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Titel: Die Mittelklasse in der Zone der Verwundbarkeit

Datum: 18. Dezember 2006 um 8:48 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Um die „Leistungsträger“ aus der Mittelschicht müsse sich die SPD „wieder stärker kümmern“, sagte Kurt Beck im September in einem programmatischen Beitrag in der „Welt am Sonntag“. Tatsache ist, dass inzwischen auch qualifizierte Berufe vom sozialen Abstieg bedroht sind und wir auf eine Becksche „Dreidrittelgesellschaft“ zustreben, „in der die Armen und die Mitte, obwohl auch zwischen ihnen Welten liegen, gemeinsam zu den Geprellten zählen. Geprellt von einem System, von dem ´die ganz oben` immer mehr profitieren“, schreibt der Soziologe Ulf Kadritzke in einem Essay für Le Monde diplomatique vom Dezember 2006, den er uns zur Verfügung stellt. Ob sich die Mittelklasse umgekehrt auch um die SPD „kümmert“, erscheint allerdings eher zweifelhaft, denn „in den einzelkämpferischen Überlebenstechniken der Mittelklassen“ verbindet sich „die verblassende Illusion der Selbstbestimmung mit einer politischer Apathie, der die abgehängten Mitglieder der Unterklassen noch einige kollektive Einsichten voraushaben.“ Um die Macht des Faktors Arbeit wieder zu stärken, wäre es nach Meinung Kadritzkes erfolgverversprechender den „Bestand an Interessen neu zu bestimmen, der die Menschen in den Zonen der Exklusion und der Gefährdung verbindet“, statt eine Schicht gegen die andere auszuspielen.

Kein Platz mehr im letzten Flugzeug

Die Mittelklassen in der Zone der Verwundbarkeit

Von Ulf Kadritzke

Die Begebenheit liegt fast 20 Jahre zurück, aber sie ist, zumal aus heutiger Sicht, erinnerungswürdig. Es war Montag, der 19. Oktober 1987, gerade hatte sich der größte Börsenkrachs seit 60 Jahren ereignet: “Nach und nach strömten Tausende von Menschen aus allen möglichen Ecken von New York in die Wall Street. Verwirrt sahen die Polizisten, wie die Menschenmasse einfach da stand und nach oben starrte. Bis die Sache klar wurde: Alle warteten darauf, dass die ersten verzweifelten Broker sich aus den Fenstern stürzen, keiner wollte das live event verpassen, den fröhlichen Augenblick, da die verfluchten Yuppies endlich auf den Asphalt prallen würden. Nun warteten sie und warteten sie, aber nichts geschah.” [1]
Dass nichts geschah, lag auch daran, dass sich in den klimatisierten Büros der Wall Street kein Fenster mehr öffnen lässt. Aber warum beschränkten sich die Menschen dort unten auf das Gaffen? Wer waren sie, die dem Fenstersturz der Broker und Händler lediglich schadenfreudig beiwohnen wollten? Zu den Geschädigten zählten neben den Rednecks der Handarbeiterklasse, die um ihre Pensionsfonds bangten, auch viele Angehörige der Middle Classes, die nunmehr Teile ihres Einkommens verspekuliert hatten.
Deutete irgendetwas darauf hin, dass sie den Börsenkrach als Menetekel empfanden und am Ende des Goldenen kapitalistischen Zeitalters die Konturen einer polarisierten Gesellschaft erahnten? Im Rückblick wird die Szene zum Sinnbild einer Klassengesellschaft, in der die Armen und die Mitte, obwohl auch zwischen ihnen Welten liegen, gemeinsam zu den Geprellten zählen. Geprellt von einem System, von dem “die ganz oben” immer mehr profitieren: The winner takes it all.
Was haben diese Mittelklassen seitdem gelernt, in den USA wie in den noch sozialstaatlich verfassten Ländern Europas? Die Antwort fällt nicht leicht. Im Innern der Klassengesellschaft haben sich die sozialen Gewichte dramatisch verschoben. Aber nach wie vor schreibt der Alltagsverstand dem ideal gedachten Bürger die gesicherte Lebenslage, den angesehenen Beruf und eine risikoscheue Mentalität zu. Bemüht man die in Zeiten der Globalisierung wieder plausible Unterscheidung zwischen “Kosmopoliten” und “Lokalisten”, so hält sich die Mehrheit der selbst ernannten Mittelklassen für mobile, leistungswillige und konsumfreudige Kosmopoliten.

