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Titel: Rabiate Bürgerlichkeit und Angst vor dem Islam: Alltagsrassismus in Deutschland – Der Fall Sarrazin als Signalereignis der Bundesrepublik Deutschland

Datum: 16. August 2013 um 9:22 Uhr
Rubrik: Anti-Islamismus, Erosion der Demokratie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, SPD
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Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick hält die Terroranschläge vom 11. September 2001 für die Geburtsstunde einer spezifischen Menschenfeindlichkeit, die sich gegen Muslime richtet. Als ein weiteres zentrales Element für Fremdenfeindlichkeit wird auf die Einführung von Hartz IV hingewiesen. Dadurch hätten einkommensschwächere Gruppen Zuwanderer vermehrt als Konkurrenten wahrgenommen, nicht nur auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
Zick stellt heute für die Bundesrepublik, als relativ neues Phänomen, bei den Besserverdienern einen Anstieg rassistischer Einstellungen fest und subsumiert sie unter dem Begriff der so genannten „rabiaten Bürgerlichkeit“.
Ich sehe im Fall Sarrazin das Signalereignis für Deutschland, das nicht nur für die gehoben Stände, sondern für breite Bevölkerungsschichten Ausländer, Gastarbeiter, Türken, Muslime zum Objekt von Menschenfeindlichkeit zusammenführt. Von Orlando Pascheit

Rabiate Bürgerlichkeit und Angst vor dem Islam: Alltagsrassismus in Deutschland

Der Fall Sarrazin als Signalereignis der Bundesrepublik Deutschland

In der Sendung des Deutschlandradios, “Rabiate Bürgerlichkeit und Angst vor dem Islam: Alltagsrassismus in Deutschland”, verweist der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick darauf, dass die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington die Geburtsstunde für die spezifische Menschenfeindlichkeit waren, die sich gegen Muslime richtet: “11. September, das war das Signalereignis, was die Islamfeindlichkeit in Gang gesetzt hat. Nicht mehr die Abwertung der Ausländer geschieht, sondern die Ausländer werden zu Muslimen, und, und, und. Also wir haben eine Veränderung. Auf einmal waren es nicht mehr die Gastarbeiter, die Ausländer, die Türken, sondern auf einmal war der Islam da.” (Als Podcast hier)

Ein schönes Beispiel für die damalige Hysterie war die Aufforderung des damaligen Hamburger Innensenators, Olaf Scholz, in der SZ, unauffällig in Deutschland lebende Ausländer zu überwachen.

In derselben Sendung wird als weiteres zentrales Element von Fremdenfeindlichkeit auf die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 hingewiesen: Dadurch hätten einkommensschwächere Gruppen Zuwanderer vermehrt als Konkurrenten wahrgenommen, nicht nur auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Diese konkurrenzbasierte Ausländerfeindlichkeit ist ein vertautes Phänomen, mit dem z.B. Jürgen Rüttgers seinerzeit (Nokia) auf Stimmenfang ging: “Bei dem Unterschied zu den Arbeitnehmern hier im Ruhrgebiet kommen die in Rumänien eben nicht morgens um sieben zur echten Schicht und bleiben bis zum Schluss da, sondern sie kommen und gehen, wann sie wollen, und wissen nicht, was sie tun.”

