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Titel: Kann man aus der Manifestation von Paris nicht auch Zuversicht schöpfen?

Datum: 13. Januar 2015 um 9:56 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Terrorismus, Wertedebatte
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Albrecht Müller hat bei aller Bewunderung „das Geschehen und die mediale Behandlung“ der Manifestationen in Paris und an vielen anderen Orten nicht nur Europas, sondern in der ganzen Welt „mit Sorgen“ verfolgt. Er sieht in dem „Geschehen“ auf nahezu allen Feldern, die er selbst kritisch betrachtet und die ihn bekümmern, eher negative Auswirkungen und Verschlechterungen. Geradezu wie Kassandra aus der griechischen Mythologie, sieht er in den von ihm angesprochenen Politikbereichen nach diesen Tagen größeres Unheil voraus.
Die meisten der Sorgen, die Albrecht Müller umtreiben, über das, was aus den Attentaten folgen könnte, teile ich.
Aber die Tatsache, dass am Sonntag Millionen von Menschen ihre Trauer über abscheuliche Mordtaten in ein Bekenntnis an erster Stelle im Sinne eines Mitgefühls für die Opfer und ihre Freunde, dann aber auch (am deutlichsten an den Bleistiften sichtbar) als Appell für die Pressefreiheit („Je suis Charlie“), schließlich auch für gesellschaftlichen Zusammenhalt jenseits religiöser, ethnischer und sozialer Herkunft, für Solidarität, für die Republik, für fraternité und liberté umgesetzt haben, sehe ich als einen Hoffnungsschimmer. Wenn derartige Bekenntnisse einer breiten Öffentlichkeit politisch nichts mehr verbessern könnten, dann müsste man alle Bemühungen um Aufklärung und um eine demokratische Gegenöffentlichkeit aufgeben. Von Wolfgang Lieb.

Ich frage mich, was sich an den sicherlich beklagenswerten Zuständen der Welt verändert oder gar verbessert hätte, wenn die Menschen nicht auf die Straße gegangen wären. Oder: Was hätte man sich erst für Sorgen machen müssen, wenn die Demonstrierenden – wie auf den „Pegida“-Demonstrationen – Hassparolen auf Muslime oder gegen die „Lügenpresse“ skandiert hätten oder – wie es nach dem Anschlag 9/11 in den USA geschehen ist – Rache geschworen und eine Verschärfung des „Krieges gegen den Terror“ verlangt hätten? Ist Versöhnung nicht ein erfreulicheres Signal als Vergeltung?

Für eine politische Bewertung halte ich es für wichtig unterschiedliche Ebenen des Geschehens der letzten Tage auseinanderzuhalten. Nämlich mindestens folgende:

  1. Die Terroranschläge (und „Terror“ muss man auch „Terror“ nennen)
  2. Die Konsequenzen, die die Politik aus den Attentaten und den Demonstrationen zieht (den „schamlosen Missbrauch der Morde“)
  3. Die Symbolik der untergehakten Staatsmänner und –frauen
  4. Den Honig, den die Medien aus diesen Ereignissen ziehen
  5. Was man aus den Manifestationen für Schlüsse ziehen kann
  1. Die Terroranschläge

    Da sind zunächst die Terroranschläge vom Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche bei denen 17 unbeteiligte Menschen starben und 3 Täter erschossen wurden.
    Ich spreche bewusst von „Terror“, denn Angst und Schrecken hat diese Gewalttat in jedem Falle ausgelöst.

    Die größte Demonstration in der Nachkriegsgeschichte Frankreichs hat zumindest auch das öffentliche Interesse und den Druck manifestiert, dass alle investigativen Anstrengungen unternommen werden, um alle Sachverhalte, alle Hintergründe und Motive, Mittäterschaften und Unterstützer oder Vermittlerstrukturen aufzuklären. Viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit geht eigentlich kaum.

    (Über die Notwendigkeit und die Art des Zweifels an dem was bisher berichtet worden oder bekannt ist, haben Albrecht Müller und ich schon nachzudenken versucht. Dazu will ich an dieser Stelle nicht mehr sagen, weil es ja hier vor allem um die Auswirkungen der Tat gehen soll.)