Fernstenliebe bringt mehr ein als Nächstenliebe

Mit den Unterschichten, die eine gängige Modernisierungsrhetorik als unbewegliche, allenfalls fernsehende Lokalisten abtut, will man eher nichts zu schaffen haben. Aber auch der Zutritt zur notorisch schmalen Elite bleibt verwehrt. Hier herrschen die Besitzklassen und ihre maßgeblichen Manager, die mit der Selbstgewissheit von Sozialdarwinisten das Geschäft der schöpferischen Zerstörung weltweit betreiben. Sie meiden die lästigen Regeln der steuerfinanzierten, sozialstaatlich geordneten Nächstenliebe. Stattdessen suchen sie die Galadiners der Fernstenliebe auf, wo essen und trinken für weitab hungernde Kinder das öffentliche Ansehen mehrt und den privaten Reichtum nach Steuern.

Irgendwo dazwischen wollen die bunt gescheckten Mittelklassen ihre unproletarische Daseinsform in den neuen Kapitalismus hinüberretten. Das wird schwierig, denn der Widerspruch zwischen den propagierten Leitbildern des Erfolgs und dem wirklichen Leben wird immer größer. Wenn sich besser verdienende Arbeiter und qualifizierte Angestellte nicht mehr als redliche Nutznießer des ökonomischen Fortschritts empfinden, sondern als Geprellte, dann sind die persönlichen und politischen Folgen dieser Entwicklung neu zu bedenken.
In ihrer Studie über die Middle Class der USA beschreibt Barbara Ehrenreich, wie sich die “Angst vor dem Absturz” in reale Erfahrung verwandelt. Für viele wird der alte Traum vom Erfolg zur Lebenslüge, obwohl sie die einschlägigen Regeln genauestens beachten: “In manchen Fällen handelt es sich um wahre Erfolgsmenschen auf gehobenen Posten, die gerade deshalb in Schwierigkeiten geraten sind, weil die Einsparung ihres Gehalts einen bequemen Weg zur Kostendämpfung darstellt Sie waren die Verlierer bei der klassischen Jagd nach dem immer besseren Job.” [2]
Gefährdet sind damit zunehmend gerade diejenigen, die nach herrschender Wirtschaftslehre und Erfolgsratgebern “alles richtig gemacht” haben. Der ungeduldige Kapitalismus droht auch den arbeitenden Mittelklassen in den reichen Ländern [3] mit dem Gespenst der Nutzlosigkeit.
Wenn den individuell leistungswilligen und politisch geduldigen Bürgern die Verdrängung der realen Probleme immer schwerer fällt, stellt sich die Frage: Welche Umstände könnten auch bei ihnen die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse, ihre eigene Rolle und die Möglichkeiten der Veränderung befördern? In Westeuropa war in den Mittelklassen die Angst vor dem Absturz bis vor kurzem fast unbekannt. Die Sorge galt allenfalls dem beruflichen Stillstand oder der Abschiebung in die Frührente. Dauerhaft garantiert erschien den meisten ein durch berufliche Qualifikation, betriebliche Stellung und die Sozialsysteme gesicherter Wohlstand, der die Lust am gehobenen Konsum in Gang hielt.
Heute sind vom sozialen Abstieg auch qualifizierte Berufe bedroht: der mit 50 ausgemusterte Vertriebsangestellte; der 45-jährige Schichtleiter des insolventen BenQ-Betriebs; die junge Psychologin, die sich mit Honorarverträgen durchschlägt und ihre Weiterbildung über Kredite finanziert; der 40-jährige freischwebende Dozent, dessen Eltern die Miete zahlen und damit die staatliche Hochschule mit finanzieren; die frisch diplomierte Betriebswirtin, die qualifizierte Arbeit im dritten unterbezahlten Praktikum leistet. Natürlich sind nach wie vor die minder qualifizierten Menschen den Arbeitsplatzrisiken und materiellen Einbußen am stärksten ausgesetzt. Aber die Unsicherheit kriecht in die Mittelschichten hoch. “I may look middle class”, sagt der 45-jährige amerikanische Angestellte. “But I’m not. My boat is sinking fast.” [4]
Viele geraten aus der Zone der Integration in die der Verwundbarkeit, wie es Robert Castel nennt. [5] Das trifft vor allem immer mehr Jüngere beim Übergang von der gehobenen Ausbildung in den Arbeitsmarkt. Die angestellten Mittelklassen, die ihren sozialen Aufstieg mehrheitlich dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats und des Bildungssystems verdankten, beginnen zu erfahren, dass das verinnerlichte Leistungsprinzip und die sozialen Institutionen, die es bislang stützen, nicht mehr zuverlässig greifen. Die Proteste der französischen Studenten gegen den prekären ersten Arbeitsvertrag (CPE) entspringen nicht nur diffusen Ängsten, sondern auch der realistischen Furcht vor dauerhaften und sehr persönlichen Risiken.
Die politischen Folgen dieser Veränderungen werden bislang ziemlich ratlos und eher spekulativ diskutiert. In den Feuilletons herrschen neue Spielarten der alten Diagnosen vor: Natürlich gebe es neue Unsicherheiten, aber sie führten eher dazu, dass die Betroffenen sich verschärft nach unten abgrenzen, gegen jene, die nach ihrem Weltbild nicht zur Gruppe der Leistungsträger gehören; darin zeige sich der “Neid der Abgehetzten auf die Abgehängten”. [6] Nur wenige Beobachter denken an die Möglichkeit, dass sich europaweit eine rebellische génération précaire herausbilden könnte, eine neue Klasse, in der “die Burgerbrater der Fast-Food-Ketten mit den freien Grafikdesignern demonstrieren”. [7] Selbst nach den Protestaktionen in Frankreich traut kaum jemand den zukünftigen Mittelklassen rebellische Neigungen zu, geschweige denn ein Interesse an grundlegenden Veränderungen.
Diese Diagnose mag zutreffen und greift dennoch zu kurz. Sie fordert dazu auf, das Gelände der entgrenzten Arbeit und die gesellschaftlichen Spaltungslinien neu zu vermessen. [8] Obwohl die Mittelklassen in ihrer großen Mehrheit lohnabhängig sind, bleibt der reale, und erst recht der gefühlte Abstand zu den Unterklassen groß. Aber einige gründliche Veränderungen sind nicht mehr individuell zu bewältigen.

