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Titel: Arbeitskräftemangel in der Zukunft? (Teil II)

Datum: 25. November 2014 um 9:53 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Demografische Entwicklung, Fachkräftemangel, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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In Teil I wurde dargestellt, wie aus einem rechnerischen Minus von 34 Prozent der 20- bis 65-Jährigen bis zum Jahr 2060 durch das Mitbedenken von ein paar schlichten Tatsachen ein jährliches Absinken von 0,23 Prozent wird.

Warum macht man diese dramatisierenden Zahlenspiele?

Natürlich wissen die Schöpfer der demografischen Horrorszenarien selbst, dass sie weder 50 Jahre in die Zukunft blicken können[1], noch dass Ihre Daten wirklich Anlass zur Panik bieten. Sie benutzen die Zahlen lediglich, um die Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu manipulieren – kein wirklich seltenes Phänomen in unserer Republik[2]. Nur mithilfe des Demografie-Hammers war es möglich, den massiven Einstieg in die private Absicherung für das Alter durchzusetzen. Hauptgewinner dieser Strategie waren bekanntlich die Versicherungen und die Arbeitgeber, die mit diesem Einstieg eine Deckelung ihres Beitrages für die gesetzliche Rente erreichen konnten. Immerhin wurde für die Sicherung von Milliardengewinnen schon Schlimmeres getan, als harmlose Bevölkerungsdaten zu einem Instrument für dramatisierende Gedankenspiele umzufunktionieren. Von Klaus Bingler und Gerd Bosbach.

Leider führte die Angst vor der demografischen Entwicklung auch dazu, dass das klare Denken erschwert wird. Ansonsten könnte man sich verdeutlichen, dass die angeblich zu wenigen Kinder in Deutschland nicht zu überfüllten Kindergärten, Schulen und Hochschulen führen können. Und dass es keine sinnvolle Sparmaßnahme ist, diesen Kindern zu wenig Bildung zukommen zu lassen, sondern dass genau dies zu den zukünftigen Versorgungsproblemen führen kann, welche die Panikmacher der „Demografie“ (Anmerkung: gemeint ist ja genau genommen die demografische Entwicklung, daher Anführungszeichen) in die Schuhe schieben. Und frei von Angst könnte man erkennen, dass eine „Sockelarbeitslosigkeit“ von offiziell etwa drei Millionen Menschen nicht zu dem angeblich knapp werdenden Arbeitskräftepotenzial passt.

Solche offensichtlichen Widersprüche – einerseits die Angst vor zu wenigen Versorgern in der Zukunft, andererseits die mangelnde Bereitschaft, heute die späteren Versorger richtig auszubilden; einerseits die Furcht vor zu wenig Arbeitskräften, andererseits die Bereitwilligkeit, sich mit einer Sockelarbeitslosigkeit von offiziell 3 Millionen Menschen abzufinden[3] – werden mithilfe demografischer Schwarzmalerei übertüncht.
Bevor wir uns einem weiteren großer Irrtum in der Diskussion – dem viel zu hoch eingeschätzte Stellenwert von Bevölkerungszahlen für eine gesellschaftliche Entwicklung – zuwenden, sollten wir das Bisherige noch einmal kurz festhalten:

Mit Zukunftsdaten für die Bevölkerung in Deutschland wird ständig Angst gemacht. Dabei werden folgende elementare Selbstverständlichkeiten ausgeblendet: eine kleinere Bevölkerung braucht auch weniger Arbeitskräfte; bei Arbeitskräftemangel müsste man für 2060 die schon beschlossene Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre berücksichtigen; für die sich aus den Berechnungen ergebende Entwicklung haben wir 52 Jahre Zeit. Würde man dies unter Zugrundelegung der Daten, welche die Angstmacher anführen, berücksichtigen, bliebe lediglich ein Absinken des Arbeitskräftepotenzials von 0,23% pro Jahr übrig. (Siehe hier) Sicherlich kein Anlass zur Dramatik.

Demografisierung einer Diskussion

Viele gesellschaftliche Entwicklungen werden heute eng mit der Entwicklung der zukünftigen Bevölkerungszahlen in Zusammenhang gebracht. „Wegen der vielen Älteren müssen wir …“, „Aufgrund der niedrigen Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau ist es unumgänglich…“ und – wie am Anfang beschrieben – „Wegen des drohenden Absinkens des Erwerbspotenzials ist …“ – das sind Floskeln, die aus der heutigen Diskussion nicht mehr weg zu denken sind. Im Kern wird damit die Bevölkerungsentwicklung als die mit Abstand wichtigste Einflussgröße für unsere Zukunft betrachtet.

Es ist kaum einsichtig, warum die vielen anderen Einflussgrößen, wie die Entwicklung von Arbeitslosigkeit, die Bildung der Bevölkerung, die Entwicklung der Wirtschaft anderer Länder oder Kontinente, die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen unserer Verantwortlichen, die Entwicklung der Finanzmärkte und der Umwelt usw. usf. von einer weit untergeordneten Bedeutung sein sollen. Noch nicht einmal zusammen sollen sie angeblich so wichtig sein wie die Demografie!
Schon ein Blick auf die im letzten Jahrhundert erzielten wirtschaftlichen und sozialen Erfolge, die trotz Alterung und einer abnehmenden Zahl von Kindern möglich waren, widerlegt die eindimensionale Schuldzuweisung eindrucksvoll.[4]

Aber selbst wenn man der Demografie eine überragende Bedeutung für unsere Zukunft zubilligt, stößt man auf große Widersprüche. Nehmen wir also kurz an, dass Alterung, mehr Rentner und wenige Kinder das Hauptproblem der wirtschaftlichen Entwicklung seien.

