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Titel: Die Manipulation der Renten-„Reformer“

Datum: 10. Februar 2006 um 12:05 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Rente
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Die Panikmache als Methode zum Abbau der gesetzlichen Rentenversicherung und der Umwandlung in eine (zusätzliche) private Altersvorsorge lenkt von den wirklichen Problemen der Umlagefinanzierung ab. Durch hypothetische Spekulationen über die Rentenentwicklung und isolierten „Reform“-Vorstößen wie etwa der Anhebung des Renteneintrittsalters und immer neuen Alarmrufen von sog. Rentenexperten werden Ängste bei Jung und Alt geschürt. Damit wird eine Diskussion über auf dem Tisch liegende Vorschläge für einen dauerhaften Ausweg aus den gegenwärtigen Finanzierungsproblemen der gesetzlichen Rente systematisch verweigert. Lesen Sie dazu einen Beitrag „Zur aktuellen Rentenpolitik“ von Karl Mai.

Zur aktuellen Renten-Panik
Karl Mai

Der folgende Beitrag zeigt u. a. methodische bzw. ideelle Winkelzüge der Renten-„Reformer“ bei der Massenmanipulation und weist auf den denkbaren Lösungsansatz für die SV-Rentenversicherung hin.

Wieder zieht der „Renten-Schreck“ durch die Medien in Deutschland. Zwar hängt die akute Lage der SV-Rentenkasse weitaus mehr von ihrer schrumpfenden Einnahmenseite (Vollzeit-Beschäftigtenentwicklung, SV-pflichtige Arbeitsplätze, Niedriglohnjobs) als von einer expandierten Ausgabenseite ab. Dennoch wird die Öffentlichkeit abermals durch hypothetische Spekulationen und „Schreckschüsse“ bezüglich einer Rentenentwicklung beunruhigt, die in ferne Zukunft projiziert wird.
Dabei zeigt sich in den Medien eine raffinierte Taktik voneinander isolierter Vorstöße mit Argumenten, denen ein komplexer logischer Zusammenhang fehlt, um immer wieder panische Effekte hervorzurufen. Stets finden sich auch hoch bezahlte „Wissenschaftler“, die eifrig beipflichten und geflissentlich versichern, dass alles noch viel schlimmer kommen werde.

Fallweise oder willkürlich werden in der Politik auch die Einzelparameter für die künftige Rentenhöhe isoliert abgewandelt, um deren resultierende Gesamtfunktion zu vernebeln oder die generelle Transparenz zu vermindern. Hier einige Beispiele:

