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Titel: Rezension des Buches „Hartz IV und die Folgen – Auf dem Weg in eine andere Republik?“ von Christoph Butterwegge

Datum: 25. Februar 2015 um 14:10 Uhr
Rubrik: Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Rezensionen, Sozialstaat
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Vor kurzem hörte ich in einem Beitrag des Deutschlandfunks, dass sich die sozialistische Regierung Frankreichs bei ihren Reformbemühungen an der deutschen Agenda 2010 zu orientieren sucht und deshalb mit deutschen Sozialdemokraten in Kontakt steht, vor allem auch bezüglich der Frage, was sie heute anders machen würden. Um sich möglichst umfassend zu informieren, was die sozialen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen des deutschen Reformwerks sind, dessen Kern die Hartz IV-Gesetzgebung darstellt, sei den französischen Sozialisten die Lektüre des Buches „Hartz IV und die Folgen – Auf dem Weg in eine andere Republik?“ von Christoph Butterwegge empfohlen. Doch nicht nur ihnen. Dieses Buch sollte zur Pflichtlektüre jedes an Sozialpolitik interessierten Bürgers unseres Landes und insbesondere jedes Politikers werden, der unsere Sozialgesetzgebung mit zu verantworten hatte, hat oder haben wird. Von Friederike Spiecker.

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, der seit vielen Jahren intensiv über sozialpolitische Themen forscht und an der Universität zu Köln lehrt, lässt den Leser von vornherein nicht im Unklaren darüber, welche Haltung er zu der unter dem Stichwort „Hartz IV“ bekannten Sozialgesetzgebung einnimmt: „es [handelt] sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System …, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt. … [D]ie … Betroffenen … werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert.“, heißt es in der Einleitung des Buches (S.9). Der Autor informiert umfassend über Hintergründe und Zustandekommen von Hartz IV und, wie der Titel des Buches besagt, über die Folgen dieses Systems.

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Es beginnt mit einem besonders lesenswerten historischen Rückblick in die Entwicklung der Sozialgesetzgebung während und nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik. Besondern lesenswert deswegen, weil es die erschreckenden historischen Parallelen der Ersetzung des Versicherungsprinzips durch das Fürsorgeprinzip in der Sozialversicherung zwischen damals und heute nachzeichnet. Die Namensgleichheit eines damaligen Kritikers des Wohlfahrtsstaates, Gustav Hartz, mit dem VW-Personalvorstandsmitglied Peter Hartz, dessen Namen mit der heutigen Sozialgesetzgebung verbunden wird, erscheint dabei als kurioses, aber menetekelhaftes Detail.

Die folgenden drei Kapitel beschäftigen sich mit den Hintergründen der Reformbemühungen zum Um- und Abbau des Sozialstaates und den Vorgängen und Initiativen, die den Hartz IV-Gesetzen unter der rot-grünen Regierungskoalition vorausgingen. Die Wurzeln der dahinter stehenden Geisteshaltung reichen weit zurück bis in die 1980er Jahre zum sogenannten Lambsdorff-Papier, dem Christoph Butterwegge als „neoliberalem Drehbuch für die soziale Demontage“ einen ganzen Abschnitt widmet und dessen Einfluss auf das Schröder/Blair-Papier von 1999 unverkennbar ist. Aus letzterem wird der sicher auch heute noch bei vielen Sozialdemokraten konsensfähige Satz zitiert: „Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muß reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.“ Die Nähe der Arbeitskreise, Kommissionen und sonstiger Expertengremien, die die „Umbau“-Pläne für den Sozialstaat vorbereiteten, zur führenden Wirtschaftselite wird ebenso offengelegt wie ihre vorwiegend betriebswirtschaftlich geprägte Sichtweise wirtschaftlicher Zusammenhänge, die einem Mangel an gesamtwirtschaftlichem Denken gleichkommt. Die Analysefehler der Architekten der Agenda 2010, die dafür sorgten, das ökonomische Weltbild neoliberaler Provenienz zu stützen, werden angesprochen, wenn auch nicht ausführlich behandelt.

