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Titel: Die Verkehrung der Welt in mehreren Akten (1/3)

Datum: 14. Juli 2014 um 15:50 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Finanzkrise, Interviews, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Karl-Heinz Klär[*] am 12. April 2014 im Gespräch mit Kuno Rinke über den Finanzkapitalismus, die Krise der Europäischen Union und die Übertölpelung der jungen Generation. Grundlage des Gesprächs ist der Artikel „Die GroßeMittelKlasse“, den Karl-Heinz Klär am 7. Februar 2013 auf den NachDenkSeiten veröffentlicht hat. Aufgrund der Länge haben wir das Gespräch, das auch in der Zeitschrift „Politisches Lernen“ erschienen ist, in drei Folgen unterteilt. Der zweite und der dritte Teil werden morgen bzw. übermorgen auf den NachDenkSeiten erscheinen. Von Jens Berger.

  1. Klassengesellschaft

    Herr Klär, Sie sind Sozialdemokrat, waren 20 Jahre rheinland-pfälzischer Staatssekretär und zuletzt in der parlamentarischen Versammlung des Ausschusses der Regionen der Europäischen Union Fraktionsvorsitzender der dort vereinigten Linken und Grünen. 2011 sind Sie ausgeschieden, Anfang 2013 wieder aufgetaucht in den NachDenkSeiten mit einem linksradikalen Essay zur politischen Ökonomie der Bundesrepublik. Kann man dem Vorgang für das politische Lernen etwas abgewinnen?

    Ich möchte es ungern ausschließen.

    Warum im Februar 2013 “Die GroßeMittelKlasse” und dann auch noch so geschrieben?

    “GroßeMittelKlasse” ist kein Begriff, sondern ein doppelbödiges Sprachspiel, darauf verweise ich durch die Schreibweise. Den Text musste ich politisch loswerden. Linksradikal kann man ihn nicht nennen.

    Wie sonst?

    Radikal und nonkonformistisch, damit wäre ich einverstanden.

    Aber dass Sie links stehen, bestreiten Sie nicht.

    Nein, auch nicht die Herkunft aus der Arbeiterklasse oder die Abneigung gegen die Durchkapitalisierung der Welt. Nur, deswegen ist der Text nicht linksradikal.

    Sie beginnen Ihren Essay immerhin mit dem Klassenkampf.

    Ich beginne mit dem Klassenkampf, weil ich ohne Umschweife auf den Kern der anschließenden Betrachtung hinaus wollte: die Auseinandersetzung um die Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts in Zeiten des Wachstums und die Verteilung der individuell zu tragenden Lasten in Zeiten der Krise. Wie man die Auseinandersetzung konkret nennt, ist zwar nicht gleichgültig, aber auch nicht entscheidend. Es zählt der Umstand, also der Konflikt zwischen einander widerstreitenden, unterschiedlichen Interessen. Mir ging es darum, diese Tatsache festzuhalten.

    Am Begriff des Klassenkampfs hängen Sie nicht?

    Nein, ich halte ihn sogar aus mehreren Gründen für misslich Einen deutlichen Sinn hätte der Begriff, wenn die Erwartung des Kommunistischen Manifests von 1848 eingetreten wäre: zwei antagonistische Klassen gegeneinander und Punkt. Das ist aber nicht geschehen, weder im 19. Jahrhundert noch seither. Darum gelingt es auch nicht, mit den alten Worten die Wirklichkeit und den Konflikt um das gesellschaftliche Mehrprodukt heute so zu beschreiben, dass die Leute es ohne weiteres verstehen.

    Sie sagen: aus mehreren Gründen …

    Ja, ich denke zusätzlich an die Instrumentalisierung von Begriff und Praxis: Verteufelung hier, Überhöhung da.

    Für die bürgerliche Welt war „Klassenkampf“ immer das Ende der Fahnenstange. Theoretisch wurde er stets geleugnet, propagandistisch und praktisch aber energisch ausgefochten, sobald es sich anbot. Die linkssozialistische und die kommunistische Arbeiterbewegung haben den Klassenkampf als Motor des gesellschaftlichen Fortschritts und als Weg zur klassenlosen Gesellschaft verherrlicht, aber meist nur mit Worten geführt – auch eine selbstbewusste Arbeiterklasse mag ja nicht jeden Tag kämpfen und schon gar nicht jeden Tag ums Ganze.