    Es darf aber nicht nur um die kriminalistische Aufklärung und Aufarbeitung gehen. Die sicherheitstechnische Debatte, darf die Suche nach den sozialen, den psychosozialen, den wirtschaftlichen, den gesellschaftlichen und natürlich insgesamt den politischen Ursachen für derartige Terrorakte nicht überlagern. Das schon deshalb nicht, weil es keine absolute Sicherheit geben kann und die Ursachenanalyse ohnehin unumgänglich ist. Bisher führt die Politik überwiegend eine Sicherheitsdebatte, aber der Schock hat auf gesellschaftlicher Ebene auch eine Ursachendebatte angestoßen oder macht sie eher möglich.

  2. Welche Konsequenzen zieht die Politik aus dem Attentat und aus der Demonstration

    Es wäre ja geradezu erstaunlich, wenn nicht die Regierungen, die Politiker, aber auch alle Kräfte, die am bestehenden politischen Kräfteverhältnis interessiert sind, nicht eine so aufwühlende Situation nutzen würden, die bestehenden Machtverhältnisse mit allen ihren Mitteln der Einflussnahme und der Meinungsmache zu stabilisieren.

    Insofern gebe ich Albrecht Müller in den meisten seiner Kritikpunkte an den politischen Reaktionen Recht: Es gibt die Versuche der ideologischen Aufrüstung, es wird eine hohl gewordene Wertegemeinschaft beschworen, es wird von der sozialen Kälte und von bestehenden Ungerechtigkeiten und von selbst begangenen Menschenrechtsverletzungen abgelenkt. Es wird versucht die eigene Politik als gut und andere als böse abzustempeln. Vor allem soll auch das „Bündnis der Willigen“ im „Krieg gegen den Terror“ mit den USA gefestigt werden.

    Welches Süppchen die Sicherheits- und Überwachungsfetischisten auf den Attentaten kochen, haben wir auf den Hinweisen des Tages schon hinreichend dokumentiert. Dass einschlägige Medien – wie etwa die Bildzeitung – dabei, wie üblich ihren Resonanzboden liefern, ist nichts Neues.

    Und natürlich besteht die Gefahr, dass all die vielen kaum mehr zählbaren Skandale die Albrecht Müller aufzählt, durch ein solches historisches Ereignis aus der Agenda der öffentlichen Debatte fallen könnten.

    Ja, diese Gefahr besteht und sie ist sehr groß.

  3. Die Symbolik der untergehakten Staatsmänner und –frauen

    Die Bilder der untergehakten Staatsmänner und –frauen waren natürlich als perfekte Inszenierung geplant und gedacht. Das Bild wie Angela Merkel mit geschlossenen Augen in einer Umarmung ihre Anteilnahme gegenüber Staatspräsident François Hollande ausdrückt, soll natürlich Emotionen wecken und alles was sonst zwischen diesen Politikern steht vergessen machen.

    Es war nicht leicht zu ertragen, wie dort etwa ein Viktor Orban, der die Pressefreiheit in Ungarn unterdrückt, nun auch noch gerade für „Charlie“ demonstrierte. Es gingen einem kalte Schauer über den Rücken, den nicht einmal eingeladenen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wenige Meter neben Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in der Demonstrationskette für friedliches Zusammenleben zu sehen. Was hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einer solchen Demonstration verloren, was der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der einen Bürgerkrieg führt?

    Ich war schockiert als der französische Premierminister Manuel Valls davon sprach, dass sich Frankreich im „Krieg“ befinde. Und es ist erschreckend wie zur reinen Machtdemonstration 10.000 Soldaten so ohne weiteres für die innere Sicherheit eingesetzt werden.

    Ich habe Verständnis dafür, dass dieses Schauspiel in seiner Widersprüchlichkeit und Falschheit Depressionen auslösen kann.

