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Titel: Ostdeutschland im Focus der Bundestagswahl 2005

Datum: 22. Juni 2005 um 12:56 Uhr
Rubrik: Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wahlen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Von Karl Mai, Stand: 21.6.05

Der Wahlkampf zum Bundestag im Herbst 2005 ist in der Anlaufphase – alle Parteien polieren ihre aktuellen Wahlprogramme auf. Welche Rolle kommt im Wählerentscheid dem regionalen „Unterentwicklungsproblem Ostdeutschland“ zu? Immerhin verkörpern die Ostdeutschen (mit Berlin) einen Anteil von ca. 20 % der Wählerschaft, so dass ihr Einfluss auf den Ausgang der Wahlen wiederum für alle Parteien in Ostdeutschland – wie schon zu früheren Bundestagswahlen – beträchtlich sein wird. Diese Parteien sind daher gut beraten, ihre Position zur Perspektive Ostdeutschlands zu klären und vorzutragen, um die kritische Wählergunst der Ostdeutschen zu gewinnen.

Zur Lagebeurteilung

Ein Ausblick auf die Chancen ostdeutscher Entwicklungswege ist daher gerade jetzt von besonderer Bedeutung. Die Lagebeurteilung ist nicht gerade rosig, wenn das Institut für Wirtschaftsforschung Halle seine jüngste Untersuchung zu Ostdeutschland tituliert „Originäre Wirtschaftskraft der neuen Ländern noch schwächer als bislang angenommen“ und dazu feststellt: „Das auf eigener Wirtschaftskraft (also nicht auf Transferleistungen) basierende BIP je Einwohner liegt bei den derzeitigen Bevölkerungszahlen selbst in den wirtschaftsstärksten Regionen Ostdeutschlands bei nur etwa 55 % des westdeutschen Durchschnittswertes.“
Die drohende Einschränkung von Transferleistungen, wie sie im Solidarpakt II angelegt ist und obendrein auch aus der EU-Finanzierungskrise resultieren kann, würde dementsprechend mit spürbaren Einschränkungen in der ostdeutschen BIP-Leistung einhergehen, solange und weil die hohe Transferabhängigkeit fortbesteht.

Dies besonders vor dem Hintergrund der massiven Versuche, die öffentliche breite Meinungsbildung gegen eine weitere Schließung der Ost-West-Schere in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und in den Lebensverhältnissen u. a. auch über die hierfür erforderlichen finanziellen Transfers zu mobilisieren. So schreibt Horst Siebert in seinem neuesten Buch „Jenseits des sozialen Marktes“, das als wirtschafspolitischer Kompass neoliberaler Kreise fungiert: „Die Nachfrage nach Transfers würde sich ebenfalls abschwächen, wenn die Ostdeutschen nicht den völlig irrealen Anspruch hätten, hundertprozentig das Westniveau erreichen zu müssen, und die Tatsache akzeptieren würden, dass sich nicht überall in der Bundesrepublik die gleichen Lebensverhältnisse durchsetzen lassen und nicht jede Ortschaft des Landes das gleiche Pro-Kopf-Einkommen haben kann.“ (S. 383)

Leider hat hier Siebert vermieden zu zeigen, wer derartige explizit formulierte Ansprüche angeblich im Namen „der Ostdeutschen“ in den letzten Jahren deklariert haben soll. Von Wolfgang Thierse wissen wir, dass er im Oktober 2001 folgenden realistischen Standpunkt vertreten hat: „Anzustreben ist aber ein Niveau von mindestens 80 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandprodukts pro Einwohner in den nächsten 10-15 Jahren, also eine Annäherungs- und Aufholtendenz, nicht ein Gleichstand.“ Ein Erreichen dieses Niveaus würde dann bedeuten, dass die ostdeutsche Region in die jetzige untere Streubreite westdeutscher Länder um deren Durchschnittszahl im BIP je Einwohner gelangt.

