geboten zu sein. Hat die neue Regierung überzeugende Schritte unternommen, um die gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise einzudämmen, geschweige denn zu überwinden? Sind mit Blick auf die großen internationalen Krisen, insbesondere den Ukraine-Krieg, realpolitische Lösungsvorschläge seitens der schwarz-roten Koalition unterbreitet worden? Haben die politischen Maßnahmen hinsichtlich der oben genannten Aspekte den hohen Prognosen- und möglicherweise Wählerzuspruch zur AfD gemindert? Und wenn nein, welche Szenarien sind für die nächsten Jahre denkbar (Koalition mit der AfD / Spannungsfall / AfD-Verbot etc.)? Von Alexander Neu.
Wirtschaftliche Krise
In reinen Zahlen gemessen ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Deutschlands von 1991 bis 2024 nominal nahezu kontinuierlich gewachsen. Im Zeitraum 2020 bis 2024 – also der Coronazeit mit den damit einhergehenden Einschränkungen und dem Krieg in der Ukraine ab Februar 2022 mit den damit zunehmend verhängten Russlandsanktionen – wuchs das BIP in reinen Zahlen um nahezu 900 Milliarden Euro bis 2024. Inflationsbereinigt wurde 2023 mit -0,9 Prozent und 2024 mit -0,2 bis -0,5 Prozent hingegen ein Minuswachstum erzielt. Tatsächlich ist das keine konjunkturelle Delle, sondern eine sich auswachsende strukturelle Krise.
Als die drei wichtigsten Gründe werden die Energiepreise und -krise, die hohe Inflation sowie die nachlassenden Exporte identifiziert. Aber auch die staatliche Überbürokratisierung in das wirtschaftliche Leben sowie ein wachsender Fachkräftemangel haben ihren Anteil.
Die Energiekrise und damit einhergehend die steigenden Energiepreise sind ebenso wie die überbordende Bürokratie, der Fachkräftemangel und damit einhergehend eine auf falschen Prämissen basierende Migrationspolitik, die wiederum eine Krise der inneren Sicherheit auslöst, alles Krisen, die man natürlich nicht vorhersehen konnte, obschon sie ausnahmslos Ergebnisse einer ideologisch-verblendeten Politik sind.
Mit anderen Worten: Diese Krisen sind das direkte Ergebnis politisch-ideologischer Entscheidungen und Versäumnisse in EU-Brüssel und Berlin. Vor allem sind die EU-Sanktionen gegen Russland als Strafmaßnahme für den Krieg Russlands gegen die Ukraine für die Energieknappheit und damit einhergehend die steigenden Preise verantwortlich. Eine Verhängung von Sanktionen gegen die USA angesichts US-amerikanischer Angriffskriege – und davon soll es ja durchaus einige geben, wie man so hört – sucht man hingegen vergeblich. Vermutlich hat man in EU-Europa das unilaterale Sanktionsinstrument erst mit dem russischen Angriffskrieg erfunden, und beim nächsten US-Angriff, beispielsweise auf Venezuela, wird EU-Brüssel sicherlich gleichsam Sanktionen, in Qualität und Quantität vergleichbar mit denen gegen Russland, gegen die USA verhängen – Ende der Satire.
Jedenfalls wird eine Rückkehr zu billigen russischen Energieressourcen konsequent abgelehnt, vielmehr sollen die letzten Importmöglichkeiten bis 2027 gänzlich ausgemerzt werden. Um eine Rückkehr zu Gasimporten aus Russland nicht nur politisch, sondern auch physisch ganz sicher zu verhindern, wurden vorsichtshalber bereits 2022 die Nord-Stream-Pipelines gesprengt. Die Verurteilungen dieses Terror- oder auch Kriegsaktes, je nach Urheber, hält sich seitens der Bundesregierung und des Bundestages bis heute auffallend in Grenzen oder wird, als Krönung der Selbstdemontage, von einigen bundesdeutschen Politikern sogar als richtig bezeichnet. Mit Blick auf den ‚Eifer‘ der strafrechtlichen Verfolgung drängt sich einem das Bild des Jägers auf, der zum Jagen getragen werden muss.
