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Titel: Bewährungsproben für die Unterschicht

Datum: 3. September 2013 um 9:18 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Bei den Arbeitsmarktreformen ist ja angeblich der Kerngedanke das „Fördern und Fordern“. Das der Hartz-Gesetzgebung zugrunde liegende Leitbild ist, dass Arbeitslosigkeit vor allem der mangelnden Erwerbsorientierung und einer Passivmentalität der Betroffenen geschuldet sei. Über den Druck der Kürzung und der zeitlichen Begrenzung der Leistungsbezüge und durch Sanktionen soll ein Mentalitätswechsel bei den Arbeitslosen herbeigeführt werden. In einer Arbeitsstudie einer Forschungsgruppe um den Jenaer Soziologen Klaus Dörre mit dem Titel „Bewährungsproben für die Unterschicht?“ wird der Blickwinkel gewechselt:
Das neue „aktivierende Arbeitsmarktsystem“ wird zunächst aus der Sicht der Arbeitsverwaltungen und der arbeitsmarktpolitischen Akteure betrachtet. Im zweiten Teil werden die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Bewertungen der Betroffenen selbst zum Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen Analyse gemacht. Die Kernfrage ist dabei: „Trifft das Bild von einer Lazarusschicht, die es sich in der Hängematte des Wohlfahrtsstaates auf Kosten anderer bequem macht, tatsächlich zu?“ Von Wolfgang Lieb.

In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt hat eine Gruppe von Soziologen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena über sieben Jahre hinweg in mehreren Wellen Experten die neue aktivierender Arbeitsmarktpolitik einerseits und Leistungsbezieher der Grundsicherung andererseits in vier sozial und wirtschaftlich unterschiedlich strukturierten Regionen Deutschlands unter Anwendung qualitativ explorativer sozialwissenschaftlicher Methoden befragt. Ziel war einmal, sozusagen eine „Inspektion“ der Arbeitsverwaltungen. Und es ging zum anderen darum, den Betroffenen, den „eigensinnigen“ (über eigene Gerechtigkeitsvorstellungen Unterlaufstrategien verfügenden (S.212)) „Kunden“ der Arbeitsverwaltungen eine „Stimme“ zu geben. (S. 30) Es wurde darüber hinaus auch nach den „eigentlichen sozialen Kosten der Reform“ gefragt.

Der Übergang von einem statuserhaltenden zu einem lediglich existenzsichernden Wohlfahrtsstaat

Die Senkung der früheren Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der früheren Sozialhilfe und die Begrenzung der Bezugsdauer des stattdessen eingeführten Arbeitslosengeldes I auf 12 bzw. 18 Monate (für über 55-Jährige) und die sich daran anschließenden Befugnisse der Arbeitsverwaltungen bis hin zu Eingriffen in die Wohn- und Vermögensverhältnisse und zur Kontrolle des Privatlebens der Leistungsbezieher, hätten gravierende Folgen für die subjektive Verarbeitung und zugleich für die gesellschaftliche Akzeptanz der Hartz-Reformen gehabt. Zusammen mit der Senkung der Zumutbarkeitsregeln für eine Aufnahme von Arbeit, mit den damit verbundenen Sanktionen und mit einer Vielzahl anderer Instrumente des „Förderns und Forderns“ habe die Gesamtheit der „Reformen“ tatsächlich ein „sytemsveränderndes“ Potential gehabt, nämlich den Übergang von einem statuserhaltenden zu einem lediglich existenzsichernden Wohlfahrtsstaat (S.29).

Die Hartz-Gesetzgebung hatte nicht etwa das Beschäftigungspotential auf dem Arbeitsmarkt im Blick. Sowohl die rot-grüne als auch die Große Koalition haben, statt auf eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu setzen, einen Großteil ihrer politischen Energie dafür eingesetzt, das eher rückläufige Arbeitsvolumen [PDF – 238 KB] auf mehr Köpfe zu verteilen bzw. das Arbeitskräfteangebot zu „verflüssigen“. (S.346) Mit dem Ergebnis, dass zwar die Erwerbsquote zugenommen, ja sogar Rekordwerte erreicht hat, dass jedoch zusätzliche Beschäftigung jenseits der ökonomischen Zyklen vor allem durch flexible und häufig prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstanden ist. Um einen noch immer vorhandenen Sockel von Festanstellungen herum gruppierten sich zunehmend flexible und häufig prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Mehr als jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis ist heute dem Niedriglohnbereich zuzurechnen und knapp die Hälfte aller Neueinstellungen erfolgt befristet.