  • Für junge, fachlich gut ausgebildete Menschen verlängern sich die Übergangsstadien in die Erwerbswelt; viele Unternehmen beuten mit Praktika, Probezeiten und Honorarverträgen junge, qualifizierte Arbeitskräfte aus.
  • In die soziale Abwärtsspirale geraten viele bislang verlässlich geschützte Gruppen. [9] Die Armut greift “nach oben” aus und bedroht auch qualifizierte Mitglieder der Mittelklassen. – Im System der persönlichen Netzwerke entscheiden die soziale Herkunft und das ererbte kulturelle Kapital weit stärker über den beruflichen Erfolg als die bescheinigte Qualifikation.
  • Der Wechsel zwischen festem Arbeitsverhältnis, prekären Beschäftigungsformen und trügerischer Scheinselbstständigkeit wird eher zur Regel. Wenn zwischenzeitlich etwas boomt, ist es die Arbeit auf Zeit, eben Zeitarbeit.
  • Ein vermeintlicher Stützpfeiler der mittelständischen Mentalität alter Prägung hält schon lange nicht mehr: Das Bild des Pionier-Unternehmers, obwohl auf vielen Gründerseminaren zum Garagenmythos feinpoliert, kann der Mehrheit der abhängig beschäftigten Mittelklassen keine Perspektive bieten; der Anteil der wirklich Selbständigen beläuft sich in allen entwickelten Ökonomien auf kaum mehr als 10% der Erwerbstätigen.
  • Mit der Privatisierung vormals öffentlicher Dienste wächst in den Mittelklassen die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern. In Hochschulen und Sozialeinrichtungen, in der Medien- und Kulturszene entsteht ein neues Proletariat von hoch qualifizierten Wissensarbeitern: Honorarkräfte, “freie” Mitarbeiter und ganz Unbezahlte arbeiten in Institutionen, die ohne sie nicht überleben könnten.
  • Selbst die Sieger im “darwiportunistischen” Unternehmen (zumeist Männer, die sich Manager nennen dürfen), bleiben “Spieler ohne Stammplatzgarantie”. [10] Die Karriere verlangt die rastlose Selbstvermarktung und ist ohne Stress nicht zu haben. Sie zementiert das traditionelle Geschlechterverhältnis und macht den Versuch, Beruf und Kinder zu lieben, zum Privatabenteuer.
  • Die Zukunft ist noch ungewisser. Die Kinder aus den “neuen” Mittelklassen erleben, dass nach dem Studium weder das dritte Praktikum noch die Gründung einer Rockband mit Elternknete die Zukunft als “Arbeitskraftunternehmer” sichert. Stattdessen steht vielen das Schicksal als Händler, ja Hausierer der eigenen Arbeitskraft vor Augen.