Warum auch günstiges, zuverlässiges und vergleichsweise sauberes Pipelinegas aus Russland, wenn man auch teures, weniger zuverlässiges und schmutziges Frackinggas aus den USA kaufen kann? Der Verbraucher/Bürger muss auf jeden Fall zahlen, egal welche ideologisch determinierte politische Entscheidung getroffen wird. Dass ist das Privileg der politischen Entscheider: Sie müssen in der Regel keine materiellen oder finanziellen Konsequenzen für ihr Handeln verantworten.
Die oben aufgeführten Fälle der politischen Entscheidungen mit ihren fatalen Konsequenzen für die Bürger dürften so weit weg vom Willen des Souveräns sein, dass es mit den Händen zu fassen ist und das Vertrauen in die herrschende Politik weiter erodieren lassen.
Die Zunahme an Unternehmensinsolvenzen ist mehr als besorgniserregend und nicht mehr mit den Corona-Maßnahmen (angebliche Nachholeffekte) allein glaubhaft erklärbar. Viele Unternehmen – angeschlagen durch die Corona-Restriktionen – wurden und werden durch die massiven Energiepreise final in den Abgrund getrieben. Die Notkoalition hat sich zwar dazu durchgerungen, den Industriestrompreis für energieintensive Unternehmen ab 2026 zu subventionieren, aber ob dies ausreichen wird, bleibt abzuwarten. Ach ja, da war ja noch das Wahlversprechen der Strompreisentlastung für die privaten Haushalte – wieder ein Wahlversprechen, das nicht umgesetzt werden wird. Fakt ist: Ohne günstige energetische und andere Rohstoffressourcen wird die deutsche Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit weiterhin einbüßen, die Deindustrialisierung sich fortsetzen, die strukturelle Krise sich verdichten, den Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig schädigen und somit den Menschen einen Wohlstandsverlust aufnötigen. Die fetten Jahrzehnte sind vorbei – nach der Dekadenz kommt der Niedergang.
Und dieser Niedergang Deutschlands wurde und wird quasi mit Verweis auf die notwendige Solidarität mit der Ukraine seitens der sogenannten politischen Parteien der Mitte hingenommen und den Menschen als alternativlos verkauft.
Mit Blick auf das Bürokratiemonster wurde unter anderem extra ein neues Ministerium, das Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung (BMDS), geschaffen. Es soll die Verwaltungsabläufe effizienter gestalten und Unternehmen von bürokratischen Hürden entlasten. Damit ist zunächst nur einmal eine weitere staatliche Institution geschaffen worden. Ob sie das leisten wird, was sie leisten soll, ist nicht vorhersagbar.
Internationale Krisen / Ukraine-Krieg
Der unmittelbare Ukraine-Krieg ist von Beginn an zweifellos Ausdruck eines Stellvertreterkrieges im großen geopolitischen Spiel. NATOs „open door“-Politik, das heißt die rücksichtslose NATO-Erweiterung bis in den Vorgarten der Großmacht Russland, musste unter der (neo-)realistischen Perspektive früher oder später zu einem offenen Konflikt zwischen dem US-geführten Westen und Russland führen. Es gab bereits in den 1990er-Jahren von politischen Realisten in den USA zahlreiche Warnungen, die NATO nicht auszuweiten – vergeblich. Die NATO-Osterweiterung wurde zunächst in den USA auf Drängen der Neocons, nach 2008 auch zunehmend unter den europäischen Verbündeten zu einem Dogma – nicht hinterfragbar, nicht verhandelbar –, bis Russland 2022 glaubte, auf dieses Dogma schließlich militärisch antworten zu müssen: der völkerrechtswidrige Einmarsch in die Ukraine.