Von der Vollbeschäftigungs- zur prekären Vollerwerbsgesellschaft

Das neue Arbeitsmarktregime habe – so die Forscher – die Erwerbslosigkeit „als Wettkampf inszeniert“. (S. 32) Es habe die Langzeitarbeitslosigkeit ein Stück weit reduziert, in dem es atypische und prekäre Beschäftigung förderte. (S.33, 82) Nunmehr zeichne sich ein Übergang von einer erodierende „fordistischen Vollbeschäftigungs- zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft“ ab. (S. 33, 57)

Die Erfolgsmeldungen über die Senkung der registrierten Arbeitslosigkeit wirkten nämlich weniger glanzvoll, wenn man genauer hinschaue: Zu einem guten Teil seien die „Erfolge“ schlicht das Ergebnis statistischer Bereinigungen. Als arbeitslos würden nur solche Personen registriert, die dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung stünden. Maßnahmeabsolventen, Ein-Euro-Jobber und temporär erwerbsunfähige Personen tauchten in der Statistik schlicht nicht mehr auf.

Solche Gruppen würden nur noch bei der offiziell registrierten „Unterbeschäftigung“ mitgezählt. Die Zahl der „Unterbeschäftigten“ sei jedoch bis ins Jahr 2010 – also 7 Jahre nach den Hartz-Gesetzen – nur wenig gesunken. Rechne man die „stille Reserve“ arbeitswilliger, aber nicht anspruchsberechtigter Personen hinzu, so müsse man noch 2010 „eher von fünf als von drei Millionen Arbeitslosen“ reden. (S. 83) Die Annäherung an die „Rekorderwerbstätigkeit“ beruhe in erster Linie auf der Expansion unsicherer Beschäftigungsverhältnissen. Binnen 10 Jahren sei die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse um 46,2 Prozent, die geringfügige Beschäftigung um 71,5 Prozent, die der Soloselbständigen um 27,8 Prozent gestiegen und die Normalarbeitsverhältnisse hätten schon vor 2009 um drei Prozent abgenommen.
An der Bereitschaft von Arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit Bedrohten solche nicht-standardisierte oder sozial geförderten Tätigkeiten auszuüben, habe die neue Arbeitsmarktpolitik einen erheblichen Anteil.

Zusammen mi der nachlassenden Tarifbindung ist der expandierende Sektor mit prekärer Arbeit eines der „Bleigewichte“, die das Lohnniveau insgesamt nach unten gezogen haben. (Lehndorff, zitiert S. 351)

  1. „Inspektion“ des neuen Arbeitsmarktregimes

    Auf der Seite der Arbeitsverwaltungen habe sich ein „professioneller Habitus“ (S. 116) ausgebildet, der die Handlungsanforderungen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik inkorporiere und der die Akteure von persönlichen Konflikten mit ihrer Tätigkeit entlaste. Je schwieriger die „Kundengruppen“ würden, desto eher neigten die Handelnden in den Arbeitsverwaltungen zu individualisierenden Verantwortungszuschreibungen: es komme zu einer vermeintlich „gerechten“ Abwertung der Leistungsbezieher (S. 57). „Gerecht ist, was Arbeit schafft“ sei der Grundgedanke. Gerecht sei deshalb, von den Leistungsbeziehern maximale Eigenaktivität zu fordern. Aus einem sozialen Recht Erwerbsloser sei so Erwerbslosigkeit zu einem „Wettkampfsystem“ geworden. Man könne geradezu von einer „Neuerfindung des Sozialen“ sprechen, die die Pflicht der Einzelnen gegenüber der Gesellschaft in den Vordergrund stelle. Und diese Gerechtigkeitsvorstellungen bildeten den Maßstab für die „Legitimität von Bewährungsproben, denen sich Leistungsbezieher unterziehen müssen“. (S. 60)

    Die „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ rücke das individuelle Verhalten der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt ihrer Interventionen. Bei der Frage, wie und mit welcher Härte sich die Betroffenen den „Bewährungsproben“ unterziehen müssten, gebe es deutliche regionale Unterschiede. Unterhalb der nationalen Entscheidungsebene ließen sich drei „Arenen“ des Arbeitsmarktregimes unterscheiden, nämlich

    • erstens das jeweils unterschiedliche arbeitsmarktpolitische Umfeld,
    • zweitens die regionalen Arbeitsverwaltungen mit teilweise unterschiedlichen Leitlinien für den „Hausgebrauch“ und
    • drittens schließlich die „Arena“ der Arbeitsvermittler und Fallmanager.

