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Titel: Über Risken und Nebenwirkungen parlamentarischen Erfolgs

Datum: 10. Dezember 2007 um 10:45 Uhr
Rubrik: DIE LINKE, Grüne, Wahlen
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Ein Beitrag des ehemaligen NRW-Landtagsabgeordneten Daniel Kreutz, der aus seiner Sicht als damaliger Angehöriger der sog. „Fundi-Fraktion“ die Entwicklung der NRW-Grünen nach der Regierungsbeteiligung in einer rot-grünen Koalition von 1995 bis 2000 beschreibt. Damals war ich auf der „anderen Seite“ Regierungssprecher. Seine Beschreibung reizte mich zu einer Darstellung aus meiner Sicht. Das kann ich in der Kürze der Zeit nicht leisten. Hier nur so viel: Die Skeptiker einer Regierungsbeteiligung unter den Grünen und diejenigen, die in der SPD eine Große Koalition anstrebten, ließen nicht den kleinsten Dissens aus, um die rot-grüne Regierung unter Johannes Rau auseinanderzutreiben. Obwohl der Beitrag dieses Verhältnis ausspart, halte ich diesen Beitrag nicht nur der Diskussion unter den Grünen Wert, sondern er problematisiert viele Aspekte des Verhältnisses zwischen Parteien und Fraktionen, die an der Regierung beteiligt sind. Wolfgang

Mit der Gründung der Partei DIE LINKE aus ostdeutscher PDS und westdeutscher WASG wurde ein neues Kapitel der Formierungsversuche der politischen Linken in Deutschland aufgeschlagen. In diesem Aufsatz soll nicht „prognostisch“ diskutiert werden, in wieweit die neue Partei mit ihrer programmatischen Orientierung und ihrem Agieren in den parlamentarischen Institutionen tatsächlich ein geeignetes Instrument sein kann, um den notwendigen politischen Richtungswechsel für Sozialstaat, soziale Gerechtigkeit und Emanzipation, für ökologische Nachhaltigkeit und Entmilitarisierung der Außenpolitik gegen den herrschenden Neoliberalismus in Deutschland und Europa durchzusetzen.[1] Es wird davon ausgegangen, dass es diese Zielsetzungen sind, die einen Großteil der AktivistInnen in ihrem Engagement für Aufbau und Stärkung der Partei motivieren und beflügeln. Ebenso wie das interessierte Publikum sind sie zweifellos geneigt, die Ergebnisse der LINKEN bei den kommenden Kommunal- und Landtagswahlen als Maßstab für den Erfolg ihres Engagements heranzuziehen. Und zweifellos muss, wer die genannten Ziele teilt, der LINKEN bestmögliche Wahlergebnisse gegen die von den übrigen Parteien vertretenen Varianten des Neoliberalismus wünschen – auch wenn diese allein zur Zielerreichung bei weitem nicht hinreichen.
Im Folgenden soll das Augenmerk auf Risiken und Nebenwirkungen eines erfolgreichen parlamentarischen Kampfes gerichtet werden. Denn diese können, wenngleich bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, erhebliche Schäden anrichten; vor allem, wenn sie den ParteiaktivistInnen nicht bewusst sind. Ich stütze mich dabei auf Erfahrungen, die ich von 1986 bis 2000 bei den NRW-Grünen machen konnte.[2] Vermutlich hängt es mit der Unterschiedlichkeit der sozialen, politischen und kulturellen Milieus, aus denen sich die Grünen und DIE LINKE speisen, zusammen, dass eine kritische Aufarbeitung der Erfahrung mit der ersten parlamentarisch erfolgreichen „Linkspartei“ in Deutschland seit dem KPD-Verbot von 1956 im Kontext der Bildung der zweiten Linkspartei bislang kaum stattfand, obwohl ein Großteil der AktivistInnen der LINKEN die Entwicklung der Grünen im Allgemeinen durchaus als „abschreckendes Beispiel“ wahrnehmen dürfte, und einige AkteurInnen der früheren grünen Linken auch in der LINKEN eine Rolle spielen.

Parteibildung und Bewegungen
Die Grünen brachten vergleichsweise günstige Voraussetzungen dafür mit, dem Sog zur Integration in die bürgerliche politische Klasse zu widerstehen. Ein Großteil der grünen AktivistInnen war hervorgegangen aus den damaligen „neuen“ sozialen Bewegungen. In der Anti-AKW-Bewegung, in der Friedensbewegung und in der autonomen Frauenbewegung hatten sie basisdemokratische Formen der Selbstorganisation kennen- und schätzen gelernt. Die Bestrebungen zur Eroberung der parlamentarischen Bühnen entstanden aus den Bewegungen selbst, als die Möglichkeiten außerparlamentarischer Einflussnahme zunehmend ausgereizt schienen. Unter dem Motto „Wählen wir uns einfach selber!“ entwickelte sich eine meist auf lokale Basisinitiativen gestützte Wahlbewegung alternativer Listen, die wenig später in die grüne Parteibildung mündete. Der Großteil der AktivistInnen machte sich wenig Illusionen über die Integrationskraft der parlamentarischen Institutionen. Sie hatten den Staat vor allem als Herrschaftsinstrument erfahren, das den Interessen der Atom- und Rüstungswirtschaft und generell der Absicherung ökonomischer Macht diente. Sie hatten schon Manchen auf dem Marsch durch die Institutionen beobachtet, der immer wieder von „links unten“ nach „rechts oben“ führte. Sie verstanden ihre neue Partei als „Anti-Parteien-Partei“, die in den sozialen Bewegungen ihr „Standbein“ sah und den Parlamenten nur ihr „Spielbein“ widmen wollte. Darin kam das Verständnis zum Ausdruck – wenngleich theoretisch kaum verarbeitet -, dass die Kraft zu fortschrittlicher Gesellschaftsveränderung nur aus der Entfaltung von Selbsttätigkeit und Selbstorganisation in der Zivilgesellschaft diesseits des Institutionellen erwachsen kann[3], dass aber auch starke soziale Bewegungen Einfluss in den gesetzgebenden Körperschaften brauchen, um sich politisch durchsetzen zu können. Rigide Regelungen zum regelmäßigen Auswechseln des Abgeordnetenpersonals („Rotation“; anfangs auch zur Mitte einer Wahlperiode), zur Abführung eines Großteils der Diäteneinkommen an die Partei sowie zur Unvereinbarkeit von Amt und Mandat sollten die Ablösung einer sich verselbständigenden, privilegierten Kaste von BerufspolitikerInnen von der Partei und deren Herrschaft über die Partei verhindern.[4] Damit wurde – auch dies theoretisch kaum verstanden – an Postulate des früheren Rätesozialismus angeknüpft.