Die Bemühungen um die Beendigung des Krieges in und um die Ukraine gehen nicht von den EU-Europäern aus. Keine einzige realpolitische Friedensinitiative ist auf dem Brüssler oder Berliner Konto zu verzeichnen. Stattdessen das realitätsfremde, wenn auch nachvollziehbare Statement, der Krieg könne sofort vorbei sein, wenn Putin es wolle. Und Putin wiederum sagt, der Krieg könne sofort vorbei sein, wenn der Westen die russischen Kernforderungen (politische und militärische Neutralität der Ukraine, also keine NATO-Mitgliedschaft und Akzeptanz der von Russland erkämpften und annektierten Gebiete) akzeptiere.
Angesichts der Lage an der Front sitzt indes die russische Seite am längeren Hebel. Täglich wird weiterer ukrainischer Boden durch die russische Armee erobert. Die ukrainische Armee hat mit vielfachen Problemen (am schwerwiegendsten die Personalsituation) zu kämpfen und gerät immer weiter in Bedrängnis. Darüber hinaus besitzt Russland angesichts seiner Nuklearkapazitäten die ultimative Eskalationsdominanz. Der Westen und schon gar nicht EU-Europa können dem etwas Entscheidendes entgegensetzen, ohne einen umfassenden Nuklearkrieg heraufzubeschwören. Das ist die Realität. Eine realpolitische und humanistische Empfehlung kann nur noch darin bestehen, die Niederlage des Krieges einzuräumen, ihn zu beenden und zu versuchen, noch so viel wie möglich aus dem ursprünglichen Istanbuler Abkommen von Frühjahr 2022 in eine neue Friedenslösung hinüberzuretten.
Stattdessen wurden die US-Initiative von Alaska wie auch der jüngste 28-Punkte-Plan der Trump-Regierung von den EU-Europäern unter führender Mitwirkung der Bundesregierung erneut genau um die russischen Kernforderungen durchlöchert, womit das Ende des Krieges vermutlich weiter hinausgezögert wird, ohne dass eine Abwendung der Niederlage der Ukraine auch nur im Entferntesten erkennbar wäre. Es werden nur weitere Menschen sterben, versehrt und die ukrainische Infrastruktur zerstört werden. Eine Regierung kann bereit sein, die Menschen einen hohen Preis für die Verteidigung zahlen zu lassen, nur: Wenn die Niederlage unabwendbar wird, sollte eine Regierung die Reißleine ziehen. Und die Verbündeten Kräfte sollten dies unterstützen, statt mit Durchhalteparolen und Versprechungen das Elend zu vergrößern. Die sofortige Beendigung des Krieges ist geradezu eine ethische Pflicht. Hinzu kommen die enormen finanziellen Belastungen Deutschlands – allein für den Haushalt 2026 sind weitere 11,5 Milliarden Euro Steuergelder an die Ukraine zur Fortführung des Krieges veranschlagt.
Realpolitik sieht anders aus: Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik muss die Handlungsmaxime einer Regierung sein. Leider scheitert die schwarz-rote Notkoalition genau an dieser Verantwortung. Sie scheitert aber nicht nur an der Lösung des unmittelbaren Ukraine-Krieges. Nein, ihr Scheitern ist nur ein konkreter Ausdruck eines großen, des geopolitischen Scheiterns: nämlich, eine realistische Perzeption und darauf aufbauende realistische und konstruktive Antworten auf die globalpolitischen Veränderungen zu liefern. Es ist nicht weniger als das dogmatische Festhalten an der transatlantischen Welt: Die USA seien und blieben wichtigster Verbündeter in der NATO, so der derzeit amtierende Außenminister Deutschlands, Johann Wadephul, sowie die berühmt-berüchtigte EU-Außenbeauftragte, Kaja Kallas, in Reaktion auf die jüngst veröffentlichte und wenig schmeichelhafte aktualisierte „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA.