    Schaut man genau hin und bewertet den historischen Befund, dann hat das Gewese um den „Klassenkampf“ die Emanzipation der arbeitenden Klassen, die Demokratisierung und den gesellschaftlichen Fortschritt eher nicht befördert.

    Wenn nicht das Gewese, also die Rhetorik, dann aber doch die Tatsache?

    Klar, die tatsächliche Auseinandersetzung um das Mehrprodukt oder die Lastenteilung entscheidet doppelt über die Entwicklung des Gemeinwesens: einmal durch die Formen, in denen sie ausgetragen wird, sodann durch die Ergebnisse. Je erbitterter die Gefechte und je willkürlicher die Resultate, umso geringer in der Regel der gesellschaftliche Nutzen. Und umgekehrt: Manche Hebung in der Lage der arbeitenden Klassen kam historisch zu Stande, weil die Fratze des Elends auch den Wohlhabenden unerträglich geworden war.

    Sie sprechen mit Blick auf die Gegenwart von Paradoxien wie „Arbeitskräfte als Aktionäre ihrer selbst“ oder „Angestellte als Herren der Angestellten“. Das darf man so verstehen, dass Sie ungeachtet Ihrer Kritik nach wie vor in dem klassischen Kontext von Kapital und Arbeit argumentieren?

    Ja. Die Paradoxien in der Darstellung erschienen mir jedoch zwingend nötig. Ginge es bei den Konflikten um ein anständiges Leben der großen Zahl für die Bedürftigen nur um einen Kampf gegen die Superreichen und deren Anhang, dann wären Fortschritte einfacher zu erzielen. Stattdessen hat die Auffächerung der arbeitenden Klassen zu dem bemerkenswerten Ergebnis geführt, dass im zeitgenössischen Kapitalismus die schärfsten Widersacher der abhängig Beschäftigten oft genug abhängig Beschäftigte sind.

    Sie spielen auf das angestellte Management von Wirtschaftsunternehmen an?

    An dieser Stelle ja, doch es gibt auch im Staatsdienst zahlreiche Beispiele und das nicht nur an den Universitäten. Aber nehmen wir eine große deutsche Aktiengesellschaft aus meiner Nähe. In ihr haben der Pförtner und der Vorstandsvorsitzende beide Arbeitsverträge und beide halten Aktien des Unternehmens, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, beide sind also Teileigentümer, „Aktionäre ihrer selbst“, insofern Gleiche. Bei einer abstrakt juristischen Betrachtungsweise könnte jemand sogar auf den Gedanken kommen, der Pförtner genieße einen Vorteil, weil er, anders als der oberste Chef, einen unbefristeten Vertrag habe …

    … was ja vermutlich stimmt …

    So ist es. Aber die Betrachtungsweise hätte gleichwohl etwas Weltfremdes, um nicht zu sagen: Obszönes. Der Vorstandsvorsitzende verdient ein Hundertfaches von dem, was der Pförtner mit nach Hause nimmt. Wenn er Mist baut und das Unternehmen ins Schleudern gerät, verliert der Pförtner seine übertariflichen Leistungen oder gar den Job und seinen bescheidenen Lebensunterhalt, der oberste Chef springt notfalls mit einem goldenen Fallschirm ab. Von seinem Vorbild, dem persönlich haftenden Eigentümer hat der angestellte Manager nur die hohen Einkünfte übernommen, nicht aber das Risiko. Bei groben Fehlern tritt die Managerhaftpflichtversicherung ein – und wer hat die Prämien bezahlt? Richtig, das Unternehmen. Dieser Kapitalismus verströmt einen strengen Geruch.

    Sie trauern dem 19. und 20. Jahrhundert und den damaligen Eigentümer-Kapitalisten nach?