Zick stellt heute für die Bundesrepublik, als relativ neues Phänomen, bei den Besserverdienern einen Anstieg rassistischer Einstellungen fest und subsumiert sie unter dem Begriff der so genannten rabiaten Bürgerlichkeit. Etwas abweichend von der Auffassung Zicks, dass in der heutigen Krise die einkommensstarken Schichten sich materiell bedroht sehen und deshalb zur Ausgrenzung neigen, sehe ich Im Fall Sarrazin das Signalereignis für Deutschland, das nicht nur für die gehoben Stände, sondern für alle Ausländer, Gastarbeiter, Türken, Muslime zum Objekt von Menschenfeindlichkeit zusammenführt. Gerade bezüglich des religiösen Fanatismus, Nationalismus oder Rassismus vermisse ich oft einen theoretischen Rahmen, der viel an Popularität, aber kaum an Bedeutung eingebüßt hat und erklärt: Jede gegebene Gesellschaft oder geschichtliche Periode wird vornehmlich von ihrer ‘Produktionsweise’ geprägt, und der politische, sittliche und ideelle Überbau dieser Gesellschaft ist ein ‘Reflex’ ihrer ökonomischen Basis und nicht umgekehrt. Aber gerade im Falle des Alltagsrassismus der höheren Stände Deutschlands dürften die ökonomischen Bedingungen nicht die einzigen sein, die zählen. Das heißt, dass “ein historisches Moment, sobald es einmal durch andere, schließlich ökonomische Ursachen in die Welt gesetzt nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst seine eigenen Ursachen zurückwirken kann …” (Engels an Mehring, 14.7.1893).

Der Fall Sarrazin ist diesem “historischen Moment” zuzuordnen.

Am 26. Februar 2013 hat der UN-Ausschuss für die Beseitigung der rassischen Diskriminierung (CERD) festgestellt: Sarrazins Äußerungen waren rassistisch – und die deutschen Strafverfolgungsbehörden haben keinen effektiven Rechtsschutz gegen rassistische Hassrede gewährleistet. Thilo Sarrazin habe im Lettre-Interview „die Ideologie rassischer Überlegenheit und von Rassenhass verbreitet“ und zu „rassistischer Diskriminierung angestiftet“. Dies sei ein Verstoß gegen die Antirassismus-Konvention, die auch Deutschland unterschrieben hat. Der Türkische Bund Berlin-Brandenburg hatte mit Unterstützung des Deutschen Instituts für Menschenrechte Beschwerde eingereicht.

Im Juli hat nach Aufforderung des Bundesjustizministeriums, die Sach- und Rechtslage nochmals zu prüfen, die Berliner Staatsanwaltschaft bekannt gegeben, dass es im Ergebnis der Prüfung bei der Einstellung des Verfahrens geblieben sei.

Sarrazin und die Reaktion darauf drückt einerseits symptomatisch aus, wie weit Islamophobie bzw. Xenophobie in Deutschland gediehen sind, sind aber selbst treibende Kraft, um diese Phobien, also die Angst vor dem Fremden, dem Anderen, umschlagen zu lassen in Feindlichkeit und Hetze gegen Mitmenschen. Wer hätte sich je träumen lassen, dass ein Vorstand der höchst angesehenen Bundesbank unter dem Applaus vieler Bürger dieses Landes solche Sätze formulieren würde:

“Ganze Clans haben eine lange Tradition von Inzucht und entsprechend viele Behinderungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter den türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist. Aber das Thema wird gern totgeschwiegen. Man könnte ja auf die Idee kommen, dass auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich sind.”

“Die Fremden, die Frommen und die Bildungsfernen sind in Deutschland überdurchschnittlich fruchtbar … Im Falle der muslimischen Migranten sind die drei Gruppen weitgehend deckungsgleich.”

Oder später, nachdem er in einem Interview mit der WamS bemerkt, dass er sich im europäischen Genpool verirrt hat, sucht er immer noch den europäischen Volksverderber im Muslim:

“In meinem Buch rede ich zudem nicht von Türken oder Arabern, sondern von muslimischen Migranten. Diese integrieren sich überall in Europa deutlich schlechter als andere Gruppen von Migranten. Die Ursachen dafür sind nicht ethnisch, sondern liegen offenbar in der Kultur des Islam.”