Demgegenüber scheint für DIE LINKE die Orientierung auf Wahlen und parlamentarische Institutionen als wesentliche Handlungsfelder von vornherein eine kaum kritisch hinterfragte Selbstverständlichkeit zu sein. Auch wenn die breiten Proteste gegen Hartz IV und die Agenda 2010 vom November 2003 über den 3. April bis zu den Montagsdemonstrationen 2004 zweifellos einen wichtigen Impuls und politischen Bezugsrahmen für die Bildung der WASG darstellten und diese zahlreiche AktivistInnen aus den Bewegungskeimen anziehen und integrieren konnte, war die WASG – und erst recht das Projekt einer neuen Linkspartei mit der PDS – nicht in vergleichbarer Weise ein Produkt basisdemokratischer Bewegungen, wie dies bei den Grünen der Fall war.[5] Eher kann die Entwicklung von der Gründung der WASG bis zur Konstituierung der LINKEN als wahlpolitisch-parlamentarische Antwort auf die Krise der parlamentarischen Repräsentanz des Sozialen bei fehlenden Perspektiven zur Entfaltung starker außerparlamentarischer Oppositionsbewegungen (ab Ende 2004) gesehen werden. Ihre tragenden Kräfte kamen in hohem Maße aus „politiknahen“ intermediären Apparaten zwischen Zivilgesellschaft und politischer Klasse (z.B. Gewerkschaften, kritische Wissenschaft) sowie – sich damit in erheblichem Umfang überschneidend – aus linkssozialdemokratischen Kreisen, die ihre parteipolitische Beheimatung in Folge der neoliberalen Wende der SPD verloren hatten. Die positive Bezugnahme der LINKEN auf „die sozialen Bewegungen“ ist weniger Ausdruck einer Selbstverortung in Bewegungen bzw. Bewegungskeimen, sondern eher eine theoretisch vermittelte Bezugnahme auf ein (potenzielles) Anderes, um dessen Bedeutung man zu wissen glaubt. Von Seiten der PDS ging eine Partei in DIE LINKE ein, die längst als Teil der politischen Klasse Ostdeutschlands etabliert und institutionalisiert ist und dort den traditionellen Platz einer „sozialdemokratischen Volkspartei“ besetzt.[6] Pointiert ausgedrückt, musste sich die Formierung der LINKEN im Unterschied zu den Grünen „von oben nach unten“ vollziehen.[7]

Grüne Linkspartei
Die NRW-Grünen standen zu Beginn der 1990er Jahre mehrheitlich auf dem linken, ökosozialistisch beeinflussten Flügel ihrer Bundespartei, die ihrerseits links von der SPD stand.[8] Obwohl die Zahl ihrer gewerkschaftlichen AktivistInnen eher gering war, suchten die NRW-Grünen die großen gewerkschaftlichen Kämpfe der 1980er Jahre – etwa den Kampf um die 35-Stunden-Woche oder die Betriebsbesetzung beim Kampf um Krupp-Rheinhausen – politisch zu verarbeiten. Sie vertraten ein radikalreformerisches Programm sozial-ökologischer und basisdemokratischer Gesellschaftstransformation, das unter Verzicht auf antikapitalistische Verbalradikalismen über den Kapitalismus hinauswies.[9] Solchen Orientierungen fühlte sich nicht nur die Mehrheit der grünen Oppositionsfraktion im Landtag 1990-1995 verpflichtet, sie prägten auch noch das Wahlprogramm von 1995, auf dessen Grundlage die zweite Landtagsfraktion schließlich in Koalitionsverhandlungen mit der SPD eintrat. Es wäre eine für die Linke insgesamt lohnende Fragestellung systematischer Analyse – auch zur kritischen Prüfung der hier vorgetragenen Thesen – wie es möglich war, dass diese Partei kaum drei Jahre später zur Mehrheitsbeschafferin einer neoliberalen Regierungspolitik zunächst unter Wolfgang Clement, dann unter Peer Steinbrück werden konnte, die einen der grünen Programmatik entgegen gesetzten Kurs verfolgte, und aus welchen Quellen sich jene Veränderung des politischen Selbstbewusstseins speiste, die den NRW-Grünen einen scheinbar bruchlosen und weitgehend geräuschlosen Anschluss an die neoliberale Wende von Bundestagsfraktion und Bundespartei ermöglichte.

Etablierung einer politischen Klasse
Die Veränderung des politisch-programmatischen Charakters einer gesellschaftlich relevanten Partei ist nicht im eigentlichen Sinne das Werk von Führungsfiguren. Sie setzt eine Basis unter den FunktionsträgerInnen der lokalen und regionalen Gliederungen voraus, die dazu bereit ist und deshalb entsprechende Vorschläge aus ihrer Führungsriege unterstützt.[10] Zu den Bedingungen, die die Veränderung der NRW-Grünen begünstigten, zählte sicher zum einen die sozioökonomische Interessenlage des stark von (lohnabhängigen) ModernisierungsgewinnerInnen geprägten grünen Parteiklientels, zum anderen die Präsenz einer starken Minderheit von „Realos“, die das linke strukturelle Misstrauen in die parlamentarischen Institutionen des bürgerlichen Staates für falsch hielten, sondern darin den einzig möglichen Hebel gesellschaftlicher Veränderung sahen und – anfangs deshalb – dort „ankommen“, an- und aufgenommen werden wollten.