Diese Aussage in einem Kontext mit einer weiteren Aussage Wadephuls, Russland sei und werde immer unser Feind sein, offenbart ein enorm dogmatisches Politikverständnis: Die Wirklichkeit mag voranschreiten, wir jedoch bleiben, wo wir sind. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen führt zum eigenen Niedergang. Dem damaligen sowjetischen Präsidenten Gorbatschow wurden bei seinem Besuch in Ost-Berlin 1989 die Worte in den Mund gelegt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.
Gesellschaftliche Krise
Um die Frage einer gesellschaftlichen Zustimmung oder Ablehnung mit Blick auf die aktuelle politische Lage und die politischen Entscheider zu klären, ist die Feststellung gesellschaftlicher Stimmungsbilder ein probates Mittel: Wie homogen oder polarisiert ist eine Gesellschaft in ihren politischen Präferenzen? Dieses Stimmungsbild kann man durch Umfragen zu politischen Themen wie auch Parteienpräferenzen feststellen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Darstellung und Bewertung der Parteipräferenzen:
Schaut man sich die Umfrageergebnisse der diversen Umfrageinstitute in einer Zeitachse von Januar bis Anfang Dezember 2025 an, so sind vier Besonderheiten zu beobachten:
Erstens: Relativ unspektakulär sind die geringen Schwankungen (bis zu zwei oder drei Prozent je nach Zeitpunkt der Umfrage und des Umfrageinstituts) bei der SPD mit rund 14 bis 16 Prozent, den Grünen mit 13 bis 14 Prozent Zustimmung und der FDP mit drei bis vier Prozent Zustimmung.
Zweitens: ein erstaunlicher, wie von Zauberhand herbeigeführter signifikanter Zustimmungszuwachs bei der LINKEN von vier bis sechs Prozent auf acht bis elf Prozent und im Umkehrschluss ein Zustimmungsrückgang beim BSW von neun auf drei Prozent (je nach Zeitpunkt der Umfrage und Umfrageinstitut).
Drittens: ein signifikanter Zustimmungsverlust bei der Union von über 30 Prozent vor der Bundestagswahl auf nun rund 26 Prozent (zwei bis drei Prozent Schwankungen je nach Zeitpunkt der Umfrage und Umfrageinstitut).
Viertens: ein signifikanter Zustimmungsgewinn bei der AfD von 20 Prozent auf bis zu 27 Prozent (zwei bis drei Prozent Schwankungen je nach Zeitpunkt der Umfrage und Umfrageinstitut).
Trotz der Schwankungen zwischen den Umfrageinstituten ist ein genereller Trend auf der Zeitachse ablesbar: Die Union hat bereits nach der Bundestagswahl und noch vor der Regierungsbildung an Zustimmung verloren. Hierfür dürfte das politisch mehr als fragwürdige Handeln von Friedrich Merz mit Blick auf die Schuldenbremse hauptverantwortlich sein.
Zur Erinnerung: Eine noch nicht existierende Regierung (die damals noch geschäftsführende Regierung unter Olaf Scholz – wer erinnert sich noch an ihn? – ist seit dem 23. Februar, der Bundestagswahl, ab 18:01 Uhr nicht mehr sichtbar gewesen) beschließt unter Führung eines noch nicht gewählten Kanzlers und eines abgewählten Bundestages eine Grundgesetzänderung, um die größte Verschuldungsorgie der Nachkriegsgeschichte Deutschlands zu ermöglichen. Warum? Damit der Kanzlerkandidat Friedrich Merz auch tatsächlich Kanzler werden kann – der teuerste Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Mit diesem Wortbruch (Schuldenbremse) hat es Friedrich Merz vermocht, dass, bevor er überhaupt Kanzler wurde, seine Union bereits so massiv an Zustimmung in Umfragen verlor, dass sie sich seitdem einem permanenten Kopf-an-Kopf-Rennen mit der AfD ausgesetzt sehen muss, bei dem die Union immer wieder hinter die AfD fällt.