Die zitierte krasse Unterstellung eines „völlig irrealen Anspruchs“ wurde nicht nur von Siebert dazu missbraucht, die westdeutsche Stimmung gegen die ostdeutschen Hoffnungen auf eine aktive Struktur- und Entwicklungspolitik des Staates mittels Transfers zu mobilisieren. Waren doch die ostdeutschen Erwartungen an die rein marktwirtschaftlichen Chancen für den Angleichungserfolg Ost-West seit Jahren anhaltend enttäuscht worden, weil kein weiterer Fortschritt hierin erreicht wurde und sich auch die Schrödersche „Chefsache Ost“ im Kern als Flop erwies.

Hinweise aus der Politikberatung durch Wirtschaftsexperten

Im letzten Jahresgutachten 2004/2005 hatte der Sachverständigenrat (SVR) bereits der Bundesregierung einen modifizierten Maßstab für die zukünftige Entwicklung vorgegeben:

„Die wirtschaftspolitische Aufgabe besteht demnach (weiterhin) darin, die ökonomischen Nachteile der neuen Bundesländer durch die unterschiedliche Entwicklung der beiden Gebietsstände in der Zeit vor der Vereinigung auszugleichen und Bedingungen für eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dagegen sollte die Wirtschaftspolitik nicht danach streben, einheitliche oder auch nur gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herstellen zu wollen. Dies ist auch kein Verfassungsgebot.“ (J.G. Ziff. 614, Hervorhebung von mir – K. M.)
Das Grundgesetz fordert zwar ausdrücklich von der föderalen Finanzausgleichspolitik, „dass die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird“ (GG Artikel 106, Abs. 3, Pkt. 2), aber dies kann der SVR unwidersprochen ignorieren.

Es ist bemerkenswert, dass es angeblich nur um einen Ausgleich für „die unterschiedliche Entwicklung der beiden Gebietsstände in der Zeit vor der Vereinigung“ geht, während die tiefe De-Industrialisierung durch die Treuhand-Ära (1991-1994) ignoriert wird, gleichzeitig aber suggeriert werden soll, dass das früher erreichte DDR-Niveau vor 1989 immer noch als aktuelle Ursache für den Ost-West-Rückstand gelte. Diese apologetische Sichtweise des SVR wird ergänzt durch die folgende Feststellung: „Dagegen sollte die Wirtschaftspolitik nicht danach streben, einheitliche oder auch nur gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herstellen zu wollen. Dies ist auch kein Verfassungsgebot.“(!)

Damit ist im aktuellen SVR- Jahresgutachten definitiv die Aussage gegen einen weiteren Ost-West-Angleichungsprozess als Politikempfehlung an die Bundesregierung vorgetragen. Unbekümmert argumentiert der SVR gegen die oben zitierte wörtliche Bestimmung des GG Artikel 106, Abs. 3, Pkt. 2. Zwar zitiert der SVR in diesem letzten Jahresgutachten dann auch den präzisen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2002, wonach ein Eingreifen der Bundesregierung erst geboten ist, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesdeutsche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.“ (S. 637) Dies würde sich erst längerfristig voll im politischen Bewusstsein niederschlagen, und vorerst sieht der SVR keinen wirklichen Handlungsbedarf. Dabei bleibt allerdings offen, wie sich später der eingetretene größere Rückstand unter neoliberalen Rahmenbedingungen überhaupt vermindern könnte.

Der Verzicht auf eine weitere Angleichung der Lebensverhältnisse wird auch von Deutsche Bank Research „begründet“: Die vorgelegte Studie vom 10. 11.2004 vermeldet: „Das langfristige Wachstumspotenzial der östlichen Bundesländer liegt aufgrund demografischer Faktoren spürbar unter demjenigen der westlichen Bundesländer.“ Dies schließt einen künftig weiteren Angleichungsprozess in der BIP-Leistung je Kopf natürlich aus. Und: „ Der Lebensstandard wird zwar weiterhin zunehmen, aber der Abstand zum Westen dürfte anwachsen.“ (S. 1)