Die wichtigste objektive Bedingung für die Transformation der Grünen ins Gegenteil ihrer selbst war zweifellos das Verebben autonomer gesellschaftlicher Bewegungen nach dem Höhepunkt der Friedensbewegung im Kampf gegen die NATO-„Nachrüstung“, wodurch die Partei ihre Einbettung in ein Milieu kritischer AktivistInnen einbüßte und gleichsam auf dem Trockenen strandete. Mit der Auflösung des bewegungspolitischen „Standbeins“ wurden die parlamentarischen Institutionen zum zentralen Terrain politischer Arbeit. Die Herausbildung einer grünen „politischen Klasse“ wurde unvermeidlich. Die formalen Regeln, die dies verhindern sollten, erwiesen sich unter diesen Umständen als wirkungslos und teils unpraktikabel.
Die Herausbildung einer sich von den normalen Parteimitgliedern abhebenden politischen Klasse (im grünen Jargon der 1980er Jahre „Promis“) entspringt zunächst dem Wissens- und Erfahrungsvorsprung derer, die als Mandatierte an der parlamentarischen „Front“ die Spielregeln, rechtlichen und fiskalischen Handlungsmöglichkeiten und –grenzen des Kommunal-, Landes- oder Bundesparlaments in den verschiedenen Politikfeldern sowie das übrige Rüstzeug professioneller Politik erlernen.[11] Sie teilen diese Kompetenzen mit den Mitgliedern der anderen Fraktionen, den „Kolleginnen und Kollegen“. In dem Maße, wie sie „professionell“ mit den gegebenen Rahmenbedingungen umgehen lernen, d.h. ihr Engagement innerhalb der Grenzen des gegebenen Rahmens rechtlicher Zuständigkeit und fiskalischer Möglichkeit entfalten, bleibt die persönliche Anerkennung durch die interfraktionelle Gemeinschaft der Profis kaum aus.
Infolge ihrer besonderen Kompetenzen auf den parlamentarischen Schauplätzen sowie ihrer in Parlamentsdebatten wachsenden rhetorischen Fähigkeiten werden die Mandatierten unvermeidlich zu MeinungsführerInnen in innerparteilichen Diskussionen. Ähnliches gilt – schwächer, aber immer noch deutlich ausgeprägt – für die hauptamtlichen MitarbeiterInnen der Fraktionen, die bei den Grünen nicht selten örtliche Parteifunktionen (teils auch Mandate) innehatten und Botschaften aus der Fraktion in die Parteibasis tragen. Die hauptamtlichen Apparate der Landtags- und Bundestagsfraktionen, denen die Partei nichts Vergleichbares entgegensetzen kann, bilden einen eigenständigen Machtfaktor in der Partei. Daraus entwickelt sich die Tendenz, dass – jeweils bezogen auf die Ebenen der Kommune, des Landes und des Bundes – nicht die Partei ihre Fraktion, sondern umgekehrt die Fraktion ihre Partei führt.
Die politische Klasse bildet indes keine bloß kompetenzbasierte, sondern auch eine sozialökonomische Schicht in der Partei. Machten die Mandatierten ihre Sache gut, war es bei den Grünen oft nicht zuletzt die Partei, die wünschte, dass sie ihre Arbeit über mehrere Wahlperioden hinweg fortsetzten. Mit zunehmender Entfremdung vom früheren Beruf werden die professionalisierten Abgeordneten der Landtage und des Bundestags auch existenziell vom Wahlerfolg der Partei abhängig. Mehr noch gilt dies für die hauptamtlichen Mitarbeiterstäbe, die auf Landes- und Bundesebene ihren Fraktionen zahlenmäßig weit überlegen sind. Ähnlich wie freigestellte Betriebsräte und Hauptamtliche der Gewerkschaften genießen die FraktionärInnen gemeinsam das Privileg, ihre Arbeitskraft der guten politischen Sache widmen zu können. Gerade in öffentlich zugespitzten politischen Auseinandersetzungen kann existenzielle Abhängigkeit von der Fraktion und ihrer Größe – d.h. vom Wahlergebnis – die Freiheit und Sachorientierung ihrer politischen Meinungsbildung einschränken. Vor allem weniger profilierte Abgeordnete neigen dazu, in umstrittenen Fragen „mehrheitsfähige“ Auffassungen zu vertreten, um ihre Wiederaufstellung zu sichern. Oft kommt es dabei zur Aufspaltung ihrer politischen Meinung in eine „offizielle“ und eine „eigentliche“ Meinung, die nur noch im Kreis der engeren Vertrauten artikuliert wird. Die Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit von Abgeordneten erfolgte bei den Grünen vor allem zur Rechtfertigung eines Abstimmungsverhaltens im Bundestag, dass in Gegensatz zu Parteibeschlüssen stand.
In dem Maße, wie in bewegungsarmer Zeit die Parlamente als die zentralen Kampfplätze erschienen, drehten sich auch die strategischen Vorstellungen von „realistischen“ gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zunehmend um die Frage rot-grüner Reformregierungen, die mittels Gesetzgebung und Verwaltungshandeln notwendige Veränderungen ins Werk setzen und damit den sozialökologischen Transformationsprozess „einleiten“ könnten. Das frühere Verständnis von außerparlamentarischem „Standbein“ und parlamentarischem „Spielbein“ begann sich umzukehren. Starke und autonome soziale Bewegungen erschienen nicht mehr als unabdingbare, tragende Kräfte der Veränderung, sondern „Druck von unten“ wurde zunehmend funktional – als erwünschte Unterstützung eigener Reformforderungen – begriffen. Das neue Selbstverständnis als gleichsam „staatliche Reformavantgarde“ verlieh der grünen politische Klasse gesteigertes Selbstbewusstsein.

Politische Klasse und Mediendemokratie
Die Kommunikation von parlamentarischer Politik und Gesellschaft vollzieht sich bekanntlich vor allem mit Hilfe der kapitalistischen Medienindustrie. Dies gilt insbesondere in bewegungsarmen Zeiten, in denen alternative Medien und Kommunikationsnetzwerke „von unten“ nur schwach entwickelt sind. Da die Medien für eine Fraktion das wichtigste Instrument sind, um Botschaften in die allgemeine Öffentlichkeit zu transportieren, gilt Medienpräsenz als wichtiger Maßstab erfolgreicher parlamentarischer Arbeit. Dies führt zu der Tendenz, dass die für Landes- bzw. Bundespolitik zuständigen JournalistInnen zur wichtigsten unmittelbaren Zielgruppe des parlamentarischen Alltags werden, bei der es Eindruck zu machen gilt. Das symbiotische Verhältnis von professioneller Politik und Medien trägt mit zur Bildung des Elitenbewusstseins der politischen Klasse bei. Ähnlich wie bei der LINKEN war der politische Aufstieg der NRW-Grünen zumeist von „schlechter Presse“ begleitet, wobei indes Kritik und Häme der bürgerlichen Medien oft eher als Bestätigung und Bestärkung des oppositionellen Selbstgefühls der Grünen und ihrer SympathisantInnen wirkten. Als Regierungspartei empfanden die Grünen „schlechte Presse“ zunehmend als unangenehm. Das (verständliche) Bestreben, „gute Presse“ zu erzielen, begünstigt indes Anpassungen auch von politischen Botschaften an das herrschende Politikverständnis der Medien.
Je mehr sich die politische Klasse verselbständigt, umso stärker wird ihr Bild gesellschaftlicher „Wirklichkeit“ von den Medien beeinflusst. Faustregel: was nicht in der Zeitung steht, ist bedeutungslos. Wenn sich andererseits die Scheinwerfer grell auf ein bestimmtes Thema richten, wird dies leicht zu einem Politikum, zu dem man glaubt, „sich verhalten“ zu müssen, um „vorzukommen“, auch wenn die tatsächliche politische Relevanz eher gering ist. Diese Mechanismen begünstigen Ablenkungen von den originären politischen Schwerpunkten und können auch die programmatische Auf- oder Abwertung bestimmter Problematiken beeinflussen.
Auch das Bild, das sich die Parteimitgliedschaft und – noch stärker – die eigene Wählerschaft von der Fraktion und ihrer Performance machen, wird maßgeblich von der Darstellung in den Medien beeinflusst. Die Politprofis lernen, dass Pressearbeit ein Instrument ist, das seine stärkste Wirkung bei den „eigenen Leuten“ erzielt, denn diese nehmen Medienbotschaften über „ihre“ Fraktion weitaus aufmerksamer wahr als der große Rest der Öffentlichkeit. Medienberichterstattung kann hier meinungsbildende Wirkungen in einer Geschwindigkeit und Breite erzielen, die mit parteieigenen Kommunikationsinstrumenten kaum erreichbar ist. Die politische Klasse nutzt diese Möglichkeit auch in zugespitzen innerparteilichen Diskussionen. Die Chance, Botschaften in den Medien zu platzieren, hängt weniger von der intellektuellen Qualität als vom Rang der AkteurInnen ab. Sie ist bei MinisterInnen größer als bei Fraktionsvorsitzenden und bei diesen größer als bei Abgeordneten. Der „Führungsspitze“ ist es eher möglich als anderen, öffentliche und innerparteiliche Diskussionen mit Hilfe der Medien zu beeinflussen.