Die Frage der gesellschaftlichen Polarisierung ist insbesondere auf der thematischen Ebene interessant. Denn in fast allen politischen Feldern – mit Ausnahme der Migrationsfrage, der Lösung des Ukraine-Krieges und der Energiesicherheit (pro und contra günstiges Gas aus Russland und Nutzung der Atomkraft) – unterscheiden sich Union und AfD gar nicht so sehr; ist die AfD doch selbst eine zutiefst neoliberale Partei. Sind es diese Themen, die die Gesellschaft polarisieren, oder ist es das Bad-guy-Image, das der AfD seitens der übrigen Parteien und somit auch der Union zugewiesen wird? Und ist es dieses Negativ-Image der AfD, das für Protestwähler attraktiv ist? Vermutlich trifft beides zu – die paar thematischen Felder wie auch das Negativ-Image bzw. Opfer-Image. Denn dass die AfD sich selbst als Opfer erfolgreich verkaufen kann, ist angesichts ihrer tatsächlichen institutionellen/strukturellen Ausgrenzung (Brandmauer) selbst in den parlamentarischen Strukturen nicht von der Hand zu weisen.
Die Entschlossenheit – Rubrik „Brandmauer“ – der Parteien der Mitte, der AfD weder politisch noch strukturell einen Boden im parlamentarischen Raum zuzugestehen, ist offensichtlich. Nicht nur, dass die seltsamsten Koalitionen – ja, man kann sagen mitunter Not- oder gar Anti-AfD-Koalitionen – wie in Thüringen zur Verhinderung der AfD gebildet werden; nein, auch in den parlamentarischen Strukturen werden interessante Rechtsinterpretationen der Geschäftsordnung vorgenommen. So werden parlamentarische Posten wie beispielsweise das Amt des Bundestagsvizepräsidenten oder der Vorsitz in den Parlamentsausschüssen, obschon diese der AfD nach althergebrachter Praxis wie auch gemäß der Geschäftsordnung zustünden, ihr vorenthalten.
So heißt es beispielsweise laut Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gemäß „§ 2 Wahl des Präsidenten und der Stellvertreter“: „(…). Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.“ Die demokratietheoretisch sinnvolle Festlegung kann und wird mit Blick auf den Umgang mit der AfD indessen durch den vorangehenden Satz im Paragraphen politisch ausgehebelt: „Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln (§49) in besonderen Wahlhandlungen den Präsidenten und seine Stellvertreter für die Dauer der Wahlperiode.“ Denn es kann kein Mitglied des Deutschen Bundestages gezwungen werden, einen Kandidaten zu wählen. Und somit fallen bislang alle von der AfD vorgeschlagenen Kandidaten regelmäßig bei der Wahl durch, womit ihr Anspruch auf einen „Vizepräsidenten oder Vizepräsidentin im Präsidium“ ins Leere läuft.
Ist diese Strategie klug? Nein, sie stärkt die AfD – die bisherigen Taktiken und Strategien gegen die AfD wirken eher als Wahlkampfunterstützung denn als effektive Verhinderung der aus Sicht der Parteien der Mitte ungeliebten AfD. Mehr noch, diese Maßnahmen tragen eher zur gesellschaftlichen Polarisierung bei, als dass sie diese abbauen würden. Wenn alle Parteien der Mitte, inklusive der LINKEN, sich gegen die AfD „verbrüdern“, um diese von der Macht zu halten, wenn das der Kitt der politischen Mitte ist, dann wird die AfD erst recht für viele Menschen tatsächlich zur wählbaren Alternative. Eine Strategie, die zwar etwas Zeit für die Parteien der Mitte schafft – wenn die Zeit jedoch nicht genutzt wird, um endlich wieder eine bürgernahe Politik, Politik für die Menschen zu machen, dann wird mit dem Ablaufen der gekauften Zeit seitens der Anti-AfD-Koalitionen das große Erwachen kommen.