    Nein, ich sage: Eine Produktionsweise, die wieder dahin gekommen ist, den Oberen so gut wie alle Vorteile und den Unteren so gut wie alle Risiken zu bescheren, wird an der Demokratie scheitern – oder sie wird die Demokratie scheitern lassen. Unternehmer, die anständig mit ihren Beschäftigten und den Gewerkschaften umgehen, waren gestern respektabel und sind es heute.

    Scheitern oder scheitern lassen – was ist Ihre Prognose?

    Einige kritische Betrachter halten die Frage ja bereits für beantwortet, sie reden nicht mehr von Demokratie, sondern bloß noch von Postdemokratie. Ich bin unschlüssig und Dialektiker. Ich sehe deutlich die Untergrabung der Demokratie im Gefolge der Durchkapitalisierung aller gesellschaftlichen Sub-Systeme, aber ich sehe auch, dass der zeitgenössische, dem Finanzkapital anverwandelte Kapitalismus mit seinen eingebauten Torheiten die eigene Legitimation untergräbt. Und dann wirkt die seit langem zunehmende extreme Ungleichheit der Vermögensverteilung sich sehr ungünstig auf das Funktionieren saturierter Volkswirtschaften aus und verschärft die allfälligen zyklischen Krisen.

    Also die Alternative ist Ihres Erachtens nicht entschieden, sie steht weiterhin?

    Ja, finde ich. Auch wenn das gesellschaftliche Gefüge Anfang des 21. Jahrhunderts in den OECD-Ländern sehr verzwickt ist, so bildet es doch Klassengesellschaften ab, die nach wie vor primär durch die Mechanismen und Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise bewegt werden. In den Köpfen kann das bis zu einer Verkehrung der Welt führen. Aber diese Verkehrung lässt sich nicht stabilisieren, sie wird immer wieder einmal emotional oder kognitiv durchbrochen, dann steht plötzlich der Kaiser ohne Kleider da, Alternativen geraten in den Blick und werden politisch verfolgt. Darum denke ich: kein Ende der Geschichte, auch kein Ende des gesellschaftlichen Fortschritts in Sicht.

    Geschichtsphilosophie ist das nicht?

    Nein, mein Fortschrittsbegriff ist ganz von dieser Welt. Im Alltag demonstriere ich ihn gern am Wäschewaschen seit 1950, politisch an der Veränderung der deutschen Verhältnisse seit dem Kaiserreich. Strukturell gleich geblieben ist das Kraftwerk, das die gesellschaftliche Reproduktion bestimmt, sie antreibt und erweitert. Das ist die kapitalistische Produktionsweise.

    Sie begründen diese These mit anhaltend „Arbeiten und arbeiten lassen“ als den beiden widersprüchlichen Praktiken, die den Kapitalismus ausmachen. Aber Eigentümer und Manager arbeiten doch auch, oder?

    Wir dürfen es annehmen. Ihre Einkünfte und Gehälter hängen indes von dem Wertprodukt ab, das jene schaffen, die sie arbeiten lassen. Die Vertragsfreiheit der Arbeitenden darf nicht den Blick auf das Herrschaftsverhältnis verstellen, das Kapital und Arbeit, Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindet.

    In diesem Punkt lassen Sie nicht mit sich reden?

    Nein. Die Vorstellung, dass die Arbeit des Eigentümers oder des Managers hundert, tausend oder hunderttausend Mal mehr wert sei als die Arbeit des Gärtners, der Sekretärin oder des IT-Spezialisten und daher eine Überordnung rechtfertige, ist doch bloß albern. Was wären die Großverdiener ohne die Arbeit und den Konsum ihrer Leute? Jedenfalls keine Großverdiener.

    Großverdienende Spieler ausgenommen …

    … ja, Spieler in der Definition meines Essays ausgenommen.

  2. Finanzkapital

    Die Ungleichheiten, die nach dem 2. Weltkrieg lange auf relativ niedrigem Niveau stabil waren oder sogar abnahmen, nehmen seit über 30 Jahren wieder zu, Finanz- und Wirtschaftskrisen häufen sich und werden ärger, auch das Wachstum ist über den konjunkturellen Zyklus hinweg allein dort noch ansehnlich, wo viel nachzuholen ist. Gleichwohl wird der Kapitalismus nicht in Frage gestellt. Können Sie das erklären?