    Regionenübergreifend besage jedoch der ökonomische Leitgedanke des neuen Arbeitsmarktregimes, „dass eine intensivere Konkurrenz zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, aber auch unter den Arbeitslosen selbst, den Reservationslohn, also das Einkommen von Erwerbslosen, senkt und so den Anreiz zur Arbeitsaufnahme erhöht. Dem liegt die Vorstellung zur Grund, marktgerechtes Verhalten der Erwerbslosen könne Beschäftigung erzeugen.“ (S.110) Dementsprechend seien alle Maßnahmen und Anreize legitim, die Erwerbslose zur aktiven Verbesserung ihrer Beschäftigungsfähigkeit motivieren. „Ohne jede Garantie, einen einmal erreichten sozialen Status dauerhaft absichern zu können, müssen sich die Erwerbslosen durch Eigenaktivitäten für Fördermaßnahmen und „Kundengruppen“ qualifizieren, vor allem aber den Bezug von Transferleistungen rechtfertigen.“ (ebd.)

    „Bewährungsproben“ auch für die Arbeitsverwaltungen

    Arbeitslosigkeit werde aber nicht nur für die Leistungsbezieher selbst, sondern auch für die zuständigen Sachbearbeiter der Arbeitsverwaltungen (z.B. über Zielvereinbarungen mit Vermittlungsquoten) zur permanenten „Bewährungsprobe“.

    Aber nicht nur in der „Arena“ der Arbeitsvermittler und Fallmanager gebe es einen regelrechten „Wettkampf“. Auch auf der darüber liegenden Ebene des arbeitsmarktpolitischen Umfeldes seien zwar der Gestaltbarkeit vergleichsweise enge Grenzen gesetzt, dennoch hätte das neue Arbeitsmarktregime den korporativen Konsens der früheren aktiven Arbeitsmarktpolitik gesprengt, so sei z.B. die gewerkschaftlich-arbeitsorientierte Stimme im Konzert regionaler Akteure strukturell geschwächt worden. (S. 111) Die Kraftproben setzten sich auch auf der mittleren „Arena“, der regionalen Arbeitsverwaltungen fort, indem die ARGEn nach Zielvorgaben und mittels strikter Budgetierungen geführt würden. (ebd.)

    Die eigentliche Kraftprobe finde jedoch zwischen Sachbearbeitern und „Kunden“ statt. So fühlten sich z.B. Fallbearbeiter geradezu persönlich angegriffen, wenn Vereinbarungen seitens des „Kunden“ nicht eingehalten würden. Es käme zu einem „asymmetrischen Kräftemessen“ zwischen Fallbearbeitern und Erwerbslosen. Der „gute Wille“ der „Kunden“ werde zum Selektionskriterium nicht nur für die Transferzahlungen, sondern auch für die Intensität der Vermittlungsbemühungen. Je schwieriger die „Kundengruppen“ würden, desto legitimer erschienen den Sachbearbeitern (moralische) Kritiken, die am Verhalten der „Kunden“ ansetzten.

    Die (persönlichen) Gerechtigkeitsmaßstäbe, die dabei angelegt würden seien, einmal das „Autonomieprinzip“, will sagen, die Erwerblosen verstießen gegen ihre Chancen auf eine eigenständige Lebensführung zugunsten einer dauerhaften Abhängigkeit von Sozialtransfers. Zum Zweiten verletzten Arbeitslose das Gebot der Leistungsgerechtigkeit, weil sie nicht bereit seien, im Gegenzug für die Fördermaßnahmen angemessene Eigeninitiativen zu entwickeln. Drittens würden sie die Gleichheitsnorm mit Füßen treten, weil sie den Leistungswilligen Kosten aufbürdeten. Kurz: Gemessen an diesen Gerechtigkeitsmaßstäben verhielten sich die Betroffenen gegenüber der Gesellschaft amoralisch („antiemanzipatorisch“ (S. 359)) und die Durchsetzung strenger Zumutbarkeitsregeln durch die Handelnden der Arbeitsverwaltung erschienen so „als legitimiert, ja geradezu (als) emanzipatorischer Akt im Namen der Gerechtigkeit. Die Kritik am Arbeitsmarktregime selbst oder an einzelnen Praktiken verschiebe sich so in die Richtung einer Kritik an den „Kunden“ mit „Vermittlungshemmnissen“. (S. 359)