Das Erfolgsprinzip entwertet Leistung und Loyalität

Große Erwartungen, verlorene Illusionen; das fremdbestimmte Auf und Ab wird in der zukünftigen Mitte zur allgemeinen Lebenserfahrung. Die Predigt der individuellen Strebsamkeit, die allen Willigen und Tüchtigen das Ende des Arbeiterschicksals versprach, tönt immer hohler. Im Beruf wie im Leben tritt an die Stelle des Leistungsprinzips ein neu gemünzter Begriff von Erfolg.
Während im Goldenen Zeitalter des Kapitalismus (1950-1975) das Lohnarbeitsverhältnis in einen Sozialkontrakt eingebettet war, der Kompetenz und Loyalität des qualifizierten Berufsmenschen mit stetiger Beschäftigung und Karrierechancen belohnte, prägt nun der – oft nur scheinhaft – berechenbare Beitrag des Einzelnen zum Erfolg des Unternehmens das Idealbild des erfolgreichen

Mitarbeiters. Ständig muss der “Arbeitskraftunternehmer” versuchen, aus den betrieblichen Eingangszonen auf die Kommandohöhen vorzudringen, wo die errungene Macht gegen den drohenden Verlust der Stelle zu schützen verspricht. Indes verwandeln die Unternehmensstrategien das Happy End des Angestelltentraums – der Einzug ins Korps der Führungskräfte, das über Gewinner und Verlierer entscheidet – zum beweglichen Ziel, weil sich die betrieblichen Koordinaten der Macht im Netzwerk der Unternehmen ständig verschieben. Über Nacht kann der Gewinner zum Verlierer werden.
Die Enttäuschungen, die das Berufsleben bereithält, fasst Barbara Ehrenreich in dem Befund zusammen, dass nun auch mittlere und höhere Angestellte “häufig denselben mörderischen Anforderungen ausgesetzt sind wie die Niedriglohnverdiener, die zwei Jobs annehmen müssen”. Die neuen, nur noch atemlos zu bewältigenden Vorgaben machen die Mittelklassen besonders ratlos, denen der berufliche Erfolg als stärkster Beweis für ein geglücktes Leben gilt. Nun erleben die vom “Lustprinzip der Professionalität” geprägten Angestellten, dass gerade die Aufgaben, die von der fachlichen Kompetenz und deren ständiger Interpretation lebten, in verfeinerten Kennziffersystemen entkernt und zerschrotet werden.
Die Strategen für Bilanzen, Portfolio und Benchmarks, die nun das Sagen haben, wissen wenig vom geheimen Hedonismus der Mittelklassen und seinen Produktivitätsreserven. Sie glauben an die Macht der Angst, die dienende Angestellte dazu bringt, am Callcenter-Telefon stets die Mundwinkel hochzuziehen, und die Sperrsitzhalter im mittleren Management dazu, das tägliche Windhundrennen durchzustehen. Für beide gilt es, lächelnd auf die Zähne zu beißen: “Come to work each day willing to be fired!” [11]
Wie verarbeiten die verunsicherten Menschen in ihrem Bewusstein die Eintrübung der privaten Aussichten und der gesellschaftlichen Verhältnisse? Das bisher geltende Bild einer Betriebssportgruppe von Leistungsgläubigen wird von der gängigen Individualisierungsthese gestützt: Demnach laufen heute die alten, kollektiven Interessenorganisationen, die um das Lohnarbeitsverhältnis herum entstanden sind, ins Leere, während die Chancen und Risiken des individuellen Fortkommens wachsen. Die fröhlichen Farben dieses Bildes beginnen freilich abzustumpfen. Vor allem die Konkurrenz um die Verfügungsgewalt über sichere Positionen und ökonomische Macht wird schärfer. Wo die Mittelklassen sich im Netz aus Erfolgszwang und Versagensangst verstricken, kann ihr Denken verwirrende Züge annehmen.
Pessimistische Diagnosen betonen, dass die von Unsicherheit betroffenen Schichten stärker als je zuvor auf die individuelle Absicherung des angehäuften kulturellen Kapitals, auf den Zugang zu den Personal Networks setzen. Das könnte in der ängstigenden Alltagskonkurrenz eine Mentalität befestigen, der die alte Frage nach der sozialen Gerechtigkeit gleichgültig wird. Den latenten Sozialdarwinismus der bedrohten Mittelklassen lässt Ian McEwan in der flüchtigen Begegnung seines Middle-Class-Helden mit einem Arbeiter der Londoner Stadtreinigung aufblitzen: “Als die beiden Männer aneinander vorbeigehen, begegnen sich ihre Blicke, kurz und neutral. Einen schwindelerregenden Moment lang glaubt sich Henry mit diesem Mann verbunden, als säße er mit ihm auf einer Wippe, die jeden ins Leben des anderen kippen lassen könnte.” Aber der Mittelklassemann verdrängt seine Ängste, indem er die alte Frage der Gerechtigkeit, beklommen zwar und mit leisem Bedauern, gleich mit beiseite schiebt: “Die meisten Menschen neigen zu einer fatalistischen Haltung – wer zum Lebensunterhalt die Straße fegen muss, hat einfach Pech gehabt. Wir leben in keinem visionären Zeitalter. Die Straßen müssen gesäubert werden. Sollen sich die Pechvögel darum kümmern.” [12]
Das verheißt wenig Gutes. Vieles spricht dafür, dass die noch Bessergestellten mit dem Blick auf das, was sie verlieren könnten, die verschärften Regeln des kapitalistischen Erfolgsspiels zunächst besonders artig befolgen. Man zeigt sich, wie eine Studie über mittlere Manager darlegt, noch im betrieblichen Überlebenskampf so lange wie möglich von seiner “egoistisch-distinguierenden Seite.” [13]