    Erst mal möchte ich Ihre Lagebeschreibung bekräftigen. Die empirischen Daten lassen selbst überzeugte Anhänger der großen Plusmacherei vor dieser Bilanz von 35 Jahren Neoliberalismus verstummen. Ich zweifele aber, ob man bei globaler Betrachtung sagen kann, der Kapitalismus werde nicht in Frage gestellt.

    Wer tut es denn?

    Wahr ist, dass es in kaum einem OECD-Land gesellschaftliche Kräfte von Bedeutung und Einfluss gibt, die die kapitalistische Art des Wirtschaftens prinzipiell zurückweisen und glatt abschaffen wollen. Doch hinter diesem Befund verbergen sich eher selten Zuneigung und Begeisterung für den kapitalistischen Betrieb. Vorherrschend ist eine gewisse Gleichgültigkeit, und häufig rührt diese aus Resignation: Was soll man machen…? Es gibt in der OECD eben kein wirklich anschauliches und anziehendes Gegenstück zur kapitalistischen Produktionsweise, ja, nicht einmal einen attraktiven Gegenentwurf.

    Andererseits ist die aktuelle, von einem wild gewordenen Finanzkapital geprägte Variante des Kapitalismus nach der Finanzkrise von 2007-2008 weltweit unter Beschuss geraten und wird seitdem gestutzt, wenn auch nicht überall gleich vehement und insgesamt nicht hinreichend.

    Sie meinen, die erneuerte Regulierung der Finanzwirtschaft werde auf einen besseren Kapitalismus hinauslaufen?

    Wenn sie seriös gelänge, wäre ein großer Schritt dahin getan, und es gäbe keinen Grund zur Klage. Wir hatten schließlich im Westen nach dem 2. Weltkrieg drei Jahrzehnte lang einen für die Allgemeinheit besseren Kapitalismus als den neoliberalen Mist seit Ende der 70er Jahre. Es ist bewiesen, dass es geht.

    Wer möchte denn dahin zurück?

    Große Mehrheiten in nahezu allen OECD-Ländern – auch in den USA – möchten das. Aber sie möchten nicht „zurück“. Wer möchte schon in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück, als es keine Handys, kein Internet und keine Zahnspangen gab?

    Sie zweifeln also am Erfolg des von Ihnen behaupteten Mehrheitswillens?

    Sagen wir so: Ich mache mir keine Illusionen über die enormen Ressourcen, die das Finanzkapital weltweit einsetzen kann, um seine Stellung zu bewahren. Ein Hinweis nur: Bei der erneuerten Regulierung der Finanzmärkte geht es seit 2009 fast ausschließlich um die Banken. 2010 hat die Federal Reserve von New York eine Grafik veröffentlicht, die zeigt, dass bei der damaligen Datenerhebung das Bilanzvolumen der sogenannten Schattenbanken das Bilanzvolumen der Banken bereits übertroffen hatte. Ich kenne neueste Zahlen nicht, aber es wäre ein Wunder, wenn der Trend zu den Schattenbanken – ab in den unregulierten Sektor! – seitdem gebrochen worden wäre.

    Das ist das Eine. Das Andere ist die Stärke, die die angesprochene Verkehrung der Welt anhaltend zeigt.

    Diese Verkehrung ist der zweite Sachverhalt, um den sich Ihr Essay “Die GroßeMittelKlasse” dreht.

    Ja, mein Anliegen war, dieser Verkehrung der Welt und ihren Auswirkungen nachzuspüren. In der Praxis hatte ich mich seit dem Sommer 2007 in Brüssel mit Finanzkrise, „Großer Rezession“, wie die Angelsachsen sagen, und Staatsschuldenkrise herumgeschlagen und konnte mich ein ums andere Mal nur wundern.

    Worüber am meisten?