Und: „Die divergierenden Entwicklungen des Wachstumspotenzials führen in unserem Basisszenarium, das konstante Erwerbspersonenquoten für die Bundesländer unterstellt, dazu, dass das BIP pro Kopf in Ostdeutschland bis 2020 von derzeit 64,5 % auf 60 % des Westniveaus sinkt (unter der Annahme gleicher Wachstumsbeiträge von Kapital und technischem Fortschritt in Ost und West). …“ „ Damit würde Ostdeutschland bis 2050 wieder auf das Niveau von Mitte der 90er Jahre zurückfallen.“ (S. 44)

Statt weiterer zügiger Angleichung wird ein schwerer Rückschlag in der wirtschaftlichen Ost-West-Konvergenz prophezeit, dem aus Sicht der Autoren nichts entgegen gesetzt werden kann. Nachdem so die „wissenschaftliche Politikberatung“ den Boden für den Verzicht auf eine weiter Angleichung der Leistungsfähigkeit und der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West explizit deklariert hat, kommt der vorgebliche „irreale Anspruch“ (Siebert) der Ostdeutschen als generell abwegig heraus. Natürlich bestünde dann auch keine Notwendigkeit, in einem Wahlprogramm für 2005 von diesen ausgewiesenen Politikberatern abzurücken und eine optimistische Änderung der volkswirtschaftlichen Ost-West-Diskrepanzen der Entwicklung anzugehen.

Eine Zukunftsfrage für Ostdeutschland

Es ergibt sich somit die grundsätzliche Frage, ob und wie bei weiter erschwerten Binnenmarktzugangs- und Wettbewerbsbedingungen Ost, bei schrumpfender Wohnbevölkerung und schrumpfender realer Massenkaufkraft, bei Fortgang der hohen Unterbeschäftigung Ost und der dramatischen Folgen der öffentlichen „Sparmaßnahmen“ eine Wende zu höherem regionalem Wachstum Ost erreicht werden könnte, um den Angleichungsprozess wieder spürbar voranzubringen. Die zitierte Politikberatung hat sich von dieser Fragestellung befreit.

Eine Erweiterung des ostdeutschen Binnenmarktes durch verbrauchswirksame regionale Mehreinkommen ist nicht in Sicht, da weder die Lohnentwicklung noch die Sozialeinkommen künftig auf einen hinreichenden oder garantierten Inflationsausgleich und auf „sozialgerechte“ Teilhabe am erreichbaren Produktivitätsfortschritt ausgerichtet sein dürften. Die ostdeutschen Landesregierungen stehen in einem destruktiven Wettbewerb um den radikalen Abbau von Tausenden ihrer Beschäftigten. Auch die wenigen ostdeutschen Großunternehmen fahren fort, ihren Renditeerfolg aus Zahlen des Personalabbaus abzuleiten. Im staatsabhängigen Sektor der Regionalwirtschaft tritt die rigorose „Sparpolitik“ hinzu, die insbesondere auf ostdeutscher Landesebene ihren Schlagschatten wirft durch Verringerung von öffentlichen Aufträgen an die privaten Unternehmen.

Die neoliberalen Rezepte wie z. B. generelle Fixierung des Lohnanstiegs unter die Inflations- und Produktivitätsrate, Ausweitung des Niedriglohnbereiches, Senkung der Stundenlöhne bei Auflösung der Tarifbindungen („Flexibilisierung“), Abbau der Sonderzahlungen (Weihnachts- und Urlaubsgeld), Druck auf die Verlängerung der Wochenarbeitszeit sowie Senkung der direkten Steuern und Sozialabgaben rieseln aus allen Medien auf die Bürger herab.
Für die ostdeutschen Bundesländer wird angeraten, die faktische Lohndifferenz zu Westdeutschland im Interesse der höheren Wettbewerbsfähigkeit zu akzeptieren. Dies ging bis zur extremen Forderung von Prof. Hans-Werner Sinn, dem „Rammbock“ der Neoliberalen, auch die ALG-II- Zahlungen noch weiter um ca. ein Drittel (gegenüber dem derzeitigen Stand) zu reduzieren.