  • Die künftige Rentenhöhe wird von der Arbeitsmarktlage (Unterbeschäftigungsgrad, Erwerbsbeteiligung, Langzeitarbeitslosigkeit) analytisch abgekoppelt und als bloße Funktion des demografischen „Altenquotienten“ behandelt, um eine formal zunehmende Belastung der künftigen aktiven Arbeitsgenerationen zu demonstrieren. Zudem wird die in Zukunft abnehmende Belastung der aktiven Arbeitsgeneration infolge der deutlich rückläufigen Kohorten der „Jungen“ ignoriert, wodurch die Gesamtlast weniger steigt als ohne diesen Fakt.
  • Die gegenwärtige Erosion des Anteils der Vollzeitarbeitsplätze und die Tendenz zu Niedriglohnbereichen mit ihren drastischen Mindereinnahmen für die SV-Rentenkassen werden tabuisiert oder schicksalhaft hingenommen.
  • Die Steigerung der Brutto-Löhne im Zuge der künftigen Produktivitätsentwicklung wird ignoriert oder minimiert, obgleich sie im Langzeitraum bedeutend sein dürfte und eine leichte Anhebung der Sozialbeitragssätze nicht ausschließt.
  • Die Höhe der SV-Sozialbeiträge wird dogmatisch begrenzt und von der künftigen Lohnentwicklung entkoppelt, um die Fiktion von überhöhten Lohnnebenkosten zu stützen.
  • Der geringe Effekt einer Verlängerung des gesetzlichen Renteneintrittsalters bzw. der Lebensarbeitszeit auf die reale Beschäftigungslage und die praktische Entlastung der Rentenkassen wird vernebelt.
  • Die kumulierte Inflationsrate wird aus der künftigen, projizierten Brutto-Rentenentwicklung ausgeblendet, deren reale Kaufkraftentwicklung so nicht erkennbar wird.
  • Die absehbaren Wirkungen eines „Nachhaltigkeitsfaktors“ oder von demografischen „begründeten“ Rentenabschlägen sowie von steuerlichen Abzügen bei den künftigen Brutto-Renten, die gleichzeitig als Minderungsfaktoren einwirken, wird nicht transparent gemacht.
  • Das niedrige Niveau von individuellem Durchschnittslohn und eigenem Rentenanspruch bei den prekären Beschäftigungsverhältnissen auf Niedriglohnbasis und Teilzeit wird überspielt, wobei der hohe und zunehmende Anteil solcher Arbeitsverhältnisse ausgeblendet wird.
  • Der mögliche Zufluss in die SV-Rentenkasse aus einer sinnvollen Verbreiterung der aktuellen Beitragsbemessungsgrenze und aus der Einbeziehung von bisher SV-freien Berufsgruppen wird öffentlich abgewertet oder verdrängt.
  • Die projizierten Minderleistungen der SV-Rentenkassen werden nicht durch erhöhte steuerliche Zuschüsse in die SV-Kassen abgefangen, sondern durch den Verweis auf mögliche „private Zusatzversicherung“ oder private Betriebsrenten legitimiert.
    Die drastische Verschlechterung der SV-Rentenleistungen wird durch Ausgliederung der Invaliden-Rente, durch Kürzungen der rentenwirksamen Ausbildungszeiten und durch Vorstellungen zur radikalen Kürzung von Witwenrenten (Übergang zum armenrechtlichen Bedürftigkeitsprinzip) betrieben.
  • Eine Umfinanzierung der „versicherungsfremden“ Belastungen der SV-Rentenkassen durch den Staatshaushalt über Steuern mit ihren bedeutenden Entlastungen für die SV-Regelleistungen und für die festen Zuschüsse des Bundes in die SV-Kassen bleibt außer betracht.
  • Eine mögliche Abkopplung der SV-Einnahmen von den Lohn- und Arbeitskosten wird ignoriert, wobei die qualitativen und quantitativen Vorteile deren Anbindung an die neue Basis „gesamte Wertschöpfung“ in Steuerform einfach unterschlagen werden.
  • Die demografischen Strukturveränderungen von übermorgen und später dienen als „zwingendes“ Argument für heutige Einschnitte in die aktuellen Rentenanpassungen, die einen bleibenden negativen Basiseffekt (Nullrunden usw.) für die Fortschreibung darstellen, gleichzeitig aber die fiskalischen Zuschüsse in die Rentenkassen einfrieren.

Man gewinnt so den Eindruck, dass es den neoliberalen Einpeitschern der SV-Rentendebatte zumeist nicht um komplexe Analyse, sondern oft nur um den Anstoß und die Motive zu immer neuen harten „Reformschritten“ geht, die stets in eine Entlastung der fiskalischen Ausgaben einmünden. Die öffentliche Angstpropaganda wird als „Sorge“ um die künftigen Renten kaschiert, wobei die sachliche Untersuchung von Einflussfaktoren immer isoliert betrieben wird oder nebulös verborgen bleibt. Die Unsicherheiten bzw. Risiken und fragwürdigen Mängel einer zusätzlichen privaten Rentenversicherung auf dem Kapitalmarkt werden dagegen zumeist ausgeblendet.

Speziell zur Altersgrenze bemerkt die Homepage „Sozialpolitik-aktuell“ kritisch:

In der aktuellen Debatte über die Heraufsetzung der Altersgrenzen in der Rentenversicherung wird leicht übersehen, dass das tatsächliche Alter beim Erstbezug einer Altersrente weit vor der gegenwärtigen Regelaltersgrenze von 65 Jahren liegt. Betrachtet man in den alten Bundesländern den Geburtsjahrgang 1939, der im Jahr 2004 das 65. Lebensjahr vollendet hat, so gehen sowohl die Männer als auch die Frauen die Männer im Schnitt bereits mit 62,5 Jahren in die Rente. Berücksichtigt werden hierbei nur die Altersrenten, nicht die Renten wegen Erwerbsminderung, deren Bezug deutlich früher einsetzt (…)
Es ist allerdings wenig wahrscheinlich, dass sich das tatsächliche Rentenzugangsalter der Regelaltersgrenze von 65 Jahren anpasst. Angesichts der anhaltenden Arbeitsmarktkrise fehlen die Voraussetzungen dafür, dass alle älteren Arbeitnehmer bis zum 65. Lebensjahr ihren Arbeitsplatz behalten oder an einem neuen Arbeitsplatz beschäftigt werden.“