Entpolitisierung der Parteibasis
Die Basis der politischen Klasse bilden die Kommunalfraktionen. Sechs Jahre bevor die NRW-Grünen 1990 mit 5 % und 12 Abgeordneten erstmals in den Landtag einzogen, verfügten sie bereits über gut 270 Ratsmitglieder. Die Kommunalparlamente sind keine eigenständige legislative Gewalt, sondern Teil der Verwaltung. Man lernt dort rasch die Realitäten des kommunalen Haushalts und der von landes- und bundesrechtlichen Vorgaben gesetzten Grenzen kommunalpolitischer „Zuständigkeit“ und Gestaltungsfähigkeit kennen, die man zwar politisch angreifen, aber allein nicht ändern kann. Man lernt, die Probleme der Zivilgesellschaft durch die verrechtlichte Brille der Verwaltung zu betrachten. Im Bestreben, zwar bescheidene, aber immerhin greifbare Verbesserungen erreichen zu können, neigen auch ausgewiesene Linke schließlich dazu, ihre politische Arbeit auf die Nutzung real existierender Handlungsmöglichkeiten der Kommunalpolitik zu fokussieren. Dabei lässt die politische Wahrnehmung von Bereichen, für die man keine Zuständigkeit hat, tendenziell nach.[12]
Naturgemäß nehmen Fragen der Kommunalpolitik in den Debatten der örtlichen Gliederungen einen breiten Raum ein – besonders, wenn die Fraktion in eine für die Mehrheitsbildung im Rat bedeutsame Lage kommt, was Mitte der 1990er Jahre in einem Viertel der NRW-Kommunen zutraf. Wenn Bundestags- und Landtagsfraktion bestehen, entwickeln „Kommunalos“ eine pragmatische Neigung („man kann sich nicht um alles kümmern“) Debatten über Bundes- und Landespolitik[13] vorrangig den hierfür „Zuständigen“ zu überlassen, soweit nicht „kommunale Interessen“ tangiert sind. Dabei wird tendenziell verdrängt, dass insbesondere die sozialen Lebensbedingungen in den Kommunen nur in geringem Umfang von der Kommunalpolitik beeinflussbar sind. In gewisser Weise ist dies ähnlich wie bei Betriebsräten, die in langjähriger täglicher Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber bezüglich betrieblicher Probleme auch eher selten dazu kommen, sich mit Grundsatzfragen gewerkschaftlicher Politik zu befassen, und die deshalb nicht selten jenen „pragmatischen Realismus“ betrieblichen Co-Managements mit dem Kapital entwickelten, der indes weder pragmatisch noch realistisch ist, wenn man nach seinem Potenzial zur Erreichung gewerkschaftspolitischer Ziele fragt. So entsteht eine quasi naturwüchsige Tendenz zur Entpolitisierung der aktiven örtlichen Parteibasis, in denen die „große Politik“ schließlich Gegenstand besonderer Veranstaltungen außerhalb der kommunalpolitisch geprägten Routinen wird. Landespolitik (und noch mehr EU-Politik) hat es besonders schwer, weil sie weder unmittelbar vor Ort zugänglich ist wie Kommunalpolitik, noch eine der Bundespolitik vergleichbare mediale Aufmerksamkeit genießt und zudem ihre tatsächlichen rechtlichen Zuständigkeiten oft wenig bekannt sind.
In den NRW-Grünen machte sich diese „Verkommunalisierung“ und Entpolitisierung der Diskussionskultur ihrer örtlichen Gliederungen im Laufe der 1990er Jahre zunehmend bemerkbar, wozu vor allem die Zunahme der grünen Beteiligung an kommunalen Koalitionen beitrug. Eine „Regierungspartei“ verfügt über erweiterte Möglichkeiten der Einflussnahme auf Stellenbesetzungen in der Verwaltung, was verstärkt Personen anzieht, die hoffen, dass Präsenz in der Parteiarbeit ihnen als Sprungbrett in einen existenzsichernden (oder besseren) Job dienen kann. Zugleich gewinnt die Partei an Bedeutung für VertreterInnen von Projekten und Verbänden, die auf öffentliche Fördermittel angewiesen sind und die Partei nun als Instrument sehen, um ihre Förderung zu verteidigen oder durchzusetzen. Solche an sich legitimen, für eine nach Gesellschaftsveränderung strebende Partei jedoch wenig fruchtbaren Motive machen es erforderlich, dass man es sich mit denen, die Einfluss auf die Vergabe von Jobs und Mitteln haben, nicht verdirbt. Einer sachbezogenen politischen Diskussionskultur, deren Kritikfähigkeit auch vor der eigenen politischen Klasse nicht Halt macht, ist das wenig förderlich. Kommt es gar dahin, dass die einfachen, sich aus selbstloser politischer Überzeugung engagierenden Parteimitglieder in den innerparteilichen Debatten in den Parteiversammlungen zur Minderheit werden, wird das Parteileben zu einer selbstreferenziellen Veranstaltung der politischen Klasse, die kaum noch unmittelbarer politischer Einwirkung aus der Zivilgesellschaft ausgesetzt ist. Die Partei läuft Gefahr, zu einem „Politikunternehmen“ zu mutieren, das sich vor allem am „Wählermarkt“ zu behaupten hat und die Entwicklung seiner Programmatik nicht zuletzt an entsprechenden Marketing-Erwägungen ausrichtet.