Die optimistische Sichtweise könnte sich auf Befragungen in Deutschland stützen, die eine erstaunliche Beharrlichkeit der sozialstaatlichen Grundorientierung belegen. Demnach erwartet die arbeitnehmerische Mitte vom Staat nach wie vor eine soziale Bestandssicherung und verlässliche öffentliche Einrichtungen; unterhalb der Elite plädieren gut 80 Prozent der Menschen für das sozialstaatliche Modell der Bundesrepublik. Die stabile Bindung an das Leitbild des Gemeinwohls geht freilich mit einer ratlosen Hinnahme der gesellschaftlichen Wirklichkeit einher. Das ist gefährlich, denn eine Mentalität, die Interessenkämpfe meidet und Gerechtigkeit als bloße Dienstleistung empfindet, ist anfällig für autoritäre Lösungen, wenn der alte Lieferservice ausfällt.
Die soziale Polarisierung zwischen den und innerhalb der Klassen zeigt sich in zunehmen rabiaten Verkehrsformen. Bei den Eliten und Gewinnern der Mitte wirkt das familiär vererbte kulturelle Kapital machtstabilisierend. Es sichert den Einlass in die lukrativen Zonen des Arbeitsmarkts, samt fetten Prämien auf den Finanzmärkten der Eingeweihten und Ausgebufften. Dagegen erfahren die Aufsteiger, und zumal deren Kinder, die Wiederkehr jener Unsicherheit, die zu beenden der prosperierende Kapitalismus versprochen hatte.
Die Schockwelle, die nun auch Teile der Mittelklassen erreicht, mag aber auch wie ein reinigendes Gewitter wirken. Sie könnte der großen Illusion ein Ende bereiten, die im Goldenen Zeitalter das gesellschaftliche Bewusstsein der angestellten Mittelklassen an die Herrschaftsmentalität der eigentlichen Managerklasse band. Deren Macht gründete, wie es W. H. Auden in seiner poetischen Diagnose ausdrückte, in dem Wissen, “dass sie unter den ganz Wenigen sind, / Den Auserlesenen, / Denen, wenn’s wirklich schiefgeht, im letzten Flugzeug ein Platz / Sicher ist – hinaus aus der Katastrophe.” [14]
Derart elitäre Selbstgewissheit tritt bis heute in der Arroganz zutage, mit der auserwählte Topmanager sich über die Masse und das Gesetz erheben. Aber diese Haltung kann nach unten keine starken Loyalitäten mehr erzeugen. Dies ahnend, verkünden die Ackermanns den leistungswilligen Mittelklassen: Das alte Spiel, in dem jeder mehr oder minder gewinnen, aber niemand verlieren kann, ist endgültig aus. Berufliche Hingabe zählt nur noch im Maße ihres Beitrags zur Rendite.
Was ist zu erwarten, wenn die Menschen in der gesellschaftlichen Mitte aus dem meritokratischen Tagtraum erwachen? Wie berührt die Legitimationskrise des Sozialen die Interessen und Lebensvorstellungen derer, denen es vor Tische anders erzählt worden war? Den verwundbaren Mitgliedern der Mittelklassen bleiben, in Anlehnung an Hirschmans einleuchtende Alternative [15], nur zwei Wege: Abwanderung (exit) oder Widerspruch (voice). Den ersten wählt das isolierte Individuum, den zweiten das soziale Wesen, das sich mit ähnlich betroffenen Beschäftigtengruppen über gemeinsame Interessen verbunden weiß.
Der zweite Weg erfordert wenigstens den Anflug eines Willens, die Arbeitsverhältnisse und sich selbst zu verändern. Aber gerade in den Mittelklassen sind die Menschen zur individuellen Reaktion auf zwiespältige Lagen erzogen. Wenn Betrieb und Gesellschaft ihnen kalt ihre Entbehrlichkeit bescheinigen, trifft sie das hart und unvorbereitet. Die meisten blicken sehnsüchtig nach oben und eher verschreckt nach unten. So lange wie möglich versuchen sie, sich in der halb durchschauten Wirklichkeit einzurichten und die verschärften Positionskämpfe durchzustehen. Sofern die erzwungene Exit-Option zum Arbeitsamt, in die Frührente oder fingierte Selbstständigkeit führt, wollen sie kein Aufsehen erregen. In der ungewohnten Zone der Verwundbarkeit verhalten sie sich wie Lottospieler, die vom besser informierten Paten noch den todsicheren Tipp erwarten.