    Am meisten über die Chuzpe, mit der die Urheber der Krise, ihre Advokaten und Lobbyisten ein systemisches Versagen des Finanzkapitalismus in einen Betriebsunfall umlogen und dafür sorgten, dass die Staaten ihnen als Versicherer oder „lender of last resort“ beisprangen und die ungeheuren Kosten des Versagens nach einem kurzen Moment der Ernüchterung und Besinnung am Ende doch auf die Allgemeinheit und besonders auf die Schwachen abwälzten.

    Mit den Urhebern meinen Sie die Banken?

    Nein! Mit den Urhebern meine ich die gesamte Finanzindustrie, an deren Anfang und Ende indes niemand Anderes zu finden ist als die Leute und die Institutionen, die ihr Geld an den Kapitalmärkten anlegen, hin und her schieben und verwerten lassen. Banken, Schattenbanken, Geldmarktfonds, Private Equity und so weiter sind doch nur Intermediäre, Organe zum Zweck der Geldvermehrung für Leute mit Geld.

    Sie meinen: konkrete Menschen?

    Danke für die Frage, ja: konkrete Menschen! Am Ende immer konkrete Menschen, die Geld anlegen und eine Rendite erwarten. Das gängige Brandmarken „der Banken“ läuft ebenso auf eine Verschleierung der Wirklichkeit hinaus wie das Geplappere von „den Märkten“, die angeblich forderten, erwarteten, verhinderten etc. Märkte sind Regelmechanismen, sie haben weder Intelligenz noch Kraft noch Interessen. Es sind die Marktteilnehmer, die mit all dem begabt sind – oder auch nicht. Ihre Mehrheit, ihre Feuerkraft, das macht die Märkte.

    Sind es nicht zunehmend Computer?

    Wer besitzt die Computer, und wer bezahlt für eine möglichst profitable Software? Sie legen allerdings den Finger auf ein großes Loch, denn hier deutet sich die nächste Verkehrung der Welt an.

    Danke für die Antwort. Nur, gab es neben den Geldanlegern und ihren Agenten in der Finanzindustrie nicht auch noch ein paar andere Verantwortliche für Finanzkrise und „Große Rezession“?

    Ja, gab es. Doch hier muss man genau hinschauen. Die beiden von Ihnen benannten Phasen der Krise seit 2007 wurden zwar von konkreten Menschen bewirkt, aber Form und Tiefe der Verwerfung verdankten sie Mechanismen, die dem System der Kapitalverwertung eigen sind. Ich will damit sagen: Zuerst kommt das System des Wirtschaftens, hier mit seinen unangenehmen Eigenheiten, als Raum der Wirklichkeit und des Handelns; sodann die treibenden Akteure darin – in der Bandbreite von superreich bis betucht, die Armen halten bekanntlich kein Finanzkapital; im Anschluss daran die Straßenwärter und der TÜV des Systems, das sind die Politiker und die Regulierer; schließlich die Medien, die bekanntlich für die Rettung der Welt nicht zuständig sind, im Nachhinein aber alles besser wissen und es zwischendurch eisern mit dem Zeitgeist und den stärksten Bataillonen halten.

    Haben Sie sich in Ihrer aktiven Zeit tatsächlich als „Straßenwärter des Systems“ verstanden?

    Es geht nicht um mein Selbstverständnis, es geht um die objektive Rolle der Politik in Zeiten des Neoliberalismus. 1996 hat der damalige Chef der Deutschen Bundesbank …

    … einer Institution, die Sie wegen ihrer ökonomischen Glaubensstärke als Zentrum von „Mullahs und Theologen“ verspotten …

    … 1996 hat Hans Tietmeyer in Davos den Politikern ausgerichtet, ihnen sei wohl immer noch nicht klar, „wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden“. Hey, das war ein Wort! Nicht nur in Deutschland und in der EU, weltweit hat die Politik es sich zu Herzen genommen.

    Mit welchem Ergebnis?

    Die Politik hat eine Art Bußgang hingelegt und folgte in ihren Taten und in ihren Unterlassungen sklavisch einer geradezu absolutistisch herrschenden Lehre in der akademischen Ökonomie, wonach Märkte rationale Entscheidungen hervorbrächten und darin durch Regulierung nicht zu übertreffen, sondern nur vom rechten Weg abzubringen seien.