Das Dilemma der Regierungsbeteiligung
Die Frage der Regierungsbeteiligung zählt heute in der LINKEN zu den heiß umstrittenen Themen. Soweit der Verfasser die Auseinandersetzungen um die rot-rote Berliner Koalition wahrnehmen konnte, wiesen sie in vielerlei Hinsicht (teils frappierende) Ähnlichkeiten mit den Debatten der Grünen über ihre erste NRW-Koalition auf. Und damals wie heute ist die Regierungsfrage von einem Dilemma geprägt, das zwar in der Theorie leicht, in der Praxis dagegen nur äußerst schwer – wenn überhaupt – aufgelöst werden kann.
Einerseits muss eine linke Partei, die sich wesentlich als parlamentarische Reformkraft versteht, um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen nach maßgeblichem Einfluss auf Gesetzgebung und politische Gestaltung streben. Der ist in der Regel nur erreichbar, wenn man Regierungsfraktion wird. Zwar sind auch Modelle der Tolerierung von Minderheitsregierungen denkbar. Ob man dafür aber einen Partner findet, der sich tolerieren lässt, bleibt in Deutschland vorerst ebenso fraglich wie die Fähigkeit der eigenen Wählerschaft, die Ablehnung möglicher Koalitionsverhandlungen politisch nachzuvollziehen. In eine für die Mehrheitsbildung entscheidende Position zu kommen, wird meist als besonderer parlamentarischer Erfolg wahrgenommen, der einen hohen Erwartungsdruck aus Partei und Wählerschaft auslöst.
Andererseits wären vorerst sämtliche Koalitionen, an denen sich DIE LINKE beteiligen könnte, Bündnisse mit meist deutlich stärkeren Parteien, die ihrerseits auf eine Konsolidierung oder Vertiefung des neoliberalen Systemwechsels zielen. Eine politische Richtungsänderung im Sinne der Ziele der LINKEN ist in solchen Konstellationen nicht erreichbar; lediglich eine Bremsung des Marschs in die falsche Richtung und eine Akzeptanzsteigerung für die Regierung durch gute reformerische Maßnahmen in Teilbereichen, die indes die Richtung des Ganzen kaum tangieren. Hier liegt ein substanzieller Unterschied zu der Zeit des Aufstiegs des „rot-grünen Projekts“ bei den Grünen. Bezogen auf die noch-sozialdemokratische SPD in der Nachfolge von Lafontaines damaligen „Fortschritt 90“-Programm war seinerzeit der Gedanke einer gemeinsamen Reformstrategie zum „Einstieg“ in einen sozialökologischen Umbau der Industriegesellschaft als grundlegende politische Richtungsänderung gegenüber der Kohl-Regierung noch durchaus plausibel.
Eine Absage an Regierungsbeteiligungen auf Landes- und Bundesebene in Gestalt konkreter, auf den notwendigen Richtungswechsel hin zugespitzter Bedingungen, ist daher vorerst politisch gut begründbar[14] und erscheint theoretisch sogar zwingend. Sie dürfte aber mit Eintreten des „Ernstfalls“ am Wahlabend in Konflikt geraten sowohl mit dem Politikverständnis eines bedeutenden Teils der Parteiaktiven als auch mit den Erwartungen eher überwiegender Teile der eigenen Wählerschaft. Das Festhalten an „fundamentalistischen“ (d.h. grundsätzlichen, die Richtung bestimmenden) Bedingungen würde dann zweifellos aus allen Rohren und in allen Varianten mit dem bekannten Medien-Mantra beharkt, dass DIE LINKE nur zu „populistischen Sprüchen“ in der Lage sei, aber vor der Verantwortung fliehe.
Eine Linkspartei, die in bewegungsarmer Zeit ihre Wahlerfolge steigern will, wird eher zu Konzessionen an das Alltagsbewusstsein ihres Wählerpotenzials neigen als zu rationalen Positionierungen, die mit den Erwartungen der Wählerschaft kollidieren und womöglich zu schlechteren Wahlergebnisses führen können. Führt dies dazu, dass man sich Koalitionsverhandlungen mit gegnerischen Parteien nicht entziehen kann, wird es allerdings brandgefährlich, wie die Erfahrung der NRW-Grünen in der ersten rot-grünen Koalition gezeigt hat. Deren Entwicklung sei deshalb kurz skizziert.