Die zweite Hälfte des Buches beginnt mit einer detaillierten Darstellung des Hartz IV-Systems und seiner rigiden Praktiken sowie einer minutiösen Nachzeichnung seiner parlamentarischen Implementierung. Die Beschreibung der erfolglosen Proteste gegen die Gesetzeseinführung und des Chaos‘ der praktischen Umsetzung liest sich tatsächlich wie ein „sozialpolitischer Albtraum“, wie es in einem Zitat von Ulrich Schneider nur allzu treffend heißt. Die Revisionen, Modifikationen und Weiterentwicklungen des Systems durch die Große Koalition ab 2005 und die schwarz-gelbe Koalition ab 2009 lassen den Leser in einen Urwald von Bürokratie blicken. Er lässt sich auf den allen Auswüchsen gemeinsamen Nenner des weiteren Sozialabbaus und des Bemühens bringen, diesen Sozialabbau als irgendwie gerechtfertigt und beschäftigungsfördernd erscheinen zu lassen. An dieser sozialpolitischen wie ökonomischen Misere dürfte auch der mittlerweile auf Betreiben der SPD in der zweiten Großen Koalition beschlossene Mindestlohn nichts ändern. Denn, wie Christoph Butterwegge schreibt, „durch den zuletzt erfolgten Preisauftrieb bei Mieten, Energie und Nahrungsmitteln genügen 8,50 Euro im Jahr 2017 selbst bei Vollzeiterwerbstätigkeit nicht mehr zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums.“ (S. 199)

Die Rolle, die die Massenmedien bei der Durchsetzung der Hartz-Gesetze gespielt haben, indem sie ein „Reformklima“ erzeugten, wird im letzten Kapitel des Buches beleuchtet. Doch das für mich interessanteste Kapitel ist das vorletzte, in dem es um die „individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Hartz-Gesetze“ geht. Neben den individuellen Tragödien der direkt Betroffenen konstatiert Christoph Butterwegge einen Wandel des gesellschaftlichen Klimas: „Verschiedentlich als ein „Gesetz der Angst“ bezeichnet, bildet Hartz IV den sozialrechtlichen Humus einer Gesellschaft der Angst und macht die Bundesrepublik gleichzeitig zu einem Land, in welchem Teile der Mittelschicht durch Verachtung gegenüber sog. Randgruppen, sozialen Absteiger(inne)n und beruflichen Verlierer(inne)n ihre Furcht vor dem gleichen Schicksal zu bewältigen suchen.“ (S. 239). Wem kämen an dieser Stelle nicht die Pegida-Demonstrationen in den Sinn?

„Hartz IV führt dem Niedriglohnsektor aufgrund der verschärften Zumutbarkeitsregeln und des enormen Sanktionsdrucks immer neuen Nachschub zu.“, schreibt Christoph Butterwegge auf Seite 231. Bringt der Leser diesen Satz mit der Passage zum Mindestlohn im vorherigen Kapitel (S. 199) in Verbindung, wo es heißt: „Die für Rekordexportüberschüsse der Bundesrepublik verantwortliche Strategie eines Lohndumpings auf Kosten anderer lässt sich also auch unter den neuen Gesetzesbestimmungen fortsetzen“, dann beginnt er zu ahnen, welches internationale Desaster durch Hartz IV angerichtet wurde und weiter angerichtet wird. Denn der Kern der Handelsungleichgewichte und damit der Eurokrise steckt genau im deutschen Lohndumping. Diesen Zusammenhang nicht stärker in den Mittelpunkt der kritischen Analyse gerückt und ihr dadurch noch mehr internationales Gewicht verschafft zu haben, ist in meinen Augen der einzige Wehrmutstropfen an diesem hoch informativen und sehr lesenswerten Buch.

Christoph Butterwegge: „Hartz IV und die Folgen – Auf dem Weg in eine andere Republik?“ Beltz Juventa 2015.


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