  • Warum haben die Menschen in Deutschland im Jahre 1900 dann nicht „besser“ gelebt als heute?
  • Warum sind „alte“ Staaten wie Japan, Deutschland, Australien, Österreich, die Niederlande, die Schweiz oder die skandinavischen Staaten wirtschaftlich deutlich besser gestellt als „ junge“ Staaten wie Bangladesch, Nigeria, Kamerun, Tansania, Bolivien oder die Philippinen?

Und wenn wir auf die Kinderzahl pro Frau schauen, so versucht man uns „demografisch“ weißzumachen, dass die für Deutschland berechneten 1,4 Kinder pro Frau[5] ein Riesenproblem seien, oft als „unvollständige 2/3-Gesellschaft“ tituliert und mit drohendem Untergang assoziiert.[6]

Soweit die Angst und nun die Fakten:
Deutschland hat nach offiziellen Berechnungen diese 1,4 Kinder pro Frau jetzt schon seit 1970, also etwa zwei Generationen lang. Seitdem hat sich Bevölkerungszahl aber nicht drastisch dezimiert, sondern ist von 78,1 Millionen auf 80,8 Millionen (31.12.2013) gewachsen. Und die wirtschaftliche Leistung hat sich nach Abzug der Preissteigerungen weit mehr als verdoppelt![7]
Übrigens liegen in Frankreich die Geburtenzahlen seit längerem bei etwa 2 Kindern pro Frau. Geht es den Menschen deshalb dort wirtschaftlich besser?

Nein, reine Demografiedaten sagen wenig über den wirtschaftlichen Zustand einer Gesellschaft, die „Demografisierung“ der Diskussion ist ein grober Fehler. Wir sollten ohne Demografie-Angst die Diskussion darüber, was unsere Gesellschaft bestimmt, neu starten, und dann zu eigenen Schlüssen kommen.

Ein letztes Wort zur merkwürdigen Diskussion über Bevölkerungspyramiden:

Nach üblicher Interpretation gingen diese von der Form einer gesunden Tanne langsam aber dramatisch in eine Urnenformen über. Aber was bedeutet die Pyramide in Form einer Tanne?

Zunächst werden viele Kinder geboren, von diesen stirbt bereits ein großer Teil in jungen Jahren. Jahr für Jahr sterben mehr Menschen eines Jahrgangs. Da im Alter nur noch sehr wenige von ihnen übrig bleiben, ist die Spitze ziemlich dünn. Dieses Modell ist nicht unbedingt als besonders menschenfreundlich einzustufen. Und wirtschaftlich sind, wie oben beschrieben, die „Gesellschaften mit der Tanne“ auch viel schlechter dran.

Der letzte Abschnitt belegt eindeutig: Auch rein demografisch betrachtet, ist eine Unterlegenheit älterer Gesellschaften nicht festzustellen, ganz im Gegenteil. Die Kinderzahl pro Frau als Indikator für das soziale Wohlergehen ist ebenfalls kein geeignetes Kriterium. Die Demografisierung lenkt somit nur von anderen, wichtigeren Problemen ab.

Mit diesem Artikel soll vor der weit verbreitete „Demografie-Angst“ gewarnt werden. Das heißt aber nicht, dass die Alterung einer Gesellschaft keine Probleme aufwirft. Nur sind das bei weitem nicht die Hauptprobleme. Wenn wir erfolgreich an diesen Hauptproblemen arbeiten würden, z.B. die Arbeitslosigkeit abbauen, unsere Jugend ausreichend qualifizieren, den großen Reichtum in unserer Gesellschaft wieder mehr für Soziales und die Infrastruktur nutzen würden, wäre mehr als genug da, um eine wachsende Zahl Älterer nicht als Belastung empfinden zu müssen.

Der gesamten Beitrag [PDF – 143 KB]


[«1] Vgl. dazu Gerd Bosbach: Demografische Entwicklung – nicht dramatisieren! In: Gewerkschaftliche Monatshefte, Februar 2004

[«2] s. dazu Bosbach/Korff: “Lügen mit Zahlen – Wie wir mit Statistiken manipuliert werden”

[«3] Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wollten 6,7 Millionen Menschen in Deutschland 2012 (mehr) arbeiten, s. deren Pressemitteilung Nr. 297 vom 05.09.2013

[«4] Vgl. dazu Gerd Bosbach: Demografische Entwicklung – nicht dramatisieren! In: Gewerkschaftliche Monatshefte, Februar 2004

[«5] Zur Problematik der Berechnung der Kinderzahl pro Frau s. die Arbeiten von Michaela Kreyenfeld, MPI für demografische Forschung, Rostock, z.B. http://www.zeit.de/gesellschaft/2011-09/demografie-korrigierte-geburtenzahlen-2 oder www.demografische-forschung.org/archiv/defo1201.pdf

[«6] Zur Bestandserhaltung werden rechnerisch 2,1 Kinder je Frau benötigt. Der Demograf Herwig Birg hat deshalb 2006 „ausgerechnet“, dass die Deutschen in 12 Generationen ausgestorben sein werden. (BILD, 15.3.2006).

[«7] 1970 bis 1991 in der BRD 76% mehr, 1991 bis 2013 in Deutschland 31% mehr, ergibt zusammen 130% mehr – Achtung Zinseszinseffekt: Wert1970*1,76*1,31


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