Im Ergebnis von solchen öffentlichen Meinungsmanipulationen werden immer wieder an den gesetzlichen Grundlagen der SV-Altersrente punktuelle oder Teilabänderungen durchgesetzt, deren Gesamtwirkung außerhalb der Sichtweite derjenigen Bürger oder Altersgruppen bleibt, denen ein Torso des Sozialstaates hinterlassen werden soll. Dafür wird auch der Umstand verschwiegen, dass die „Altenlast“ in Zukunft insgesamt zwingend aus dem jährlichen Volkseinkommen abgezweigt werden muss, gleichgültig, welche Finanzierung der Renten zuvor praktiziert wird. Die Folgen der Rentenpolitik aber treffen dann in voller Wucht jene Altersklasse, die jetzt den Sozialabbau als „gesellschaftliche Entlastung“ begreift – bis sie dessen späteres Opfer wird.

Die neoliberale Sichtweise auf die projizierte Alterungsproblematik der Gesellschaft, die in einer überhasteten und rabiaten Verschlechterung des künftigen Rentenniveaus mündet, ist Ausfluss einer willkürlichen Politik zur Umverteilung von „unten nach oben“, die sich das unsägliche Argument von angeblich viel zu „hohen Lohnnebenkosten“ im Kapitalinteresse zu nutze macht. Internationale Vergleiche von Arbeitskosten, Lohnnebenkosten und Rentenniveaus werden kaum beachtet und ausgewertet.
Sogar die Kabinettsvorlage des „Rentenberichts 2005“, die überfällig ist, wird verzögert.

Der explodierende Reichtum der heutigen Gesellschaft und die materielle Sicherung der Altengenerationen dürfen sich nicht auf unversöhnlicher, diametraler Grundlage entwickeln, die zur künftigen Massenarmut in der Altengenerationen führt. Die neoliberale Spiegelfechterei in der Rentenfrage droht zu einer massenhaften relativen Verarmung sowie eines ökonomisch fatalen Egoismus und Hedonismus der wohlhabenden Eliten zu führen.

Indessen gibt es auch kritische Forscher, die in objektiv-sachlicher Analyse auf die demografischen, sozialen und ökonomischen Parameter für die künftige Rentenentwicklung verweisen und deren Variabilität in funktionellen Zusammenhängen oder Simulationsmodellen untersuchen. Dabei zeigt sich, dass der fatalistische Pessimismus der neoliberalen „Reformer“ bei den weit reichenden Zukunftsprojektionen von Parametern für die Rentenhöhe keine sichere Grundlage besitzt, sondern eher Hypothesen bis hin zu einer „Kaffeesatz“-Prophetie gleicht. Im Ergebnis tritt zu Tage, wie sehr die derzeitige geistige Manipulation der Neoliberalen die Menschen in eine spekulative Irre führt.
Es wäre daher zu wünschen und zu fordern, die „Massensuggestion“ in der Renten-Panikmache durch bessere Informationen und Kritik öffentlich überzeugend und wirksam zu bekämpfen. Dafür gibt es vertrauenswürdige Beispiele u. a. durch einige aktuelle Veröffentlichungen.

Der endgültige, dauerhafte Ausweg aus der Renten-Panik kann darin bestehen, die staatlichen Renteneinnahmen künftig an die „gesamte Wertschöpfung“ des Kapitals zu binden („Wertschöpfungsabgabe“) und damit in eine neue obligatorische Steuerform zu überführen. Dies würde künftig hinreichende Finanzierungsmittel für die staatliche Rentenversicherung auf stabilem bzw. tolerabel hohem Sozialniveau bereitstellen. Für die staatlichen Rentenleistungen wären zusätzlich geeignete Regeln zu entwickeln, die auch den gesellschaftlichen Chancen und Anforderungen an bezahlte Arbeit auf dem Arbeitsmarkt sowie den sozialen Implikationen gerecht werden. Die Vorschläge und Ansätze hierfür sowie alternative und seriöse Lösungskonzepte liegen bereits „auf dem Tisch“.


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