  4. Die Medien saugen bitteren Honig aus dem Attentat
    Die von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung übernommene Tuschzeichnung in Albrecht Müllers Beitrag mit dem Terroristen mit dem Gewehr in den Händen und der Sprechblase „Lügenpresse“ kommt der Hetze nahe, mit der dieses Schimpfwort historisch verbunden ist. Seit Goebbels ist diese Beleidigung in einem etablierten Medium wohl nicht mehr derart missbraucht worden. Man kann sich über diese Parole bei „Pegida“-Märschen empören, aber es ist infam, sie in Anspielung an die Attentate in Paris einem Terroristen in den Mund zu legen.

    Dass die Verleger und Medienbosse nun eine Chance sehen, die Medienverdrossenheit und den Vertrauensverlust ihrer Medienprodukte aufzuhellen,
    ist nicht weiter erstaunlich. Wie doppelbödig und heuchlerisch solche Versuche sind, können Sie in einem weiteren Beitrag heute auf den NachDenkSeiten nachlesen.
    Deshalb verzichte ich hier auf weitere Kritik.

  5. Aber ist die Manifestation der Massen nicht ein alles überwölbendes Zeichen der Zuversicht?

    Ich sehe das so.

    Zunächst muss man ja erleichtert sein, dass angesichts der Ansammlung solcher Menschenmassen kein weiterer Anschlag passiert ist. Das Attentat beim Marathonlauf in Boston hat ja in erschreckender Weise gezeigt, wie leicht bei einer öffentlichen Veranstaltungen Sprengsätze gelegt werden können. Ich bewundere den Mut der Menschen, dass sie sich in dieser angstauslösenden und aufgeheizten Atmosphäre massenhaft öffentlich versammelt haben. („Même-pas-peur”) Ich meine, dass nicht überall in der Welt die Bevölkerung so selbstbewusst ihre Ängste überwunden hätten.

    Bemerkenswert ist darüber hinaus auch, dass die Aufrufe von Marine Le Pen und des Front National zu Gegendemonstrationen in ganz Frankreich keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung gefunden haben.

    Ich war nicht in Paris und habe meine Eindrücke nur über das Fernsehen und über die Bilder und die Berichterstattung der Printmedien. Bei aller Vorsicht gegenüber Bildern hatte ich die Wahrnehmung, dass die allermeisten Demonstranten ihre Trauer und ihren Schock über die Mordtaten in ein mutiges und selbstbewusstes Signal umgesetzt haben, etwa: „wir lassen uns nicht unterkriegen“ oder „wir lassen uns nicht spalten“ oder „wir verteidigen die Werte unserer Republik“ und „wir stehen für Pressefreiheit“ usw.

    Was soll besorgt machen, wenn sich eine Zusammenkunft von Hundertausenden von Bürgern auf diese Werte rückbesinnt und beruft?

    Ich sehe das gerade umgekehrt wie Albrecht Müller: wenn diese Ideale in Erinnerung gerufen werden, wen für sie massenhaft demonstriert wird, dann liegt darin eine große oder zumindest eine größere Chance, dass die Demonstranten die Realität (auch bei den im Artikel von Albrecht Müller genannten negativen Beispielen) an diesen Idealen misst. Man müsste also doch eher den Schwung, der sich da andeutete, mitnehmen und gerade jetzt für eine Politik mit mehr Menschlichkeit und Brüderlichkeit werben.

    Könnte man diese Versammlung der Massen nicht als ein Signal nehmen, dass soziale Bewegungen, die Basis von Parteien und andere gesellschaftliche Institutionen bei Bürgerinnen und Bürger auf eine große Zustimmung stoßen würden, wenn sie diese Ideale von der Politik einfordern? (Ob in Griechenland, in den vom Westen destabilisierten Staaten oder auch in Guantanamo.)

    Ich habe es nicht so erlebt, dass mit dem Bekenntnis, wir ziehen uns nicht ängstlich zurück, sondern wir gehen gemeinsam auf die Straße, wir stehen bei allem, was uns trennt zusammen, eine „Sauce des Einvernehmens“ gekocht wurde.

