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Titel: „Ich kann mich gar nicht entscheiden, ist alles so schön bunt hier.“

Datum: 10. Februar 2015 um 9:08 Uhr
Rubrik: Kultur und Kulturpolitik, Medien und Medienanalyse, Wertedebatte
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Wie schwindet das Verantwortlichsein im süßen Brei des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks? Ein Essay von Marianne Bäumler[*]

Man stelle sich vor: ein dicklicher Jugendlicher hängt schlaff auf der Couch vor der Mattscheibe, linke Hand Fernbedienung, rechte Hand vergräbt sich knisternd in der Chipstüte, XXL, schaufelt raus und in den weit geöffneten Mund, rein damit, und weiter so, die Handvoll Chips, sie trifft den Mund, es knirscht vertraut, wenige Kaubewegungen, runter damit, die Hand greift zur Bierdose, spült nach. Sein Blick starrt erwartungslos auf den Bildschirm. Darauf ein wunderschön schlank strahlender Generationsgenosse, und dieser smarte „Vorbildverbraucher“ knabbert vergnügt ein paar Chips aus der gleichen bunten Tüte wie unser adipöser Endverbraucher.

Na klar, und dann kuckt der jede Menge Sport, teuerste Übertragungen aus aller Herren Länder, schließlich soll Bewegung ja sooo gesund sein. Mission accomplished.

Horrorszene? Kann angesichts jedes Werbespots so geschehen, egal ob Kommerz oder Öffentlich-Rechtlich. Hauptsache, „Ich glotz TV“, und die meisten Zuschauer kucken ähnlich dumpf auch beim für sie veranstalteten Programm gelangweilt und zappend in die Röhre, tagtäglich. Beim Spekulieren auf Einschaltquoten, aufs Millionenpublikum gleichen sich zunehmend die Angebote an die eher niederen Instinkte. Die Krimis werden immer brutaler, die Opfer am liebsten junge Mädchen, die süffisanten Kamera-Runden um kalte Pathologietische häufen sich, die Drehbücher dabei insgesamt deutlich einfältiger. Bodenlose Gewaltszenen, unentwegt wird da gestorben und gekillt, eine zunehmend verrohte virtuelle Parallelgesellschaft, wie auf den globalen Kriegsschauplätzen im restrealen Infotainment-Bereich; kaum unterscheidbar, wenn z.B. die an sich wertvollen Berichte im „Weltspiegel“ über den Krieg in Syrien nunmehr mit dramatisch aufgeladener Musik untermalt werden. Als ob der sich ausbreitende Empathie-Verlust dadurch aufgehalten, das grassierende Sinn-Defizit vieler BürgerInnen wohltuend reduziert werden könnte.

Völlig überflüssig auch die Offerten, jetzt mitten im fiktionalen Film noch mit Autoren zu twittern. Gute Autoren dürften sich bedanken. Nein, für solches high tech-Überfluten ist die menschliche Anatomie nicht ausgelegt! All diese so genannten interaktiven Erweiterungen verhindern doch, sich auf Kontexte zu konzentrieren und sie zu begreifen! Als dürfe bloß nichts ausgelassen werden, was technisch möglich ist. Wie panisch ist das denn!

Die ModeratorInnen gerade auch im Öffentlich Rechtlichen säuseln in kindisch neckischem Ton zu uns ZuschauerInnen herab, als seien wir alle ein bisschen debil. Besonders in den Lokalberichterstattungen wird inzwischen ein dauerlächelnder Ton angeschlagen, der auf Infantilisierung drängt. Wo sind wir bloß gelandet? Und was hat das mit dem ureigenen Auftrag des öffentlich rechtlichen Rundfunks – nämlich im Sinn von demokratischer Teilhabe am gesellschaftlich sinnvollen Miteinander für gründliche Information und folgenreiche Aufklärung Sorge zu tragen – noch zu tun?

Verantwortung. Eine altmodische Idee? Dass vom Kommerz-TV und knallbuntem Reklamerahmenradio kaum ein zur Kritik befähigendes Programm erwartbar ist – geschenkt! Nein, vielmehr an jeder Supermarktkasse teuer von uns Kunden bezahlt!