Die NRW-Grünen unter Rot-Grün
Bei der Landtagswahl 1995 konnten die Grünen nach fünf Jahren konsequenter Oppositionspolitik ihren Stimmenanteil und ihre Fraktionsstärke verdoppeln, während die SPD ihre fünfzehnjährige absolute Mehrheit verlor. Da die FDP an der 5 %-Hürde scheiterte, blieb der SPD nur die Alternative Rot-Grün oder Große Koalition. Die NRW-SPD stand auf dem rechten (aus heutiger Sicht: neoliberalen[15]), die grüne Landespartei auf dem linken Flügel ihrer jeweiligen Bundesparteien. Beide wussten um die Breite der politischen Kluft zwischen ihnen. Sie vertraten substanziell entgegengesetzte Richtungen, so dass eine Konsensbildung über eine gemeinsame Reformstrategie undenkbar war. Insoweit glich die Lage derjenigen, der DIE LINKE heute gegenüberstünde. Sie erschien jedoch damals günstiger als heute, weil die neoliberale Wende der SPD noch keineswegs abgeschlossen war und die linken Grünen insgeheim noch der Illusion nachhängen konnten, dass man mit dem Rückenwind wiederauflebender außerparlamentarischer Aktivitäten und zusammen mit einem linken Flügel in der SPD den Einfluss der „Modernisierer“ zurückdrängen könnte.
Die Grünen hatten die rot-grüne Ablösung der SPD-Alleinregierung zum obersten Wahlziel erklärt. Damit sollten einerseits die Voraussetzungen für die Durchsetzung eines rot-grünen sozialökologischen Reformprojekts gegen die Kohl-Regierung im Bund verbessert[16] und andererseits das Land selbst schrittweise auf einen sozialökologischen Entwicklungspfad bewegt werden. Dabei unterstrichen sie ihre Entschlossenheit, sich keinesfalls zum bloßen Mehrheitsbeschaffer degradieren zu lassen. Als sich die SPD trotz größerer inhaltlicher Nähe zur CDU schließlich zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Grünen durchrang, weil der Preis eigenen Machtverlusts mit ihnen erheblich geringer ausfallen würde als bei einer Großen Koalition, gab es für die Grünen keinen Weg zurück. Da der mühsam ausgehandelte, umfangreiche Koalitionsvertrag nichts enthielt, was der hoffenden Partei und Wählerschaft öffentlich als überzeugender Grund für dessen Ablehnung vermittelbar gewesen wäre, traten die Grünen in die Landesregierung ein. Aber statt der Landespolitik eine andere Richtung zu geben, sollte die reale reformerische Hauptleistung der Koalition in der Transformation der Grünen zum Erfüllungsgehilfen neoliberaler Politik bestehen.
Die machtbewusste SPD ging unverzüglich daran, ihr missliebige Vereinbarungen des Koalitionsvertrags nachträglich zu revidieren und die Grünen damit wiederholt vor die Frage zu schieben, sich entweder zu unterwerfen oder die Koalition zu beenden. Bereits der erste Konflikt dieser Art spaltete 1996 die linke Zweidrittelmehrheit der grünen Landtagsfraktion in zwei Hälften. Eine „Regierungslinke“ um Umweltministerin Bärbel Höhn bildete mit der „Realo“-Minderheit einen Block, der Mehrheiten in der Fraktion gegen die Koalition ausschloss. Die neue Konstellation verlängerte sich unverzüglich in die Partei hinein und spaltete die grüne Linke in NRW insgesamt. In den verschiedenen Runden der Koalitionskonflikte galt es, die Debatte in die Kreisverbände hineinzutragen. Beide Seiten fanden dabei Unterstützung von engagierten hauptamtlichen MitarbeiterInnen der Fraktion. Dem Regierungsblock standen allerdings auch entsprechende Kräfte aus den beiden grünen Ministerien zur Verfügung, was zu einer gewissen Ungleichheit der Möglichkeiten führte.
Es gelang dem Regierungsblock mit Unterstützung aus der Bundespartei [17] wiederholt, die Landespartei zum Votum für den Rückzug zu bewegen, um die Koalition fortsetzen zu können. Die koalitionskritische Linke hielt es für zweifelhaft, ob die SPD die Konflikte bis zum Bruch treiben würde. Tatsächlich hatte diese dabei mehr zu verlieren als die Grünen. Die Linke kritisierte das vorzeitige Einlenken des grünen Regierungsblocks, noch bevor der normale parlamentarische Geschäftsgang ernsthaft in Frage gestellt war. Sie befürchtete – wie sich zeigte, zu recht – dass ein Erfolg des Ultimatums den großen Koalitionspartner zu entsprechenden Wiederholungen ermutigen und dieses Vorgehen zu einem „Muster“ der Koalitionsarbeit würde. Sie fürchtete einen Bruch mit politischen Basisinitiativen im Land, zu deren Anliegen die Grünen sich programmatisch bekannten und für deren Berücksichtigung sie unlängst in den Koalitionsverhandlungen erfolgreich gestritten hatten. Sie sahen die öffentliche Glaubwürdigkeit der Partei in Gefahr. Der Regierungsblock verwies nicht nur auf das drohende Aus für die politischen Maßnahmen und Förderprogramme, die die Grünen der SPD in Teilbereichen hatten abringen können. Er bediente sich wiederholt des Argumentationsmusters, wonach ein Bruch der Koalition am jeweils aktuellen Konfliktpunkt gleichbedeutend sei mit der Kapitulation in jeweils „wichtigeren“ Streitfragen, die in Zukunft bevorstünden. Daher müsse man jetzt einlenken, um die Chance zur Veränderung der Landespolitik auf diesen Feldern nicht aus der Hand zu geben. Die Koalitionskonflikte wurden begleitet von einer lebhaften, zumeist auf die Leitfrage nach der „Regierungsfähigkeit“ der Grünen fokussierten Medienberichterstattung.
Als wichtigste „Sollbruchstelle“ der Koalition war schon im Koalitionsvertrag der Konflikt um die Genehmigung des Rahmenbetriebsplans für den Braunkohletagebau Garzweiler II des Energieriesen RWE festgeschrieben, der sich schließlich um die Jahreswende zum Bundestagswahljahr 1998 unausweichlich zuspitzte. Im Verlauf der vorangegangenen Koalitionskonflikte um andere Fragen hatte die grüne Landespartei die Verhinderung des Tagebaus flügelübergreifend zu ihrem obersten Ziel erklärt und dies ausdrücklich mit der Koalitionsfrage verknüpft. Die SPD bestand dagegen auf dem „größten Loch Europas“, nicht zuletzt wegen der sonst akuten Gefahr eines Bruchs mit der Bergbaugewerkschaft. Wegen seiner energie- und klimapolitischen sowie auch regionalpolitischen Bedeutung (Umsiedlung und Abbaggerung von 13 Ortschaften) führte der Koalitionsstreit um Garzweiler zu einer außerordentlichen Polarisierung der NRW-Grünen, bei der sich auch ein paar bekannte „Realos“ auf die Seite derer schlugen, die im Falle einer Unterwerfung auch in dieser Kardinalfrage einen völligen Glaubwürdigkeitsverlust der Partei befürchteten, der auch den Reformgehalt des rot-grünen Projekts im Bund beschädigen müsse. Die Koalition trotz Garzweiler II fortzusetzen, bedeute Mitregieren um jeden Preis bei vollständiger Preisgabe eigener Durchsetzungsfähigkeit.[18] Mit hauchdünner Mehrheit setzte sich auf dem Sonderparteitag im Januar 1998 gleichwohl erneut der Regierungsblock mit Unterstützung der Bundesprominenz durch; wiederum in Namen der rot-grünen Ablösung der Kohl-Regierung, wiederum mit Hilfe der irreführenden Behauptung, die eigentliche Entscheidung über den Tagebau stehe nach der Genehmigung des Rahmenbetriebsplans erst noch bevor, weshalb der Kampf in der Regierung fortgesetzt werden müsse.
Die knappe Mehrheit der Delegierten wurde indes weniger von den Sachargumenten beeinflusst als von Sekundärerwägungen. Viele „Kommunalos“ vor allem aus den rot-grünen Kommunen – auch solche, die sich zur Linken in der Bundespartei rechneten – hatten es satt, immer wieder mit Koalitionsstreitigkeiten auf Landesebene behelligt zu werden, die sich nachteilig auf das Klima der Zusammenarbeit zu Hause auswirkten. Stattdessen wünschten sie eine Landespolitik, die ihnen den Rücken freihielt. Sie fürchteten den Verlust der partiellen Errungenschaften der grünen Regierungsbeteiligung bei Maßnahmen und Programmen, die ihrer kommunalpolitischen Arbeit zugute kamen. „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ schien ihr Motto zu sein.
Von großer Bedeutung war zudem ein Mechanismus, der sich mit fatalen Folgen für die berühmte grüne „Streitkultur“ seit Beginn der Koalition etabliert hatte. Man hatte sich daran gewöhnt, die Anträge auf Parteitagen weniger nach ihrem Inhalt zu beurteilen, sondern vor allem danach, welche Personen im Fall von Annahme oder Ablehnung politisch gestärkt oder geschwächt würden. Diese Art der Personalisierung von Politik ist wesentlich ein Produkt der Medien, deren personalisierte Berichterstattung die Realitätswahrnehmung der politischen Klasse maßgeblich prägt. Verständlicher Weise hat eine Parteibasis in aller Regel den Wunsch, ihr gewähltes Führungspersonal, das die Partei in der Öffentlichkeit verkörpert, nicht im Angesicht der Öffentlichkeit und der politischen Gegner zu beschädigen. Tritt nun in einer öffentlich zugespitzten Streitfrage der Koalititonspolitik die Mehrheit der politischen Klasse einschließlich der MinisterInnen geschlossen gegenüber der Parteibasis auf, ist es außerordentlich schwer, ein Parteitagsvotum herbeizuführen, das von den Medien und den politischen Gegnern als „Misstrauensvotum“ gegen die eigene Spitzenmannschaft gewertet wird. Die politische Klasse weiß das. Ihre sachlich oft zweifelhafte Argumentation dient weniger der Klärung umstrittener Probleme, sondern bildet eher ein Angebot an die Delegierten zur Legitimierung eines konformen Votums. Auch deshalb findet eine inhaltliche Auseinandersetzung mit kritischen Argumenten kaum mehr statt.
Für die Meinungs- und Willensbildung einer Partei, die auf eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung zielt, ist ein Verfall der internen Streitkultur, wie er sich im Zusammenwirken von Eigeninteressen der politischen Klasse, der faktischen politischen Führung der Partei durch die Parlamentsfraktionen und einer deutlichen Ermattung und Entpolitisierung der Parteibasis damals bei den NRW-Grünen entwickelt hat, einigermaßen tödlich.