    Sie vermeiden für diese Ökonomen den Begriff Wissenschaftler. Mit Absicht?

    In der Wissenschaft gibt es keinen Absolutismus. Und wer die Empirie zugunsten der Modelltischlerei zurechtstutzt, wenn nicht gar verachtet, wird höchstens begreifen, was seine Modelle, nicht aber was die Welt zusammenhält – darum geht es jedoch in den Wissenschaften.

    Gibt es denn überhaupt welche, die keine Verantwortung für die Krisen seit 2007 tragen?

    Die gibt es, klar. Es sind diejenigen ohne Geld, ohne Einfluss und ohne große Klappe: die Verlierer der Krise.

    Klingt sehr nach Idealisierung des Proletariats, wie man vor 100 Jahren sagte.

    „Armut macht nicht edel“ habe ich von meinem Vater gelernt, der kannte sich in seiner Klasse aus, und es stimmt auch. Aber davon abgesehen: Fakt ist Fakt.

  3. Desaster, dreifach

    Über all dies haben Sie in der „GroßenMittelKlasse“ eher nicht geschrieben…

    Am Rande schon, aber mein Hauptinteresse galt der Frage: Warum zum Teufel funktioniert diese Chuzpe? Im Februar 2013, als das Stück in den NachDenkSeiten erschien, hatten weltweit Reiche und Superreiche die Verluste aus Finanzkrise und Großer Rezession mehr als wettgemacht, während weltweit Sparer und Kleinanleger unter der sog. finanziellen Repression stöhnten, also inflationsbereinigt bei der Geldanlage Verluste verbuchten, und die Zahl der Arbeitslosen in der Europäischen Union Rekordstände erklomm. Man könnte erwarten, dass in einer solchen Lage bei den Abgehängten und Gekniffenen aller Länder der Groschen fällt. Das ist nicht eingetreten, eher das Gegenteil.

    Das Gegenteil in einem Satz?

    Nationalistische Aufwallungen in nahezu allen Mitgliedstaaten der EU und in der Bundesrepublik dieser markante Auftritt des deutschnationalen „ideellen Gesamteigentümers“, wie ich ihn in meinem Text nenne – das war’s.

    Und warum ist der Groschen nicht gefallen?

    Die hauptsächliche Erkenntnisschranke, die so viele Leute daran gehindert hat und anhaltend hindert, die Vorgänge seit 2007 im Zusammenhang zu begreifen, wurde vermutlich 2010 am Übergang von der verbundenen Finanz- und Wirtschaftskrise zur sogenannten Staatsschuldenkrise errichtet. Sie erinnern sich: Die politisch Verantwortlichen waren weltweit einig gewesen in dem Bemühen, eine zweite Weltwirtschaftskrise wie 1929ff zu verhindern. Sie retteten – vorneweg die US-Regierung – die Finanzwirtschaft und dämpften den wirtschaftlichen Abschwung mit staatlichen Mitteln.

    Das passte der Masse der Eigentümer in Deutschland, den USA und anderswo gar nicht, oder?

    Genau, die fürchteten sogleich Inflation, vor allem fürchteten sie übervorteilt zu werden, aber nicht von den Nutznießern der Operation daheim, sondern von Volksfremden – so erklärt sich der ranzige Chauvinismus, der sich danach über die halbe Welt ausbreitete. Tatsächlich hat die Krisenpolitik der Regierungen, womit Banken, Versicherungen und Produktionsunternehmen gerettet wurden, den Eigentümern aller Vermögensklassen Geld gerettet – was und wem denn sonst?! Und indem die EU anschließend einige Mitgliedstaaten vor dem Bankrott bewahrte, hat sie auch nichts Anderes getan.

    Wieso das?