Der Mann hat ja “nicht ganz” unrecht. Natürlich bereiten bei Wanderungsbewegungen kulturelle Unterschiede Probleme. Nur es ist weniger die Religion sondern die uns seit Langem bekannte Stadt-Land-Problematik, wenn relativ abgeschlossene, traditionelle (bäuerliche) Kulturen auf relativ offene, urbane Kultursysteme treffen. Die ganze Industrialisierung hindurch tun sich die Zuwanderer aus dem konservativen ländlichen Raum bei der Wanderung in die Städte schwer. Das gilt heute ebenso für Istanbul, Kairo oder Mumbai – erst recht für westliche Großstädte, wenn beim Zuzug aus Entwicklungsländern Sprachbarrieren dazu kommen. Nur warum schreibt Sarrazin diese Barrieren fest bzw. macht sie für den möglichen Untergang Deutschlands verantwortlich? Jeder historisch Interessierte kann das Schwinden dieser Barrieren im Zeitablauf belegen – insofern schockiert die positive Einschätzung Sarrazins durch den Historiker Hans-Ulrich Wehler, der von “echten und vermeintlichen Schwachpunkten” spricht, aber vor allem meint, ” dass nicht wenige Argumente hieb- und stichfest formuliert und die statistischen Befunde schwer zu widerlegen sind“.

Zu den statistischen Befunden hat Hans Wolfgang Brachinger, Ordinarius für Statistik an der Universität Freiburg und Präsident der Bundesstatistikkommission alles gesagt, wobei er nicht nur den Laienstatistiker Sarrazin entlarvt, sondern der ganzen Debatte statistischen Analphabetismus vorhält.

Leider bewegt sich Wehler auf der Ebene derjenigen, die meinen, Sarrazin hätte endlich mal ausgesprochen, was Sache sei. Er verkennt vollkommen die rassistische Stoßrichtung von “Deutschland schafft sich ab” und hat offensichtlich Sarrazins Interview in der Zeitschrift Lettre International nicht gelesen, das Sarrazins elitäre Menschenfeindlichkeit viel deutlicher herausstellt. Sarrazin erinnert an den Oberpräsidenten der Provinz Westfalen, Heinrich Konradt von Studt, in einer Denkschrift zur Einwanderung  preußischer Polen in das Ruhrgebiet: “Die Anhäufung großer Arbeitermassen slawischer Abkunft im rheinisch-westfälischen Industriegebiete” berge bedeutende Gefahren. Denn es handele sich um “Elemente, welche dem Deutschthume feindlich gegenüberstehen, sich auf einer niedrigen Stufe der Bildung und Gesittung befinden und zu Ausschreitungen geneigt sind“.

Dem entspricht die Äußerung Sarrazins in “Lettre International: “Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin. Viele von ihnen wollen keine Integration, sondern ihren Stiefel leben. Zudem pflegen sie eine Mentalität, die als gesamtstaatliche Mentalität aggressiv und atavistisch ist. … Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.” Problemlösungen sehen bei Sarrazin wie folgt aus: “Ich würde aus Berlin eine Stadt der Elite machen. Das würde voraussetzen, dass unsere Massenuniversitäten nicht weiterhin massenhaft Betriebs- oder Volkswirte, Germanisten, Soziologen ausbilden, sondern konsequent Qualität anstreben. Die Zahl der Studenten sollte gesenkt werden, und nur noch die Besten sollten aufgenommen werden …“ und weiter: „Die Schulen müssen von unten nach oben anders gestaltet werden. Dazu gehört, den Nichtleistungsträgern zu vermitteln, dass sie ebenso gerne woanders nichts leisten sollten. Ich würde einen völlig anderen Ton anschlagen und sagen: Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest sollte woanders hingehen … Die Medien sind orientiert auf die soziale Problematik, aber türkische Wärmestuben können die Stadt nicht vorantreiben.”

Es ist vollkommen unverständlich, dass die SPD ihren Mitgliedern nicht plausibel ein Parteiausschlussverfahren Sarrazins erklären konnte – angesichts solcher Sätze: “Die Stadt [Berlin] hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muss sich auswachsen. Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln.”

Warum hat diese zutiefst inhumane Rede nicht nur gegen Muslime, sondern kontra Arme und pro Elite, nicht zu einer einhelligen Verurteilung Sarrazins durch unsere Funktionseliten geführt? Warum stellten nur der Türkische Bund Berlin-Brandenburg und wenige Einzelpersonen wegen dieser Äußerungen Strafantrag wegen Volksverhetzung und Beleidigung bei der Staatsanwaltschaft Berlin? Warum hat diese den Antrag zurückgewiesen? (Sarrazins Aussagen seien im Rahmen einer wichtigen öffentlichen Debatte zu den strukturellen Problemen Berlins zu sehen.) Die Ächtung des Interviews hätte gewiss nicht zur Vorabveröffentlichung von “Deutschland schafft sich ab” im “Spiegel” und in der “Bild-Zeitung” geführt und damit eine Medienaufmerksamkeit erreicht, die den Verkauf des Buches zum Selbstgänger machte.