Zu den zählebigen Vorschlägen für eine Belebung der ostdeutschen Investitionslandschaft zählt zweifellos das Fixieren der Lohndifferenz Ost zu West, was sich längst zum absoluten Schwerpunkt „Niedriglöhne Ost“ gemausert hat. Obgleich bislang die Lohndrift nicht zu einem durchgreifenden Erfolg für die externe Investitionsneigung in den neuen Bundesländern geführt hat, wird unverdrossen die ideologisch motivierte Lohnkostensenkung trotzdem verfochten. Jede weitere Aufwertung des Euro gegenüber dem USA-Dollar soll durch verstärkte Lohndrückerei ausgeglichen werden.

Die Kehrseite der Friktion des Binnenmarktes bilden die hohen und wieder steigenden deutschen Exportüberschüsse sowie die rapide zunehmenden jährliche Netto-Geldvermögen der Großkapitalbesitzer, die auf den globalen Markt fließen. Die Expansion des deutschen Finanzkapitals steht im Mittelpunkt der faktischen Interessen der bisherigen Bundesregierung, selbst wenn dies offiziell verhüllt wird. Dementsprechend gab es keinen nationalen Impuls dafür, die Kapitalüberschüsse stärker in die ostdeutsche Wertschöpfung zu lenken und die Ost-West-Angleichungsdifferenz forciert zu vermindern.

Die Nutzung ostdeutscher Potenziale wird derzeit vorrangig als „Innovationsoffensive“ der Bundesregierung angepriesen. Nach der Dezimierung der ostdeutschen F-& E-Basis in der Treuhand-Ära wurde zuletzt im universitären und staatlichen Bereich angestrebt, eine leistungsfähigere F-& E-Struktur wieder aufzubauen und mit der privaten KMU-Industriebasis zu vernetzen. Jedoch die F-& E-Kapazitäten in den KMU-Unternehmen selbst sind in Ostdeutschland zahlenmäßig immer noch zu schwach und sogar wieder rückläufig, die eingesetzten Mittel je Mitarbeiter im F- & E-Bereich sind hier halb so hoch wie in Westdeutschland und der finanzielle Unternehmensaufwand im F-& E-Bereich erreicht gerade ca. drei Prozent des vergleichbaren westlichen. Die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen F-& E-Landschaft liegt daher insgesamt absehbar weit unter der westdeutschen, die sich zudem überwiegend in den Großunternehmen und Konzernzentralen konzentriert.

Während westdeutsche Kapitalüberschüsse ins Ausland abfließen, besteht in der ostdeutschen Unterentwicklungsregion ein rückläufiges Niveau der regional externen privaten Ausrüstungsinvestitionen; während ostdeutsche Arbeitskräfte nach Westdeutschland abwandern und dort das BIP-Wachstum erhöhen, wird in Ostdeutschland ein Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und eine ansteigende Arbeitslosigkeit mit hohen Ausfällen an Wertschöpfung „marktgerecht“ zugelassen. Die ostdeutsche Kapitalproduktivität ist im Industriebereich rückläufig. Im Ergebnis ist ein weiteres Auseinanderklaffen der Entwicklungsschere abzusehen, selbst wenn es zu einer leichten Zunahme des absoluten Ost-BIP je Kopf weiterhin kommt.

Die politisch formulierte Wegweisung zur „Entfesselung“ von endogenen Potenzialen Ost wird in fundamentaler Weise durch die verordnete Fiskalpolitik zur öffentlichen Haushaltssanierung konterkariert. Die negative „Multiplikatorwirkung“ der sinkenden öffentlichen Bauinvestitionen der ostdeutschen Gebietskörperschaften infolge ihrer „Konsolidierungen“ auf der Haushaltsebene ist ein gravierender Faktor, dessen regionalwirtschaftliche Wirkung noch weiter zunehmen wird. Der hierdurch implizierte Verlust an Wachtumspotenzial kumuliert sich in der Periode der Rückführung und des Abbaus der Staatsverschuldung in enorme Dimensionen. Statt weiterem Ausbau der öffentlichen Infrastruktur ist mit zunehmendem Rückbau derselben in den abwanderungsbetroffenen Wohngebieten Ost zu rechnen, der die zu geringen Finanzmittel im Infrastrukturbereich zusätzlich binden wird.