    Welche Tat hat diese Mitgliedstaaten der EU in eine prekäre Lage versetzt ? Die Rettung ihrer Pleitebanken. Warum hatten sie ihre Banken gerettet? Weil sie dazu gezwungen worden waren. Und von wem waren sie gezwungen worden? Von den einflussreichen und kapitalstarken Ländern, vorneweg Deutschland, Frankreich, Großbritannien, deren Banken, Versicherungen etc. in Banken und Staatsanleihen dieser schwächeren Länder investiert waren und jetzt ums Verrecken keine Verluste realisieren wollten.

    So einfach?

    Ich wüsste nicht, welcher Kenner der Verhältnisse das bestreitet, wenn er gefragt wird. Aber wer fragt schon? So bleibt es bei der Erkenntnisschranke, obwohl auch der weitere Ablauf nicht geheimnisumwittert ist. Die Krisenländer, die ihre Banken gerettet hatten, damit diese für ihre Schulden bei den Finanzinstituten aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien grad stehen konnten, wurden von den Rating-Agenturen herabgestuft und konnten danach nur noch zu exorbitant hohen Zinskosten Kredite an den Kapitalmärkten aufnehmen.

    Und jetzt?

    Jetzt mussten die Krisenländer gerettet werden, die ihre Banken gerettet hatten.

    Und wenn nicht?

    Dann wären die dortigen Banken doch noch über die Wupper gegangen, und beachtliche Teile der Finanzindustrie in den Kapital exportierenden Länder wären ihnen gefolgt oder hätten verstaatlicht werden müssen, kurzum: Es wäre mit Verzögerung eingetreten, was 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise durch die allgemeine Intervention der Staaten verhindert worden war.

    Nämlich eine adäquat kapitalistische Bereinigung der Krise?

    Das haben Sie sehr schön ausgedrückt! Stattdessen gab es eine machtpolitische Antwort auf die Krise und eine Umdeutung der Verantwortlichkeiten. Was sich den aggressiven, gelegentlich auch strohdummen Machenschaften der Finanzindustrie und ihrer Auftraggeber verdankt und die hässliche Seite der kapitalistischen Produktionsweise enthüllt hatte, wurde nun umgedichtet in eine verdiente Strafe für größenwahnsinnige Kreditnehmer.

    Sie meinen: für alle, die angeblich über ihre Verhältnisse gelebt hatten, von amerikanischen Häuslebauern ohne Eigenkapital bis zu den Lebenskünstlern im Süden?

    Die haben zahlreich – und nicht nur „angeblich” – über ihre Verhältnisse gelebt. Aber nun ging der entscheidende Zusammenhang verloren. Eine kapitalistische Bereinigung der Krise hätte im Bankrott beide Seiten entblößt, verantwortungslose Kreditgeber und verantwortungslose Kreditnehmer, und im Vollzug der Insolvenz wären die Lasten nach Gebühr verteilt worden. Die machtpolitische Antwort hat stattdessen die Schuldner an den Pranger gestellt, die Gläubiger zu Opfern gemacht – und, durchaus unbeabsichtigt, die Politiker zu Objekten der öffentlichen Aggression: in den Schuldnerländern angefeindet wegen der Kapitulation vor Deutschland & Co, in den Gläubigerländern angefeindet wegen der Garantien für die Schuldnerländer.

    Das meinen Sie, wenn Sie von „Verkehrung der Welt“ reden.

    Ja, ein Desaster für das Verständnis der wahren Zusammenhänge, ein Desaster für die moralische Hygiene und ein Desaster für die Bewältigung der Krise.


[«*] Dr. Karl-Heinz Klär hat Sozialwissenschaften studiert und ist promovierter Historiker; er hat als Lektor und Hochschulassistent gearbeitet, als Büroleiter und Redenschreiber von Willy Brandt und als Abteilungsleiter Politik im SPD-Parteivorstand; 1991 wurde er in Rheinland-Pfalz Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei, 1994 Bevollmächtigter für Bund und EU; im Ausschuss der Regionen der EU in Brüssel leitete er zuletzt die Fraktion der SPE (tatsächlich: der vereinten Linken); seit Mai 2011 freier Autor.

Dr. Kuno Rinke ist im Vorstand der DVPB NW und verantwortlicher Redakteur von Politisches Lernen.


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