Jedoch: die Pflichtbeiträge für ARD und ZDF, sie bleiben und wenn sie hoffentlich bleiben – und dafür spricht immerhin vieles – können wir dafür in der Tat eine andere Qualität erwarten, und zwar für alle BürgerInnen. 7,5 Mrd. € für alle öffentlichen Sender pro Jahr, das ist doch ein hübsches Sümmchen. Nein, mit Zahlen, mit Quoten möchte ich uns jetzt nicht aufhalten. Auch das private Kommerz-Fernsehen und die lärmigen „Antenne Bayern“ et al., keine Rede heute davon. Und über Geld, das zwangseingetrieben und verpulvert wird, darüber später. Wohl aber mit einer uncharmanten These möchte ich die nachdenkenden LeserInnen behelligen: Die elend geringe Wahlbeteiligung in unserem Land ist unbedingt auch ein Resultat eines immer geschmeidigeren Zerstreuungsprogramms, das die Öffentlich Rechtlichen Anstalten uns zu servieren belieben! Ca. 50 % nur noch kriegen den Arsch hoch, um von ihrem verbrieften Wahlrecht Gebrauch zu machen. Hat der indifferente Rest schon aufgegeben? Wer hat versäumt, die zivilen BürgerInnen – eine zahlende Kundschaft – dergestalt zu informieren, dass sie als Individuen gemeint sind, wenn von Demokratie nicht nur die abstrakte Rede sein soll?

Die Entpolitisierung in unserer „Zuschauer-Demokratie“, sie kommt nicht von ungefähr, und neben Faktoren wie forcierter Leistungsdruck in den Schulen und Universitäten sowie depressiv machender Arbeitsstress muss der dominante Part der Bewusstseinsindustrie an der gefährlichen Abstinenz zivilgesellschaftlichen Engagements dringend zur Kenntnis genommen werden.

Gehen wir einfach davon aus, dass alle Menschen auf Erden am Tag 24 Stunden zur Verfügung haben. Tagtäglich. Wir schlafen, wir stehen auf, wir gehen ins Bad – wenn wir eins haben –, wir ziehen uns an, wir essen und wir trinken, und wir reden und wir arbeiten oder spielen, und wir vergnügen uns leiblich, oder wir kaufen ein – und neben aller anderen Elektronik: wir kucken Fernsehen. Ja, und das kucken wir da: die Nachrichten, den Tatort, die Talkshows, den Quizz, die Kochshows… .

Ja, zwar gibt es sie noch, diese Leuchttürme: Im Fernsehen Monitor, Frontal 21, Panorama, nicht selten der Presseclub, die Anstalt, „Menschen heutnah“, „Plusminus“, die Story und andere gut recherchierte Dokumentarfilme, manchmal auch wunderbare Fernsehfilme, ja, und nicht zuletzt die Sendung mit der Maus. Die ARD, das ZDF, Arte, 3sat. Da können wir wahrhaftig froh sein. Und auch manche Radioprogramme des öffentlich Rechtlichen: WDR 5 und 3, NDR Info, NDR Kultur, SWR Kultur, und nicht zuletzt der Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur – sie werden als Informationsquelle der sowieso schon Wissenden bevorzugt gehört; „preaching to the saved“. Vorbildlich hat es WDR 5 mit dem „Tagesgespräch“ geschafft, immer mehr ZuhörerInnen in einen konkreten alltagsrelevanten Diskurs einzubeziehen. Hier findet in der Tat ein kluges Erörtern statt! Auch wöchentliche Ausstrahlungen wie „Funkhausgespräche“, und „Kontrovers“ im DLF verlaufen eben nicht pseudo, wie oft in den herkömmlichen „Experten“-Runden. Insofern haben solche Sendungen die politische Abstinenz wohl reduziert, jene Zuhörer gehen höchstwahrscheinlich auch wählen.

Was aber geschieht mit den neoliberal so genannten „bildungsfernen Schichten“? Den Woyzecks und seinen Geschwistern? Wer kümmert sich als 4. Gewalt verantwortungsvoll auch um die Verlierer? Oder bleiben die ungefragt übrig fürs verkommene Kommerz-TV, reduziert auf Voyeurismus und Exhibitionismus? Eine zynische Priorität der öffentlichen Programm-Macher besteht in dem Tabu, die gewinnbringende, Reklame ummantelte Primetime im Fernsehen mit gründlich recherchierten Beiträgen womöglich riskant zu gefährden. Also werden ganz viele Leute Tag für Tag von Wissensquellen ausgeschlossen. Mit „Angebotsdrogen“ im Zerstreuungsprogramm bei Laune gehalten. Eine Art Zeitvernichtungsmaschine, deren gefährdender Gewöhnungseffekt von den Betroffenen jedoch kaum realisiert wird, ein süßliches Gift, ein schleichender Prozess.