Der Bundesbanker hat es geschafft, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus hoffähig zu machen. Präziser, wir haben versagt.

Das Publikum Sarrazins besteht aus durchweg gut situierten, meist älteren Leuten, deren Ausländerfeindlichkeit nicht konkurrenzbasiert sein dürfte. Vielleicht trifft auf dieses Publikum der Satz des Soziologen Armin Nassehi zu, den dieser in einer Diskussion an Sarrazin richtete: “Sie kommen mir vor wie ein bürgerlicher Beobachter, der mit der Unordnung der Welt nicht klarkommt.” Vielleicht fällt es älter werdenden Mitbürgern – wie ich durchaus auch an mir selbst beobachte – immer schwerer sich in einer schnell verändernden Welt zu orientieren. Groß ist die Versuchung bei wachsender Komplexität, die Welt in Schwarz und Weiß, in Feind und Freund aufzuteilen, einfachen Erklärungsmustern zu folgen. Wie einfach und einladend, im Fremden den Volksverderber auszumachen, wenn ein Sarrazin dann auch mit diversen Statistiken scheinbar objektiv, rational diese These stützt. Ja es ist alarmierend, wenn der Statistiker Brachinger feststellt: “Bei den Personen ohne Migrationshintergrund haben 15 Prozent der Frauen Abitur und 15,2 Prozent sind ohne Schulabschluss. Unter den Frauen mit türkischem Migrationshintergrund haben nur 5,8 Prozent Abitur, aber 51,7 Prozent gehen ohne Schulabschluss durchs Leben.”

Nur, was macht Sarrazin aus diesem einfachen deskriptiven Befund? – Er “nutzt die deskriptiven Daten für aus den Daten nicht begründbare statistische Inferenzen. Das ist unzulässig. Für tiefer gehende statistische Analysen braucht man substanzwissenschaftlich wohlbegründete Hypothesen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Ist der familiäre Hintergrund ausschlaggebend dafür, dass eine Frau ohne Schulabschluss bleibt, und welche Merkmale sind für ihren familiären Hintergrund kennzeichnend? Dann braucht man Daten über diese Merkmale. Vor allem braucht man aber Methoden, mit denen Hypothesen über solche Zusammenhänge empirisch überprüft werden können. Zu prüfen ist, ob die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau keinen Schulabschluss hat, tatsächlich von den vermuteten Ursachen abhängt. An dieser methodischen Kompetenz mangelt es Herrn Sarrazin offenbar. Besässe er sie, hätte er dieses Buch so nie geschrieben.” Ebenso richtig ist es, dass türkische- und arabischstämmige Zuwanderer mehr Schulabbrecher oder eine höhere Jugendkriminalität aufweisen als der Rest. Und vor diesem Hintergrund wird dann das eigentlich typische Gehabe von Jugendlichen auf der Straße als bedrohlich empfunden, wenn diese farbig sind. Schwierig ist es, diese Fakten auszuhalten und weiter zu fragen nach dem Warum. Um dann festzustellen, dass auch der Anteil in vielerlei Hinsicht prekärer Familien unter Zuwanderern größer ist als im Rest der Bevölkerung und dass in diesem Rest genau die gleichen Bedingungen denselben jugendlichen Typus hervorbringen. Und beiden Gruppen dürfen wir Bildungsbürger nach Sarrazin das Plakat: “integrationsunwillig”, entgegenhalten.

Nun wird vielleicht mancher entgegenhalten, es habe viel Kritik an Sarrazin gegeben und damit sei die notwendige, öffentliche von Sarrazin u.a. geforderte Debatte eingetreten.