    Disziplinierung mittels sozialer Abwertung

    „Wohlverhalten ihrer „Kunden“ (werde) zum Wettkampfkriterium.“ Auf Seiten der Erwerbslosen entstehe „Anpassungsdruck“: Anpassung an das Regime, Passgenauigkeit für Maßnahmen, Leidensfähigkeit, mitunter devotes Verhalten gegenüber den Sachbearbeitern. (S. 118) Je größer die Vermittlungshemmnisse seien, desto mehr würden sich die „Kunden“ in den Augen der Sachbearbeiter dem medial gestützten Bild einer „verwahrlosten Unterschicht“ annähern. (S. 117) Leistungsbezieher, die nach sozialer Herkunft, Erwerbsbiografie, Lebensalter, Familienformen oder sozialen Netzwerken erheblich differierten, würden ohne Unterschied „symbolisch in die Nähe der schwächsten ´Kundengruppe`“ gerückt. „Disziplinierung mittels Abwertung lautet die Bezeichnung für diese Rezeptur.“ (S. 119)

    Die damit verbundene kollektive Stigmatisierung liefere so gleichzeitig auch den (noch) gesicherteren Gruppen (der „sozialen Mitte“) Anschauungsunterricht für das, was geschehen könnte, wenn sie in den Bewährungsproben des Erwerbssystems scheiterten.

  2. Die Sichtweisen der vom Arbeitsmarktregime Betroffenen

    Im zweiten Teil der Studie geht es um die „Kunden“, also um die Leistungsbezieher/innen von Alg II und deren Sichtweisen. Der zentrale Befund ist, dass die Fallmanager in der Praxis „auf eigensinnige, relativ verfestigte Erwerbsorientierungen ihrer „Kunden“ treffen“. (S. 123)

    Diese subjektiven Erwerbsorientierungen werden in der Studie empirisch rekonstruiert und typisiert.

    Es wurden drei Haupttypen und sechs Subtypen von Erwerbsorientierung herausgefunden (die sich überschneiden bzw. untereinander auch austauschen können):

    1. Die „Um-Jeden-Preis-Arbeiter/innen“, mit der Unterscheidung zwischen Aussichtsreichen und den Alternativlosen.
    2. Die „Als-Ob-Arbeiter/innen“ mit den Subtypen: Schein-Reguläre und Bürgerschaftlich-Engagierten.
    3. Die „Nicht-Arbeiter/innen“, darunter wiederum die Ziellosen und die Resigniert-Eingerichteten

    Die „Um-Jeden-Preis-Arbeiter/innen“

    Die „Um-Jeden-Preis-Arbeiter/innen“, die etwas mehr als ein Drittel (rd. 30) der in der Studie Interviewten umfassen, unternähmen buchstäblich alles, um eine wenigstens halbwegs attraktive Berufstätigkeit zu finden, häufig auch als „Aufstocker“ oder „Soloselbständige“. Für diese Gruppe gelte es unter allen Umständen zu vermeiden auf das Niveau von Sozialhilfeempfängern abzusinken. („Bevor ich Hartz beziehe, bring ich mich um“.)
    Obwohl gegenüber der Arbeitsverwaltung durchaus „sperrig“, seien dies die idealen „Kunden“ der Arbeitsverwaltung. Diejenigen, die ihre Chancen als aussichtsreich betrachteten, verhielten sich wie „Unternehmer ihrer eigenen Beschäftigungsfähigkeit“. (157)
    Bei den „Alternativlosen“ dieser Gruppe würden – situationsbedingt – eher unterstützende Ansprüche angemeldet. Selbst wenn im Einzelfall das Familieneinkommen geringer sei als zu Zeiten der Erwerbslosigkeit, hindere das die Betreffenden nicht einen solchen Job anzunehmen. (S. 353)

    Das Verhalten dieser Gruppe sei allerdings völlig unabhängig von den Arbeitsmarkt“reformen“.