Das wird insgesamt zu ambivalenten Auswirkungen führen und dazu beitragen, die bevölkerungsmäßige „Entleerung“ der wirtschaftlichen Verödungszonen zu beschleunigen. Ist erst einmal eine Subregion an den Rand der Verödung gedrückt, kann eine graduelle Verschärfung der Lage sehr schnell in eine neue Qualität der Depravatation umschlagen: Schulen, öffentliche Dienstleistungen, Verkehrsanbindungen und Versorgungsbetriebe verkümmern oder ziehen sich zurück, die Kosten von Wasser- und Abwasserbereitung, Müllabfuhr usw. steigen bedrückend. Die Altenbetreuung wird zunehmend schwieriger. Das Absinken der Lebensqualität besiegelt das Schicksal ländlicher Verödungszonen, weil und insofern auch der Tourismus keinen Ausgleich bieten kann.

Die vorgesehene Konzentration der Wirtschaftsförderung auf „Kernzonen“ wird zunehmend durch den fortgesetzten demographischen Rückgang der ostdeutschen Wohnbevölkerung vermindert oder verhindert. Es ist durch nichts bewiesen, dass sich starke wirtschaftliche Agglomerationen in einer umgebenden Großregion mit sich permanent „verdünnender“ Wohnbevölkerung überhaupt bilden könnten.

Berücksichtigt man die zu erwartende Absenkung der investiven Transferzahlungen ab 2008 (Regression der Mittel im Solidarpakt II, Korb 1) und die zu erwartenden Einbußen aus den EU-Fördertöpfen für Ostdeutschland, dann zeigt sich der überhöhte Optimismus für eine „Entfesselung“ endogener regionaler Wachstumspotenziale unverfälscht. Vorliegende Experten-Projektionen zur künftigen Entwicklung der Haushaltseinnahmen z. B. in Mecklenburg-Vorpommern erfordern zwingend bis zum Jahre 2020 hohe weitere Personalreduzierungen und effektive Verminderungen bei öffentlichen Investitionen. (Siehe: „IWH-Benchmarkstudie“ vom 31.1.2005)

Zum ostdeutschen Entwicklungsweg

Die eigentliche Kernfrage ist, ob die ostdeutsche Unterentwicklungsregion relativ (zu Westdeutschland) im BIP-Wachstum längerfristig mithalten oder sogar aufholen könnte.
Für einen echten Aufholprozess (β-Konvergenz) wäre eine langjährig überflügelnde Wachstumsrate Ost gegenüber West die zwingende Voraussetzung. Dies ist nach den obigen Gegebenheiten nicht zu erwarten. Selbst ein bloßes relatives „Mithalten“ ist nicht allein konjunkturell determiniert, sondern regionalwirtschaftlich weitgehend fraglich bzw. unbegründet, wenn man die strukturellen und fiskalischen und demographischen Faktoren der Region wichtet. Die Innovationsoffensive Ost allein wird bestenfalls ein noch schnelleres Auseinanderklaffen der Ost- zu den West-BIP-Leistungen zeitweilig begrenzen können.

Damit ist selbst bei Eintritt einer günstigeren Binnenkonjunkturlage der westdeutsche Fortschritt im BIP-Wachstum relativ kaum zu erreichen, geschweige etwa lang anhaltend zu überflügeln. Es stellt sich dann ein Entwicklungspfad ein, der bezüglich der absoluten BIP-Leistung je Kopf der Wohnbevölkerung generell unterhalb des westdeutschen verläuft. Der politisch lange beschworene Konvergenzprozess Ost-West ist damit objektiv unmöglich, und die aktuelle Politik vollzieht ihre Wende in der Deutungshoheit mit der Feststellung, „dass es immer Entwicklungsunterschiede in Deutschland gab“ – die Kernfrage ist aber, wie groß diese Kluft als gesellschaftlich tolerabel gelten kann. Hierzu gibt es keinen Konsens in der deutschen Politik.