Natürlich hat es im Nachhinein auch viel Kritik gegeben. Aber wo fand diese statt? Doch meist in den Feuilletons und nicht auf der ersten Seite – und häufig wurden am Wesentlichen vorbei viele Aussagen als richtig befunden. Und die Politiker? Auch hier wurde kritisiert, aber auch vor einer Tabuisierung des Themas gewarnt. Natürlich haben die Politiker als erste begriffen, dass Sarrazin gut ankam, nicht nur beim einfachen Wähler, sondern auch bei den potentiellen Multiplikatoren der Mittel- und Oberschicht. Entsprechend lau fielen die Reaktionen aus. Die Kanzlerin: Es handle sich um Formulierungen, “die für viele Menschen in diesem Land nur verletzend sein können, die diffamieren, die sehr, sehr polemisch zuspitzen”. Bei der großen Aufgabe, bei der Integration voranzukommen, seien sie “überhaupt nicht hilfreich”. Und Sigmar Gabriel konzentrierte viel zu sehr auf den Hobby-Eugeniker Sarrazin und  bezeichnet sein Buch als ungeheure intellektuelle Entgleisung. Das Bestreben, Sarrazin aus der SPD auszuschließen, endete alles ander als souverän: “Thilo Sarrazin hat seine sozial-darwinistischen Äußerungen relativiert, Missverständnisse klargestellt und sich auch von diskriminierenden Äußerungen distanziert”, so die frühere Anklägerin Andrea Nahles.

Die Politik hat in einer zentralen Aufgabe, die jedem deutschen Politiker aus der deutschen Vergangenheit erwächst, versagt: Jeden Ansatz von Fremdenfeindlichkeit entschieden zu bekämpfen. Natürlich haben Politiker wie Koch oder Rüttgers die latente Xenophobie in uns bereits früher zu instrumentalisieren versucht, aber die Dimension des Falles Sarrazin hat die ganze politische Klasse verkannt oder feige verschwiegen. Vor allem vermisse ich die emotionale Komponente. Es reicht nicht, die sarrazinsche Wissenschaftlichkeit in den Orkus zu versenken. Gabor Steingart vom Handelsblatt mag in manchen ökonomischen Fragen zu allzu simplen Vereinfachungen neigen, aber ich werde ihm immer zugutehalten, dass er in einer Diskussionsrunde mit Sarrazin diesem das durchgearbeitete Manuskript vor die Füße knallte und einfach sagte: “So spricht man nicht mit Menschen. … Nach der Lektüre habe ich mich den ‘Kopftuchmädchen’ näher gefühlt als je zuvor” (Buhrufe im Publikum).

Trotz all der Kritik an Sarrazin merkt man, dass diese nicht verinnerlicht wurde, – wenn man sich z.B. die Europapolitik unserer Regierung anschaut. Ist es nicht genauso verwerflich diskriminierend, wenn Politiker mit der Rede vom Sozialmissbrauch bei der Zuwanderung, den „faulen Griechen“ usw. unsere Befürchtungen schüren und die Befürchtungen anderer vor uns. Und damit, nachdem sie in ihrem Bemühen, Europa zu Ende zu denken, versagen, für die viel schwerer wiegende Verwirrung der Herzen der Europäer sorgen – bis sich Deutsche, Franzosen, Griechen, Spanier usw. wieder auseinanderdividiert haben. Das Wort “diabolisch” stammt aus dem griechischen “diaballein”, was durcheinanderwerfen heißt: Der Diabolos (Teufel) bringt die Dinge in Unordnung. Auf dieser Ebene gesprochen, müssen politische Strategien, die mit Fremdenfeindlichkeit/Menschenfeindlichkeit beim Wähler punkten wollen, als teuflisch bezeichnet werden. Solche Politiker lassen ihre Wähler, wie der gefallene Cherubim, die Welt in einem falschen Licht sehen. So trägt heute die Predigt vom deutschen Wesen, an dem Europa genesen soll, sowohl außen- wie innenpolitisch den Keim des Zerfalls, der Unordnung in sich.


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