    Die „Als-Ob-Arbeiter/innen“

    40 Prozent das Samples machen die „Als-Ob-Arbeiter/innen“ aus („In meinem Haus, weiß keiner, das ich Hartz VI bin“) (S. 159ff.). Es seien überwiegend Frauen. Sie gehörten zu den durchschnittlich Älteren (46 Jahr) und sie seien meist als „Langzeiterwerbslose“ und allenfalls im „zweiten Arbeitsmarkt“ (Ein-Euro-Jobs, ABM) aktiv, prekär beschäftigt, erwerbslos oder im Ehrenamt.

    Sie beurteilten ihre Arbeitsmarktchancen pessimistisch, obwohl die Hälfte unter dieser Gruppe eine Berufsausbildung und ein weiteres Viertel einen Hochschulabschluss hat. Ihre Tätigkeiten übten sie aus, als ob sie regulär beschäftigt wären. Die Autoren unterscheiden zwischen Schein-Regulären und Bürgerschaftlich-Engagierten. Man arbeite so, als handle es sich um das, was fehlt und man halte die Fassade beruflicher Normalität so lang wie möglich aufrecht.

    Die Erfahrung unsicherer Arbeitsverhältnisse vor Augen scheue man räumliche und soziale Mobilität, es drohe sonst noch verloren zu gehen, was das Leben überhaupt noch einigermaßen lebenswert mache. Die „Als-Ob-Arbeiter/innen“ würden liebend gerne arbeiten, betrachten sich selbst aber als chancenlos. Die andauernde Erfolglosigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt werde (mit Frust und Enttäuschungen) umgedeutet in sozial geförderte oder ehrenamtliche Tätigkeiten. Die Erfahrungen mit der Arbeitsverwaltung beschreibe diese Gruppe meist als frustrierend.

    Auch bei dieser Gruppe falle es schwer, an die Aktivierungserfolge der Arbeitsmarkt“reformen“ zu glauben.

    Die „Nichtarbeiter/innen“

    Ein Viertel der in der Studie Befragten (mehrheitlich Frauen) werden dem Typus der „Nichtarbeiter/innen“ zugeordnet. Sie hätten im Vergleich zu den anderen beiden Gruppen ein eher niedriges Bildungs- und Qualifikationsniveau, oft zerrüttete Familienstrukturen und sie hätten meist keine oder nur lange zurückliegende praktischen Erfahrungen in einem erlernten Beruf. Es handele sich um einen sehr heterogenen Personenkreis, von alleinerziehenden Müttern, über ostdeutsche Langzeiterwerbslose oder Menschen mit erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Viele hätten ihr individuelles Handeln bewusst auf ein Leben jenseits der offiziellen Arbeitswelt ausgerichtet. Bei Jüngeren würden oft subkulturelle Szenen (Punks, rechte Szene) zum eigentlichen Lebenszentrum.

    Sie bemühten sich (teilweise auch nur vorübergehend) nicht (mehr) um reguläre Erwerbsarbeit. Eine innere Verpflichtung dazu sei nicht (mehr) vorhanden und oft auch im sozialen Umfeld nicht anzutreffen. Die Nichtbeachtung der Erwerbsnorm sei aber keine bewusste Entscheidung, sondern verloren gegangen oder erst gar nicht erworben. Die „Nichtarbeiter/innen“ schreckten oft vor den unbekannten Anforderungen der Arbeitswelt mit Angst zurück. Trotz ihrer Passivität im Arbeitsmarktverhalten seien die „Nichtarbeiter/innen“ jedoch meist durchaus gesellschaftlich aktiv, nur in Einzelfällen treffe man auf Verwahrlosung oder Apathie. Aber ein Teil sei ziellos oder habe sich resigniert eingerichtet (meist ältere oder körperlich eingeschränkte Personen). Viele „Nichtarbeiter/innen“ hätten Kompensationsmechanismen (Tafel, Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft) für den finanziellen Mangel entwickelt und sich mit dem Alg II-Bezug abgefunden.

    Diese Gruppe wende sich frustriert von der Arbeitsverwaltung und ihren Angeboten ab und entwickle teilweise Unterlaufstrategien. Strengere Zumutbarkeitsregeln oder Sanktionen könnten bei dieser Gruppe kaum etwas verändern.