Der “Arbeitskraftunternehmer” setzt auf persönliche Netzwerke

In dieser Lage wundert es kaum, dass viele qualifizierte Arbeitskräfte ein kollektives Handeln nach gemeinsamen, um Beruf und Arbeit zentrierte Interessen als schädlich, unnütz oder jedenfalls wirkungslos empfinden. In der globalen, von Entprofessionalisierung bedrohten Arbeitswelt verlieren die durch Berufsstolz und Solidarität geprägten Haltungen und Aktionsformen an Kraft. Weil die ökonomiegetriebene Veränderungswut die Gruppen der Betroffenen ständig umsortiert und gegeneinander ausspielt, schwinden die Chancen solidarischen Handelns, das ein gewisses Maß an stetigen Beziehungen voraussetzt.
Die (noch) Begünstigten sichern ihren Positionsvorsprung, indem sie ihren Kindern Sprachkurse und teure Studiengänge im Ausland finanzieren, in persönliche Netzwerke einschleusen und auf jede sich bietende Startrampe schieben. Die Bedrohten sind mit dem Rest der Bevölkerung auf den öffentlich verrottenden, nunmehr kostenpflichtigen Bildungssektor verwiesen. Die neuen Spielregeln des Erfolgs setzen das Leistungsprinzip schrittweise außer Kraft, das freilich die Köpfe noch beherrscht. Das wiederum ist den Eliten nicht unwillkommen.
Der alte, typisch männliche Angestellte der Mitte war ein unschlüssiger Charakter, der sich nüchtern als Arbeitnehmer empfand, aber nicht im Gegensatz zum Unternehmen, solange dies seiner Leistung vertraute. Als typischer Experte konnte er fachliche Probleme weit besser durchschauen als seine eigene Lage. Das gilt bis heute und erst recht für den modernen “Arbeitskraftunternehmer”. Nach Erziehung und innerer Motivation ist er kaum imstande, auf die neuen Zumutungen der entgrenzten Arbeit mit der bescheidenen Unbedingtheit zu reagieren, die den Schreiber Bartleby in Melvilles Geschichte sagen lässt: “Ich möchte lieber nicht.” [16]
Weil die professionellen Mittelschichten weder eine belastbare Individualität erworben noch Solidarität erlernt haben, lassen sie sich durch das Unternehmen mit Haut und Haaren einverleiben. Gegen die modernen Verhaltensregeln ist kaum ein Überschuss an rebellischem Gefühl oder gar kollektives Handeln zu erwarten. Selbst ausgefeilte Selektionsspiele des Managements ertragen deren Opfer in einer “Haltung anmutiger Agonie”. [17] Das individuelle Schicksal der Gefährdung ist im Bewusstsein der betroffenen Mittelklassen kein öffentliches Problem; die betrieblich und gesellschaftlich bedingte Erfahrung der eigenen Ökonomisierung bleibt in der Regel privat, ja intim.
Wer wie das Gros der Ingenieure, Betriebswirte und Informatiker schon in der fachwissenschaftlichen Ausbildung gelernt hat, dass der Markt kalt, aber angeblich gerecht bestraft, wird sich von Gleichheit und Solidarität nicht viel erhoffen. Die Ökonomisierung der sozialen Beziehungen zieht solchen Ansprüchen und Handlungsformen enge Grenzen; sie fördert Ideologien der Ungleichheit, nach denen die Verlierer nur bekommen, was sie ohnehin verdienen. Wo das zur Besänftigung nicht reicht, unterbreitet unsere Spaßgesellschaft den Gefährdeten aller Klassen und Schichten das kostenpflichtige Angebot, sich den grauen Alltag mit banalen Träumen und Events zu verklären oder erträglich zu halten.
Gibt es also keinen Silberstreifen am Denkhorizont der Mittelklassen? Im Spiel mit kalten Regeln haben sie die Rolle des begreifenden Verlierers erst noch zu erlernen. Wie eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, herrscht eine politische Zwischenzeit. [18] So empfinden 83 Prozent der Bevölkerung die soziale Gerechtigkeit als wichtigsten zu bewahrenden Wert. Wie weit die Gesellschaft sich von ihm entfernt hat, zeigen allerdings zwei weitere Befunde: 65 Prozent reagieren auf die gesellschaftlichen Veränderungen mit Angst, und 61 Prozent stimmen der Aussage zu: “Es gibt keine Mitte mehr, sondern nur noch ein Oben und Unten.” Offenbar ist nicht die komplexe Realität der modernen Klassengesellschaft im Bewusstsein der Mittelklassen verankert, sondern vorderhand nur die lähmende Angst vor ihren scheinbar unerbittlichen Folgen.
Wie werden die Betroffenen auf das “gefühlte” Auseinanderdriften der alten Mitte antworten, auf die nicht mehr zu verdrängende Erkenntnis, dass ihnen im “letzten Flugzeug” kein Platz mehr sicher ist, wenn der unruhige Kapitalismus die gewohnten Erfolgsmuster der Strebenden und Verlässlichen ins Wanken bringt? Werden vor allem die qualifizierten Jüngeren, die in eine fremdbestimmt flexible Welt hineinwachsen, sich noch harmlos “postmaterialistisch” betragen? Oder vielleicht eher “postsozial”, indem jeder sich als Einzelkämpfer durchschlägt, als “Unternehmer seiner selbst”, wie es die neue Ideologie von ihm verlangt?