… hat es doch Methode
Die skizzierte Entwicklung stützte sich zwar in hohem Maße auf die Macht des Faktischen, setzte sich aber dennoch nicht nur „hinter dem Rücken“ der AkteurInnen durch. Recht frühzeitig war ein Strategiepapier der Bundes-„Realos“ aufgetaucht, das mit Blick auf eine Veränderung der innerparteilichen Kräfteverhältnisse zugunsten der „Regierungsfähigkeit“ im Bund bewusst auf eine weitere „Häutung“ der NRW-Grünen unter dem Druck der Koalition setzte, d.h. auf eine Spaltung der Linken mit anschließender Absplitterung der „linken Linken“. Im regierungserfahrenen „Realo“-Flügel war das Verständnis der politischen Prozesse, die die „Sachzwänge“ der Regierungsbeteiligung bei den beteiligten AkteurInnen der innerparteilichen Strömungen auslöst, ungleich entwickelter als auf der grünen Linken. Der Gang der Dinge bestätigte jedenfalls vollkommen die Prognose jenes Strategiepapiers.
Die „Realos“ rückten unter der Koalition weiter nach rechts und übernahmen teils offen SPD-Positionen. Dadurch verlagerten sie den Streit darüber zunehmend aus der Sphäre zwischen den Koalitionsparteien in die eigene Fraktion hinein. Die „Regierungslinke“ rückte auf den politischen Platz nach, den zuvor die „Realos“ eingenommen hatten. Der koalitionskritischen Linken wurde mit Hilfe der Medien das „Fundi“-Etikett aufgeklebt, obwohl sie mit dem vormaligen „Fundi“-Flügel, der Regierungsbeteiligungen prinzipiell ablehnte, politisch nicht vergleichbar war. Tatsächlich verteidigte sie lediglich die programmatische und politische Eigenständigkeit der Grünen auf der Grundlage der Parteibeschlüsse und des Koalitionsvertrags. Indes suggerierte das „Fundi“-Etikett der Öffentlichkeit, es gehe hier um „politikunfähige Radikale“.

Dass die Grünen mittlerweile grundsätzlich aufgeschlossen sind für schwarz-grüne und „Jamaika“-Koalitionen, ist nicht zuletzt Folge eines Koalitionsverständnisses, das sich mit Hilfe der NRW-Regierungslinken in der Partei verbreitete. Die rot-grüne Landesregierung richtete zunehmend Schäden an – über die „Achse Düsseldorf-München“ und im Rahmen der informellen Großen Koalitionen im Vermittlungsausschuss auch bundespolitisch -, die der SPD zugeschrieben wurden. Statt Motor einer Reformkoalition zu sein, verstand sich der Regierungsblock tatsächlich als Kraft (sozial-)ökologischer Schadensbegrenzung. Diese Rolle kann man selbstverständlich in allen Konstellationen spielen, weshalb jede Regierung mit Grünen „besser“ ist als ohne[19]. Regierungsbeteiligung wird Programm.

„Es rettet uns kein höh’res Wesen…“
Die strömungspolitischen Konstellationen in der LINKEN mit starken „regierungsorientierten“ Kräften, die sich nicht allein auf die „Ankommer“ aus der ex-PDS beschränken, lassen eine Wiederholung ähnlicher parteiverändernder Entwicklungen mit Hilfe von Landeskoalitionen auch im Westen keineswegs ausgeschlossen erscheinen.[20] Durch eine demonstrativ standfeste Haltung am Anfang einer Koalition, mit großen Mehrheiten in Parteibeschlüsse gegossen, lässt sich das Risiko nicht bannen. Unter dem Druck des gegnerischen Partners und des „Verantwortungsbewusstseins“ der eigenen politischen Klasse hinsichtlich der „realen Regierungsalternativen“ ist die Halbwertszeit solcher Maßnahmen eher gering. Auf diesem Prüfstand erweist sich der Vorrat an Standfestigkeit zum eigenen Ziel einer grundsätzlichen politischen Richtungsänderung allzu leicht als unzureichend, wenn er sich nicht aus einem wachsenden Veränderungsdruck sozialer Bewegungen speist, der spürbar auf die politischen Kräfteverhältnisse in der Partei einwirkt. Bewegungen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, die im gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnis einen eigenständigen Machtfaktor über den Tag hinaus bilden könnten, sind indes gegenwärtig noch nicht in Sicht.
Gleichwohl soll hier keinem politischen Defaitismus das Wort geredet werden. Ob die DIE LINKE eine ähnliche Entwicklung wie die Grünen nehmen wird, womöglich gar in rascherem Tempo als diese, ist keineswegs ausgemacht, auch wenn die Risiken beträchtlich erscheinen. Während die Grünen aus einer Phase starker sozialer Bewegungen herauswuchsen, ist immerhin möglich, dass DIE LINKE in eine Phase zunehmender zivilgesellschaftlicher Gegenwehr gegen den Neoliberalismus hineinwächst. Nicht zuletzt wird es darauf ankommen, ob und wie die skizzierten Risiken von den ParteiaktivistInnen zur Kenntnis genommen werden und welche Schlussfolgerungen sie gegebenenfalls daraus ziehen.
Hilfreich wäre jedenfalls ein kollektives Verständnis, dass uns keine „höh’ren Wesen“ retten, auch keine Volkstribunen in Stadträten, Landtagen und im Bundestag. Jede realistische Strategie für soziale Gerechtigkeit in einer zukunftsfähigen Sozialstaatlichkeit, für ökologische Nachhaltigkeit und für soziale und demokratische Emanzipation – wenn man so will: für Sozialismus – muss vielmehr gründen in Prozessen parteiunabhängiger und überparteilicher Selbstorganisation und Selbstartikulation der Menschen, deren reale Lebensinteressen sich in solchen Zielen abbilden. Gerade (!) in bewegungsarmer Zeit besteht daher der Maßstab erfolgreicher Politik der LINKEN zuallererst darin, ob und in wieweit sie die Herausbildung und Entfaltung solch sozialer Bewegungen ermutigt und fördert. Dabei kann die eigene politische Klasse und ihr parlamentarischer Erfolg nie mehr sein als ein Moment – ein konstruktives oder ein hinderliches.