Die marktwirtschaftliche Forcierung des Wachstums der ostdeutschen Region steht und fällt mit der deutlichen Erhöhung der privaten Investitionsneigung vor allem externer Investoren in die Wertschöpfung, mit Schwerpunkt Exportwirtschaft Ost. Es gilt hierbei, das aktuelle Engagement in den externen Ausrüstungsinvestitionen mindestens zu verdreifachen. Findet sich dieser Lösungsansatz nicht durch enge Kooperation von Wirtschaft und Strukturpolitik, können die hohen Transfers West-Ost später nicht durch regionale Finanzierungsquellen abgelöst werden – Ostdeutschland bleibt fernerhin „am Tropf“.

Ist damit Ostdeutschlands Schicksal als „Mezzogiorno“ einer weiteren Retardierung durch die globalen Marktkräfte zu verhindern? Diese Wahrscheinlichkeit ist nach Expertenmeinung eher gering. Jedoch liegen die mittelfristigen und langzeitlichen Projektionen vieler Experten zumeist rückblickend falsch. Welche generellen wirtschaftspolitischen Konsequenzen erwachsen hieraus für die kommende Periode bis zum Jahre 2020? Die Wirtschaftsforscher sind sich einig: es gibt keinen „Königsweg“ aus dem ostdeutschen Dilemma.

Das verbleibende Ziel bis 2008/2010 kann nur noch darin bestehen, den künftigen ostdeutschen Wachstumsverlauf möglichst dicht an den westdeutschen heranzuführen sowie die Abwanderung von Humanpotenzial vom ostdeutschen Arbeitsmarkt zu drosseln und die akute Haushaltsmisere der ostdeutschen Länder zu verringern. Höhere Ziele lassen die derzeitigen Rahmenbedingungen kaum zu. Die investiven staatlichen Transfers West-Ost müssen für diesen Zeitraum stabilisiert werden, einschließlich des föderalen Finanzausgleichs. Die regionale Strukturpolitik der Länder wird ein Maximum leisten müssen, um durch externe und interne private Investitionen auch im Wertschöpfungsbereich die letzten Chancen zu mobilisieren. Hierfür gibt es aber weder neuartige noch geheime „Rezepte“, die nicht schon längst genutzt sind – jedoch mit unzureichendem Erfolg.

In der Zeit nach dem Jahre 2008/2010 treten massiv negative Faktoren auf, wie z. B. zunehmend rückläufige Haushaltseinnahmen der ostdeutschen Länder und Gemeinden, sprunghafte Nachwuchsengpässe auf dem Arbeitsmarkt bei jungem Fachpersonal, dramatische Folgen der „demografischen Falle Ost“ bei der Überalterung, sich kumulierende Effekte beim Rückgang der Massenkaufkraft infolge Verschiebungen in der Altersstruktur, dramatische subregionale Verödungsprozesse in breitem Ausmaße.

Die Politiker und ihre Experten sind entweder nicht willens oder völlig ratlos, diese negativen Auswirkungen bzw. Perspektiven abzuwenden. Daher bleibt den Bürgern der ostdeutschen Unterentwicklungsregion gar keine andere Wahl als den politischen Kampf gegen das innerdeutsche Zurückbleiben aus wirtschaftlichen Überlebensgründen weiter zu führen und die Politiker in diese nationale Pflicht gemeinsamer Verantwortung einzubinden. Dies wäre jetzt die besondere nationale Aufgabe für Wahlprogramme derjenigen Parteien, die auf einem maximalen Zuspruch aus der ostdeutschen Wählerschaft angewiesen sind und die ein tragisches ökonomisches uns soziales Auseinanderdriften innerhalb Deutschlands verhindern wollen.

Das Ziel kann jedoch nicht in einer rapiden neoliberalen Umwandlung der ostdeutschen Regionalwirtschaft in eine durchgängige Niedriglohnzone mit Billigjobs ohne arbeitsrechtlichen Mindestschutz, in eine „Spielwiese“ marktradikaler Akteure und Hasardeure, in ein Ghetto verarmter Empfänger von sozialen Transferleistungen und galoppierender Differenzierung der Einkommen bestehen. Der Prozess der fiskalischen Verarmung muss ebenso aufgehalten werden wie die Verödung und der Exodus subregionaler Humanpotenziale. Dieses nationale Ziel sollte der Maßstab für die jetzt anstehenden Wahlprogramme der Parteien bilden.


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