    Fazit: Das Klischee der passiven Arbeitslosen ist falsch

    Anders als in der Unterschichtendebatte üblicherweise unterstellt, lasse sich bei der überwiegenden Mehrheit der Befragten keine subjektive Abkehr von der Erwerbsnorm feststellen. Eher sei das Gegenteil der Fall. Hartz IV bedeute für den Großteil der Befragten einen gesellschaftlichen Abstieg, mit dem sie sich nur schwer arrangieren könnten. Selbst bei extremer materieller Knappheit strebten viele Befragte von sich aus nach gesellschaftlicher Anerkennung. In scharfem Kontrast zum Klischee der passiven Arbeitslosen seien diese Leistungsbezieher/innen zu einem erheblichen Teil ausgesprochen aktiv, ja, arbeiteten sogar häufig hart. Trotz aller Anstrengungen käme aber ein Großteil der Befragten beruflich nicht vom Fleck. „Lange Jahre in Arbeitslosigkeit und Prekarität bewirkten, dass die Betroffenen regelrecht ausbrennen.“ (S. 205,) Körper und Psyche träten in Streik. (S. 355) „Scham und Angst, mit einer Welt konfrontiert zu werden, in der man selbst nicht (mehr) leben kann, bewirken, dass sich ein erheblicher Teil der Leistungsbezieher nur noch unter Seinesgleichen bewegt.“ (S. 205)

    Strenge Zumutbarkeitsregeln wirken eher kontraproduktiv

    In einem weiteren Perspektivwechsel wird untersucht, wie die Verhaltensanforderungen aktivierender Arbeitsmarktpolitik auf „eigensinnige“ Handlungsstrategien von Personen im Leistungsbezug treffen. Es zeige sich, dass strenge Zumutbarkeitsregeln eher kontraproduktiv wirkten. (S. 363) „Wenn es dennoch zu individuellen Positionsverbesserungen kommt und der Spring in eine reguläre Beschäftigung gelingt, so lässt sich das nicht auf die Wirksamkeit strenger Zumutbarkeitsregeln zurückführen.“ (S. 208) Nicht wegen, sondern trotz strenger Zumutbarkeitsregeln gelängen individuelle Positionsverbesserungen. Die große Mehrzahl zirkuliere jedoch zwischen prekärer Beschäftigung, sozial geförderter Ersatzarbeit und längeren Phasen der Erwerbslosigkeit.

    Die Strenge des Arbeitsmarktregimes führe nur zu materieller Knappheit (karger Lebensunterhalt, fehlende kulturelle Teilhabe) bis hin zu Eingriffen in die Familien- (Kinder-Elternbeziehung) und in die Geschlechterarrangements. Als besonders drastische Eingriffe in das Privatleben würden die Aufwendungsgrenzen für Wohnraum (Verlust der angestammten Wohnung) und die Regelungen zur sog. Bedarfsgemeinschaft (die finanzielle Heranziehung des Lebenspartners) empfunden. Die Mehrzahl der Befragten beschreibe das „Wettkampfregime“ als bürokratischen Zwangsapparat, der einige privilegiere, andere abwerte und langfristig stigmatisiere.

    „Das Bestreben der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, die Eigenverantwortung zu stärken, verkehrt sich aufgrund der allgegenwärtigen Kontrollmechanismen in sein Gegenteil. Ohnmacht, Fremdbestimmung und Scham dominieren das Erleben eines Großteils der Leistungsbeziehenden.“ (S. 256)

    Nur wenige schaffen den Sprung aus dem Leistungsbezug

    Schließlich fragt die Wissenschaftlergruppe noch danach, ob die Härten des Aktivierungsregimes geeignet seien, die Erwerbsorientierung der „Kunden“ der Arbeitsverwaltung, so zu formen, dass sie für den Arbeitsmarkt passförmig würden.

    Im Befragungsabstand von drei Jahren beobachteten die Forscher bei den „Als-Ob-Arbeiter/innen“ und bei den „Nicht-Arbeiter/innen“ eher ein Verfestigung der individuellen Erwerbslagen, nur bei den „Um-Jeden-Preis-Arbeiterinnen“ fänden sich Beispiele für Aufwärtsmobilität. (S. 268) Nur 10 Prozent der Befragten, hätten den Sprung aus dem Leistungsbezug in ein Beschäftigungsverhältnis geschafft, die anderen 90 Prozent nicht.