    Wäre es für die von Albrecht Müller reklamierten Ziele förderlicher gewesen, wenn es keine Demonstration gegeben hätte, wenn nur wenige Menschen auf die Straße gegangen wären oder wenn gar islamfeindliche oder fremdenfeindliche Parolen skandiert worden wären – wie etwa gestern Abend wieder bei „Pegida“.

    Die durch die Pariser Straßen ziehenden Menschen waren – soweit ich das überblicken konnte – in keinerlei Hinsicht aggressiv, im Gegenteil konnte man viele –geradezu rührende Szenen – der Verbrüderung (Verschwesterung) und der Toleranz sehen (You can say, i`m a dreamer…). Warum soll es deshalb der Widerstand gegen Kriege schwerer haben, warum soll die Kritik an der Kriegsbeteiligung auch Frankreichs schwerer fallen?

    Warum also in eine friedliche Demonstration düstere Prophezeiungen hineinprojizieren?

    Wenn man Schilder für Liberté, für Religionsfreiheit, für Laizismus mit sich trägt, warum sollen dann „Folterberichte“, Drohnenkriege, der sogenannte Krieg gegen den Terror weniger ernst genommen werden? Wenn man die Pressefreiheit hochhält, warum sollte man dann seine Sensibilität gegen Überwachung schwächen und warum sollten damit nicht sogar im Gegenteil Sympathien für Whistle-Blower und speziell auch für Edward Snowden geweckt werden?

    Warum sollte die Medienkritik schwieriger werden, wenn sich Millionen von Menschen mit den Opfern einer Zeitung solidarisieren, die sie vermutlich nie gelesen haben, die sie – sofern sie das Blatt gekannt haben – vielleicht in ihrer politischen Ausrichtung für falsch, ja sogar mancherlei Artikel und Karikaturen für geschmacklos hielten? „Je suis Charlie“ ist doch eher eine Ermutigung für Meinungsvielfalt, ja für provozierende und anstößige Meinungen?

    Ich habe nicht erkennen können, dass sich die Demonstranten nun gerade für einen Schulterschluss mit den USA eingesetzt hätten. Auf dem Monument à la République und unter den Demonstrierenden habe ich Flaggen ganz vieler Staaten gesehen, „Stars and Stripes“ waren jedenfalls nicht vorherrschend. Selbst die Prominenz der teilnehmenden US-Staatsmänner hielt sich mit dem ziemlich unbekannten Justizminister in Grenzen. Wenn sich Paris als die „Hauptstadt der Welt“ verstanden haben sollte, so kann man darin doch eher ein Zeichen europäischen Selbstbewusstseins als einen Kotau gegenüber einem Weltpolizisten jenseits des Atlantiks sehen.

    Zentral in der Bewertung Albrecht Müllers ist die Konzentration darauf, wie die Politik und die Medien mit der terroristischen Attacke umgehen werden. Mir kommt dabei die Manifestation des Willens einer großen Bevölkerungszahl zu kurz. Wenn es nicht mehr möglich wäre, dass solche Signale aufgenommen werden, dann wäre in der Tat der normale Bürger entmündigt und nur noch Spielball von Politik und Medien.
    Man wäre dieser Übermacht hilflos ausgeliefert. Alles was die Bürgerinnen und Bürger unternehmen, würde gegen sie gerichtet.

Ich finde kritisch zu sein, kann nicht heißen bei jedem Ereignis, das die Bevölkerung aufwühlt und in Bewegung setzt, nur danach zu schauen, was sich als Reaktion von Politik und Medien verschlechtern könnte. Warum machen wir denn dann überhaupt noch die NachDenkSeiten, wenn wir nicht die Hoffnung hätten, dass es eine demokratische Gegenöffentlichkeit geben könnte. Gerade darin besteht doch unsere Aufgabe, den Schwung aus den demokratischen Manifestationen dieser Tage aufzugreifen und das Feld nicht den etablierten Politikern und dem Mainstreammedien zu überlassen. Das hieße doch, dass man sich von vorneherein deren Deutungshoheit unterwirft. Uns müsste es doch darum gehen, den Geist der Manifestationen in Frankreich aufzugreifen und diese Deutungshoheit streitig zu machen.
Deshalb müssen wir weitermachen!


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