Als ob man der „Silent Majority“ nichts anderes als umgängliche Serien, Carmen oder andere Nebel-Events und beliebige Häppchen zumuten könnte! Stattdessen diese Mega-Renovierung des ARD -Tagesschau-Studios. Die minimale Kritik an den unglaublichen 24 Millionen € Rundfunkbeitragsgeld verhallte schnell. Das Bombardement riesiger Bilder im Hintergrund bedeutet vor allem Ablenkung, das aufmerksame Zuhören wird so erschwert, eine erschlagende Fototapete. Zu viel an Input führt zum emotionalen Abschalten, zu Indolenz, nun, und so sind wir schnell bei solch raunenden „Pegida“–Phänomenen, deren VertreterInnen kaum noch selbstreflektiert im süffigen Mitläufer-Modus ihre Uninformiertheit feixend feiern.

Analytisches Denken, das ja durchaus praktisch und anteilnehmend sich auswirken kann, wird insgesamt durch die öffentlich rechtlichen Medien einer bezahlenden Mehrheit für deren mühseligen Alltag nicht zugemutet, auch sprachlich kommt denen kaum etwas an Information entgegen, kritikfähige Reflexionskraft kaum befördert, fanatischem Ressentiment durch das Weglassen von Aufklärung zur Primetime jedoch Tür und Tor geöffnet. Die sollen sich gefälligst amüsieren, vom Arbeitsstress runterkommen irgendwie, bloß brav überlegen, was sie am nächsten Tag einkaufen, und ansonsten sich ruhig stellen lassen und die Klappe halten, jedenfalls nicht den marktkonformen Betrieb mit ungemütlichen Zweifeln aufhalten.

Kein Wunder, dass Verschwörungstheorien Hochkonjunktur haben, wenn subkortikal die Skepsis wächst an all den politischen und wirtschaftlichen Ungereimtheiten, die die Mehrheit kaum begreifen dürfte. Dass inzwischen etliche Scharfmacher von rechts, oder aber auch nostalgische Sowjet- Fans – gerne kurzsichtig, was die UN-Menschenrechtscharta angeht – ihre ganzen sonstigen unausgegorenen Ressentiments jetzt über dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auskübeln, ist so nicht gerechtfertigt, kann jedoch als fatale Folge einer ignoranten Programmpolitik für „die da Unten“ betrachtet werden. Dass auch die Öffentlich Rechtlichen mit zweierlei Maß messen, durch riesige Marketing-Budgets ihre Verwaltungsgranden in der Komfortzone intransparent weichbetten, ärgert besonders jene „Erniedrigten und Beleidigten“, die sich in der knallbunten Spaßgesellschaft auch unbewusst abserviert fühlen.

Die so genannte Marktforschung innerhalb der Sendeanstalten wirbelt zwar kostenträchtig mit komplizierten Zielgruppen-Analysen herum – den Fetisch Quote permanent im eng gestellten Blick – die hochdotierten Akademiker selber würden sich das ausgesuchte mentale junkfood fürs dürftige Vorabendprogramm jedoch keinesfalls reinziehen. Harmonietriefende Feierabend-Serien würde deren Intelligenz beleidigen, aber im Sinne der Quote die untere Mittelschicht verarschen geht allemal.

Und all die zuckrig gefährlichen Snacks, und der andere Schnäppchen-Kram, für was alles teure Reklame gemacht wird, das kaufen sich die gebildeten Programm-Verantwortlichen ja auch lieber nicht. Junkfood und flatrate – so heißen „Brot und Spiele“ im globalen Kapitalismus. So zynisch funktioniert sie, die „Kulturindustrie“. „Doof geborn ist keiner, doof wird man gemacht, und wer behauptet, doof bleibt doof, vor dem nehmt euch in Acht.“ Das wusste schon das Grips-Theater in den Siebzigern. Und zu der Zeit wäre zumindest dort der Ruf „Empört euch!“ allemal mit faktischen Kenntnissen über gesellschaftliche Machtverhältnisse unterfüttert gewesen.