Noch bleibt die Idee einer gemeinschaftlich finanzierten Tätigkeitsgesellschaft in der öffentlichen Diskussion. Aber neue Konzepte, die dem “fordernden” Staat nicht nur den Besenwagen zur Entsorgung der Verlierer bereitstellen, hat noch keine soziale Partei entwickelt. Näher liegt deshalb der beunruhigende Gedanke, dass die zum Aufstieg verdammten wie die vom Abstieg bedrohten Fraktionen der Mittelklassen, ob alt, ob jung, denen da oben im alltäglichen Neid noch lange geduldig verbunden bleiben.
Im Gefängnis ihrer Versagensängste fällt es den Menschen schwer, die Regeln des kapitalistischen Kasinos – und nicht bloß das Elend der Politik oder die Gier der ganz Reichen – als Quelle ihrer drohenden Verluste und Niederlagen zu begreifen. So verbindet sich in den einzelkämpferischen Überlebenstechniken der Mittelklassen die verblassende Illusion der Selbstbestimmung mit einer politischer Apathie, der die abgehängten Mitglieder der Unterklassen noch einige kollektive Einsichten voraushaben. Der Selbstaufklärung in der Mitte der Gesellschaft ist der rachsüchtig auf herabstürzende Banker gerichtete “Blick nach oben” so wenig dienlich wie der Glauben, sich zum eigenen Nutzen aus nichtmarktlichen Bindungen lösen zu können.
Was aber sonst? “The best thing is to organize.” [19] Bob Herberts und Barbara Ehrenreichs abstrakt einsichtiger Rat an die Generation des White-Collar-Blues ist nicht leicht zu befolgen, weil in den wichtigsten Bereichen der entgrenzten Ökonomie die maßlosen Erträge der neuen Finanzeliten vom vertrauten Leistungsprinzip entkoppelt sind [20] und zugleich die Macht des Faktors Arbeit weiter schwindet. Aber anders geht es nicht.
Der doppelte Legitimationsverlust von Kapitalismus und Demokratie zwingt die noch intakten sozialen Bewegungen, den Bestand an Interessen neu zu bestimmen, der die Menschen in den Zonen der Exklusion und der Gefährdung verbindet. Eine gemeinsame Perspektive für die verwundbaren Klassen eröffnet sich erst dann, “wenn wir aufhören, uns mit der Chancengleichheit innerhalb eines vorgegebenen Spiels zu befassen und stattdessen ein brandneues Spiel verlangen.” [21] Ein Spiel, bei dem, wie beim Fußball, das Geschehen im Mittelfeld nicht unwichtig ist.