    Nach weiteren drei Jahren hätten nahezu ausschließlich die „Um-Jeden-Preis-Arbeiter/innen“ eine Anstellung erreicht und den Leistungsbezug vorübergehend beendet. Die Beschäftigungsverhältnisse seien jedoch alle im Niedriglohnsegment angesiedelt und stellten in aller Regel nur eine geringfügige Verbesserung gegenüber dem Alg II-Bezug dar.

    Es gab unter den Befragten nur einen einzigen Fall, bei dem man mit Bestimmtheit sagen könne, dass etwas eingetreten sei, was – dem Anspruch nach – das Ziel der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik ist. Viel eher sei ein Wechsel von den „Als-Ob-Arbeiter/innen“ zu den „Nicht-Arbeiter/innen“ feststellbar, also eine Abwärtsmobilität. (S. 271) Je länger die Erwerbslosigkeit andauere, desto größer werde der Druck, sich einzugestehen, dass der Sprung in „richtige Arbeit“ nicht mehr gelingen kann.

    In der überwiegenden Zahl der Fälle erreiche die Aktivierungspolitik das Gegenteil dessen, was sie zu leisten beansprucht, nämlich dass sie die Erwerbsorientierung und damit zugleich ein Lebenskonzept zerstöre, soziale Stabilität und zugleich die „Würde“ nähme.

    Desillusionierende Befunde

    Aus Sicht von Befürworter des neuen Arbeitsmarktregimes müssten die Befunde der Studie geradezu desillusionierend wirken. (S. 276) In keinem Fall habe sich nachweisen lassen, dass der Sprung in bessere Verhältnisse gelungen sei, weil die Arbeit der Fallmanager/in erfolgreich gewesen sei. (S. 276) Der Anteil von Aktivierungsmaßnahmen am individuellen „kleinen Aufstieg“ sei jedenfalls vergleichsweise gering. Diejenigen, die einen Aufstieg geschafft habe, hätten diesen auch ohne das strenge Zumutbarkeitsregime geschafft.

    Feststellbar sei vielmehr eine Tendenz zur „Polarisierung“ der Erwerbsorientierungen, d.h. die Erwerbsnorm erodiere. Außerdem sei eine „zirkuläre Mobilität“ (S. 368f.) zu beobachten, d.h. es komme auf Grund von Eigeninitiativen zu Positionsveränderungen, die jedoch auf ein Auf-der-Stelle-Treten hinausliefen. Ein weiterer Befund sei schließlich die Anpassung an die prekären Lebensumstände, d.h. man blicke nicht mehr in eine bessere Zukunft. Ressourcenknappheit und strenge Zumutbarkeit würden aber die Gefahr des weiteren Abgleitens, in Verschuldung und im Extremfall gar in die Verwahrlosung erhöhen.

    Was immer wieder als Fortschritt der Hartz-Reformen genannt werde, nämlich die Gleichstellung von Sozialhilfebezieher/innen und Arbeitslosen, erweise sich sozialpsychologisch und sozialstrukturell als überaus problematisch. Die Sozialhilfeempfänger einerseits empfänden sich keineswegs als Gewinner der Arbeitsmarktreformen, während anderseits Arbeitslose, die lange erwerbstätig waren, sich auf einen Fürsorgestatus zurückgeworfen sähen. Diese „Zwangshomogenisierung“ der Transferbezieher verstoße massiv gegen das Gerechtigkeitsempfinden der ehemals Erwerbstätigen. (S. 371)

    Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland

    In einem Exkurs vergleichen die Wissenschaftler/innen, ob sich das neue Arbeitsmarktregime im Osten Deutschlands unterschiedlich zum Westen ausprägt. Grundsätzlich müsse man sagen, dass der Hartz IV-Bezug zusammenzwinge, was eigentlich nicht zusammengehöre. Im Osten gäbe es jedoch eine größere erwerbsbiografische Diskontinuität (60 % haben mindestens einmal ihren Arbeitsplatz verloren) als im Westen (43 %), das habe dazu geführt, dass es im Osten mehr „Als-Ob-Arbeiter/innen“ als „Um-Jeden-Preis-Arbeiter/innen“ gebe. Beim Umgang mit dem Mangel könne man im Osten einen Rückgriff auf das Verhalten in früheren Mangelsituationen in der ehemaligen DDR feststellen. Bei der subjektiven Wahrnehmung von sozial geförderter Beschäftigung gebe es in Ostdeutschland eine höhere Akzeptanz. Vor allem aber bei der unterschiedlichen Bewertung der Frauenerwerbstätigkeit könne man deutliche Unterschiede ausmachen. Bei westdeutschen Frauen könne man eher einen Rückzug in die Hausfrauenrolle (mit Minijob) beobachten, während diese Rolle von den ostdeutschen Frauen überwiegend abgelehnt würde und eher eine Vollerwerbstätigkeit ihrem Selbstverständnis entspreche.

Zusammenfassend:

„Die Arbeitslosenstatistik mag glänzen, der Preis dafür ist eine Verwilderung des Arbeitsmarktes, bei der die Würde der Hilfsbedürftigen und ihr Anspruch auf Unversehrtheit zunehmend unter die Räder eines Wettkampfprinzips geraten, das seinen dogmatischen Verfechtern als Selbstzweck genügt.“ (S. 398)

Sind die Befunde valide?

Man könnte natürlich in Frage stellen, ob 99 Befragte in der ersten Befragungswelle, 69 Interviews in der zweiten und Gespräche mit weiteren 20 ausgewählte Interviewpartner/innen, die an allen Befragungen teilgenommen haben in einer dritten Runde, ein statistisch repräsentatives Bild geben können.

Dabei stößt man auf ein methodisches Dilemma aller qualitativ explorativer Studien. Ihre Verallgemeinerbarkeit ist nicht unmittelbar gegeben. Aber im Gegensatz zu repräsentativen Umfragen können solche qualitative Studien (wie die dem in der Studie zugrunde gelegten Ansatz der sog. „Public Sociology“ (S. 346f.)) Unsichtbares sichtbar machen, sie können Wissen erschließen, das der empirischen Forschung ansonsten gar nicht zugänglich wäre und im Verborgenen bliebe. Auch die Befunde dieser Studie müssen letztlich den „Härtetest“ einer Verallgemeinerbarkeit erst noch in der Diskussion innerhalb der Scientific Community, mit der weiteren empirischen Überprüfung der herausgefundenen Ergebnisse gegenüber Erwerbslosen selbst, mit Praktikern der Arbeitsverwaltungen, mit Arbeitsloseninitiativen oder Arbeitsmarktpolitikerinnen bestehen.

Gerade deshalb möchte man dieser Studie eine breite öffentliche Diskussion wünschen, die dann möglicherweise zu neuen Einsichten für eine neue Arbeitsmarktpolitik und zu einem sinnvolleren Arbeitsmarktregime führen könnte als es das Hartz IV-System darstellt. Darüber hinaus könnte eine neue Debatte angestoßen werden, dass durch Arbeitsmarktpolitik alleine, das Problem der Arbeitslosigkeit nicht zu lindern oder gar zu lösen ist. Man kann nicht das Pferd vom Schwanze aufzäumen und sich wundern, dass es rückwärts läuft. Nötig wäre vor allem eine aktive Wirtschafts- und damit auch Beschäftigungspolitik die das Angebot an Arbeitsplätzen ehrhöht.

Das wäre im Interesse der Millionen von Betroffenen eine der wichtigsten politischen Aufgaben und nicht etwa – wie in der Vergangenheit, im Sinne eines Experiments mit menschlichen Versuchstieren – eine weitere Verfeinerung oder Justierung des Hartz- Arbeitsmarktregimes.

Bibliografische Angaben:
Klaus Dörre, Karin Scherschel, Melanie Booth, Tine Huber, Kai Marquardsen, Karen Schierhorn, Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik; Internationale Arbeitsstudien, Band 3; Campus Verlag Frankfurt/New York, 2013, 423 Seiten; 29,90 Euro.

Hinweis:
Wem die knapp 400 Seiten des Buches zu viel Lesestoff sind, sollte wenigstens das letzte Kapitel lesen.
Für meine umgangssprachliche Zuspitzung des wissenschaftlichen Vokabulars der Studie möchte ich die Wissenschaftler/innen nicht in Anspruch nehmen.


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