Mögliche Szenarien
Wie schauen nun die nächsten Jahre im politischen Berlin aus angesichts der dokumentierten Unfähigkeiten oder des Unwillens, die realen politischen Herausforderungen durch zeitgemäße Antworten (mit) zu gestalten? Prognosen sind immer ein Blick in die Glaskugel, jedoch sind grundlegende Tendenzen erkenn- und beschreibbar. Hierzu ein paar Szenarien:
Dieses Szenario ist zwar sehr naiv, jedoch nicht unwahrscheinlich, ist es doch ein bequemer Ansatz, der allerdings eine erhebliche Überraschung implizieren kann: Die notwendigen Mehrheiten für die Anti-AfD-Parteien werden zwar nominell erreicht, jedoch ist das gesellschaftliche Stimmungsbild hochexplosiv, sodass ein „weiter so“ schlichtweg nicht möglich ist.
Dieses Szenario käme einer politischen Atombombe gleich. Die übrigen Parteien jenseits der Union sowie die Mainstreammedien würden diese massiv angreifen und damit möglicherweise einen Boden für erhebliche gesellschaftliche Unruhen, Proteste und vielleicht sogar Gewaltmaßnahmen gegen diese Koalition bereiten.
Allerdings ist der Spannungsfall nicht mit dem Verteidigungsfall gleichzusetzen, er ist nur eine Vorstufe. Im beschlossenen Verteidigungsfall, nicht indessen im Spannungsfall, kann eine in diesem Zeitraum eigentlich stattfindende Bundestagswahl um den Zeitraum von bis zu sechs Monaten nach Beendigung des Verteidigungsfalles verschoben werden (Art. 115 h GG). Unter verfassungsrechtlichem Gesichtspunkt wäre eine Verschiebung von Wahlen also nur im Verteidigungsfall möglich. Dieses Szenario ist somit also wenig wahrscheinlich.
Dieses Szenario wird an der SPD scheitern, weil sie ihre Zukunft nicht in der Flucht aus der Regierungsverantwortung sehen wird. Die SPD wird die Notkoalition bis zum letzten Tag der Wahlperiode mittragen.
Ein entsprechender förmlicher Verbotsantrag wird überfraktionell und mehrheitlich im Deutschen Bundestag verabschiedet und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung zugeführt. Die AfD muss als „gesichert rechtsextrem“ auch vom Bundesverfassungsgericht identifiziert und sodann verboten werden, so die Zielsetzung. Die wehrhafte Demokratie zeigt ihre Zähne gegen die Feinde der Demokratie, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO).
Dieses Szenario scheint unter allen Szenarien das wohl am wenigsten schlechte zu sein, so das naheliegende Ergebnis der Diskussion. Die Inkaufnahme des Umstandes, dass bis zu 40 Prozent der Wähler um ihren politischen Willen gebracht werden, überwiegt gegenüber allen anderen Faktoren.
Wie auch immer man es drehen und wenden mag, die Zeiten der politischen Stabilitäten und des Wohlstands in Deutschland sind spürbar an ihr Ende gekommen. Sowohl außen- und sicherheitspolitisch wie auch wirtschafts- und innenpolitisch steht EU-Europa vor enormen Herausforderungen, deren Bewältigung mit den alten Konzepten der herrschenden Politik nicht zu lösen sind. Eine Wiederherstellung der Übereinstimmung von Realitäten einerseits sowie sach- und zeitgemäßen Antworten auf diese andererseits ist absolut notwendig. Dogmen und Gewohnheiten müssen über Bord geworfen werden. Wenn es nicht die sogenannten Parteien der Mitte tun, werden es andere tun. Die Parteien der sogenannten Mitte machen die AfD durch ihr bisheriges Handeln immer stärker.
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