[«1] Guillaume Paoli, “Lasst euch nicht gehen. Weisheiten der Kampfkunst”, in: Carl Hegemann (Hg.), “Erniedrigung genießen. Kapitalismus und Depression III”, Berlin (Alexander) 2001, S. 75 f.

[«2] Barbara Ehrenreich, “qualifiziert & arbeitslos. Eine Irrfahrt durch die neue Bewerbungswüste”, München (Antje Kunstmann) 2006, S. 8.

[«3] Die historisch-kulturellen Unterschiede zwischen den amerikanischen (gewisse Blue-Collar-Berufe einschließenden), den französischen (employées und auch cadres umfassenden) und den deutschen (zumeist angestellten) Mittelklassen bleiben hier ebenso unberücksichtigt wie die Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Beschäftigungsformen.

[«4] Tim Egan, “No Degree, and No Way Back to the Middle”, in: “The New York Times, May 24, 2005.

[«5] Vgl. Robert Castel, “Das Verschwimmen der sozialen Klassen”, in: Joachim Bischoff u. a., “Klassen und soziale Bewegungen”, Hamburg (VSA) 2003, S. 7-17.

[«6] Jens Jessen, “Hauptstadt der Unterschicht”, in: “Die Zeit, Nr. 44, vom 26. Oktober 2006.

[«7] Moritz Ege, Tobias Timm, “Das Internationale Prekariat”, in: “Süddeutsche Zeitung vom 3. April 2006, S. 11.

[«8] Dazu die glänzenden Analysen in dem Sammelband: Stephan Lessenich, Frank Nullmeier (Hg.), “Deutschland – eine gespaltene Nation”, Frankfurt am Main/New York (Campus) 2006.

[«9] Vgl. Anne Daguerre, “Hartz IV international”, “Le Monde diplomatique, Juli 2005.

[«10] Vgl. Christian Scholz, “Spieler ohne Stammplatzgarantie. Darwiportunismus in der neuen Arbeitswelt”, Weinheim (Wiley) 2003.

[«11] “Intrapreneur’s Ten Commandments”, Ratschlag No. 8 der amerikanischen Beratungsfirma Pinchot & Company (2003).

[«12] Ian McEwan, “Saturday”, Zürich 2005, S. 104 f.

[«13] Karola Brede, “Leistung aus Leidenschaft?”, in: Arbeitsgruppe SubArO (Hg.), “Ökonomie der Subjektivität – Subjektivität der Ökonomie”, Berlin 2005, S. 227-251.

[«14] W. H. Auden: “Die Manager” (um 1950), in: “Gedichte – Poems”, Wien (Europa) 1973 (deutsch von Erich Fried).

[«15] Albert O. Hirschman, “Abwanderung und Widerspruch”, Tübingen (Mohr) 1974.

[«16] Hermann Melville, “Bartleby, der Schreibgehilfe. Eine Geschichte aus der Wallstreet” (1856), Zürich (Manesse) 2002, S. 26.

[«17] Richard Yates, “Ein Masochist”, in: “Elf Arten der Einsamkeit”, München (DVA) 2006, S. 97.

[«18] Rita Müller-Hilmer, “Gesellschaft im Reformprozess” (Friedrich-Ebert-Stiftung), Juli 2006.

[«19] Bob Herbert, “The White Collar Blues”. In: “The New York Times vom 29. Dezember 2003. Diesen Rat haben inzwischen Barbara Ehrenreich und andere mit der Gründung einer Organisation “United Professionals” aufgegriffen.

[«20] Sighard Neckel, “Gewinner – Verlierer”, in: Stephan Lessenich, Frank Nullmeier (Fußnote 8), S. 353-371.

[«21] Hans Georg Zilian, “Unglück im Glück. Überleben in der Spaßgesellschaft”, Graz/Wien (Styria) 2005, S. 219.


Ulf Kadritzke ist Professor für Soziologie an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin.

“Le Monde diplomatique nimmt am Zeitschriftenprojekt Documenta 12 magazines teil.

Le Monde diplomatique Nr. 8152 vom 15.12.2006, Seite 12-13, 626 Dokumentation, Ulf Kadritzke

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