Das Dilemma ist: es wird ja viel gearbeitet in den öffentlich rechtlichen Sendern, inclusive burnout, inclusive mobbing, es werden Kompetenzen und Ressourcen eingesetzt, nicht wenige Redakteure meinen es ernst mit ihrem Ansinnen, durchs Aufklären von komplexen Zusammenhängen und durchs gekonnte fiktionale und ironische Unterhalten die Spielräume ihres Publikums zu erweitern, möglichst frei denkenden Individuen Zugang zu demokratischer Mitwirkung zu verschaffen. Aber: die ungerührte ARD-Programmpolitik kalkuliert offensichtlich anders, erkennbar am gräulichen Resteeintopf aufgewärmter „Tatort“ – Produkte, in trübseliger Endlosschleife, unentwegt ausgekippt in die Dritten Kanäle.

Bravo, welch aufbauendes Klima in kostbarer Freizeit der Werktätigen und anderer eher unfroher Arbeitnehmer, von den Langzeitarbeitslosen nicht zu schweigen. Auch das „alternativlos“? Wie wunderbar konkrete live-Diskussionen könnten wir anstelle solcher Ödnis in diesen Zeitfenstern doch für die ZuschauerInnen in den Regionen anzetteln, Basis-nah, analoge Runde Tische, kostengünstige Zeiten der Ermunterung, lebendige Kommunikation!

Was also läuft da schief, wenn BürgerInnen sich nicht einbezogen fühlen durch die von ihnen finanzierten Medien? Haben die einzelnen Redakteure noch den Überblick über all die Produktionen, mit denen die Millionen im Dauer-Output abgespeist werden? An welchem Menschenbild orientieren sich die öffentlich rechtlichen Programm-MacherInnen? Auf eine lähmende Tranquilizer-Wirkung können die Beitragszahler verzichten. Sie möchten wach bleiben, nicht ruhig gestellt, nicht noch mehr nervös gemacht, sondern ernst genommen werden und sie möchten mitgestalten!

Der Tempowahn in unseren unübersichtlichen Lebenswelten kostet doch schon so viel Kraft. Wie kann das Aufbegehren des Publikums kommuniziert werden? Die Rundfunkräte der ADR und der ZDF-Fernsehrat können ohne weiteres und in durchaus absehbarer Zeit im Sinn einer BürgerInnen-Partizipation fair verändert werden, denn Geld und andere Ressourcen sind vorhanden, um für mehr Transparenz der Gremien zu sorgen, undurchsichtige Strukturen sind kein Schicksal.

So könnte doch unschwer von den Beitragszahlern selbst darüber abgestimmt werden, ob ein werbefreies Programm endlich die diversen Befangenheiten gegenüber Wirtschafts-Interessen möglich macht. Und wenn jetzt rasant am Programm gespart, wesentliche Inhalte geopfert werden sollen, freie Mitarbeiter deutlich rumoren, die seriösen Redaktionen selbst ihre Kritik an der rigorosen Sparwut der Direktoren mit erheblichem Zorn diskutieren, sei auch die Frage nach obszönen Spitzengehältern im öffentlich rechtlichen Rundfunk unbedingt erlaubt.

Allerhand an Änderungen für mehr Partizipation ließe sich bewerkstelligen. Der Widerstand jedenfalls wächst, und das ist gut so.


[«*] Dr. Marianne Bäumler, Journalistin, Studium der Germanistik, Literaturwissenschaft, Theater, – Film und Literaturkritikerin für Zeitungen, Glossen in der Reihe „Auf ein Wort“, Fernseh-Features, Buch und Regie:„Arme Kinder – wenn Eltern ohne Arbeit sind“. WDR- „Höchstpersönlich – Katja Riemann“. 1985 – 1987 zwei Spielzeiten Dramaturgie im Schauspielhaus Köln. Lehraufträge an der Universität Marburg im Fach – Bereich Theater – und Medienwissenschaft. 1989: Inszenierung „Protest“ von Vaclav Havel im „Theater am Sachsenring“, Köln. Buchveröffentlichungen: „Die aufgeräumte Wirklichkeit des Erich Kästner“. Redaktion der Autobiographie „Und wehmütig bin ich immer noch“ von Günther Lamprecht.


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