November 2007
Der Beitrag erscheint in „Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis, Heft 15, Dezember 2007


[«1] Siehe hierzu etwa Christoph Jünke, Neuformierung mit Fallstricken: die neue deutsche Linkspartei, in: Sozialistische Hefte 14, Sonderausgabe zur SoZ, September 2007

[«2] Der Verfasser war von 1990 bis 2000 arbeits- und sozialpolitischer Sprecher der ersten und zweiten grünen Landtagsfraktion, handelte 1995 mit dem damaligen Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering die Sozialpolitik im ersten rot-grünen Koalitionsvertrag aus, gehörte Ende der 1990er Jahre während der Koalitionskrise um den Braunkohletagebau Garzweiler II als Vertreter der grünen Landespartei dem Koalitionsausschuss unter Vorsitz des damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement an und wurde damals von den Medien als Sprecher der koalitionskritischen Linken in Fraktion und Partei wahrgenommen.

[«3] „Doch wir sprechen offen aus, dass der Erfolg einer alternativen Politik davon abhängt, dass die Menschen nicht darauf vertrauen, dass politische StellvertreterInnen schon alles richten werden, sonder ihr[e] Geschicke zunehmend in die eigenen Hände nehmen.“ Die Grünen, NRW braucht Bewegung, Programm zur Landtagswahl 1990, Vorwort, S. 8

[«4] Insbesondere die Rotationsregeln wurden bald entschärft, als das Personalangebot qualifizierter BewegungsaktivistInnen schrumpfte und sich zeigte, dass der Verzicht auf Kontinuität und Akkumulation parlamentarischer Erfahrung auch Probleme machte.

[«5] Dies schon deshalb, weil die Protestbewegung 2003/2004 abebbte, bevor sie die Schwelle einer organisatorischen Konstituierung als handlungsfähiges Netzwerk lokal verankerter Basisinitiativen und damit einer eigenständigen politischen Subjektwerdung erreichte.

[«6] Vgl. Christoph Jünke, a.a.O.

[«7] Diese Feststellungen sagen an sich noch nichts über politische Qualität und Entwicklungspotenzial der LINKEN aus.

[«8] Der politischen Kultur in NRW entsprechend waren die „fundamentalistischen“ Tendenzen schwächer und die „linkssozialdemokratischen“ stärker ausgeprägt als anderswo in der grünen Linken.

[«9] „Eine demokratische Wirtschaft … ermöglicht, dass die Betroffenen selbst darüber entscheiden, was wo und wie produziert wird. Selbstbestimmung in den Unternehmen … muss einhergehen mit Koordination und Interessenausgleich auf überbetrieblicher/regionaler und gesamtwirtschaftlicher Ebene (Branchenräte, Rahmenplanung).“ Die Grünen, NRW braucht Bewegung, Programm zur Landtagswahl 1990, S. 45, Hervorhebung im Original

[«10] Dass Joschka Fischer den Weg der Grünen so nachhaltig beeinflusste, obwohl er sich meist in einer Minderheitenposition befand, liegt maßgeblich am „Genossen Trend“ der neoliberalen Offensive, der in Abwesenheit einer starken gesellschaftlichen Oppositionsbewegung weitgehend freies Spiel bei der Beeinflussung politischen Denkens hatte.

[«11] Vor teils kultivierten Illusionen, man könne den Plenarsaal als Propagandatribüne nutzen, ohne sich allzu sehr durch Parlamentspapiere wühlen und eigene Recherchen über vielfältige tagespolitisch relevante Problemlagen anstellen zu müssen, kann nur gewarnt werden. Gerade linke Mandatierte, unter denen Blender, Selbstdarsteller und Zyniker eher selten sein sollten, haben ein enormes Arbeitspensum zu bewältigen.

[«12] Die hier geschilderten Tendenzen treffen für Landes- und BundespolitikerInnen gleichermaßen zu.

[«13] Landespolitik hat es an der Basis meist besonders schwer, weil sie außerhalb ihrer Kernkompetenzen (wie Schule oder Polizei) in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent ist.

[«14] Vgl. etwa Oskar Lafontaines Bedingungen unter dem Motto „Kurt Beck könnte morgen Kanzler sein, wenn…“. Im Rahmen von Landespolitik fällt eine ähnlich überzeugende und breitenwirksame Zuspitzung wegen der begrenzten Kompetenzen von Landespolitik allerdings sehr schwer.

[«15] Der Begriff des Neoliberalismus war damals noch kaum gebräuchlich und wurde mit anderen Worten umschrieben.

[«16] Mitte der 1990er Jahre, als sich die NRW-SPD bereits im Übergang zur Politik der Neuen Mitte befand, hatte die Oppositionspolitik der SPD-Bundestagsfraktion noch ein stark sozialdemokratisch geprägtes Profil.

[«17] Sowohl den Linken wie den Realos in Bundestagsfraktion und Bundesvorstand ging es vorrangig darum, die rot-grüne Perspektive gegen Kohl nicht durch ein Scheitern von Rot-Grün im wichtigsten Bundesland in Frage stellen zu lassen. Das Symbol – Rot-Grün in NRW – wurde Selbstzweck.

[«18] Selbst „Oberrealo“ Joschka Fischer hatte seinerzeit die erste Hessen-Koalition an der Atompolitik scheitern lassen.

[«19] Dieses Koalitionsverständnis wurde von seinen ProtagonistInnen niemals explizit vertreten. Es bildete allerdings die logische Resultante ihrer Argumentationsmuster und konnte sich „implizit“ umso wirksamer ausbreiten.

[«20] In Berlin scheint der Rubikon längst überschritten.


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