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Titel: Agenda 2010 kann Probleme nicht lösen

Datum: 1. Dezember 2003 um 11:32 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Strategien der Meinungsmache, Veröffentlichungen der Herausgeber, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Agenda 2010 kann Probleme nicht lösen. Von Albrecht Müller, Süddeutsche Zeitung – Außenansicht.

Gerhard Schröder wird sich auf dem SPD-Parteitag mit seiner Reformagenda durchsetzen, vermutlich dann auch im Bundestag. Aber dies wird ein unnützer Sieg sein: zum einen, weil diese Reformen der Ökonomie nicht auf die Beine helfen, zum anderen, weil er dank des mit dem Sieg verbundenen Kollateralschadens – einer gespaltenen und demotivierten Anhängerschaft – kaum mehr größere Wahlen gewinnen wird.
Und dennoch kann man erklären, warum Schröder diesen Weg geht. Die SPD ist 16 Jahre erfolglos gegen Kohl angerannt. Dann kam Gerhard Schröder. Er hat mit den Medien gespielt, er hat ihnen 1998 zusammen mit Lafontaine das Schauspiel eines öffentlichen Wettstreits um die Kandidatur geboten, und dann im Strom der Medien Kohl besiegt. Dass er sich nach dieser Erfahrung geschworen hat, strikt auf den Mainstream der Medien zu hören, kann man verstehen.

Das ist der eigentliche Hintergrund der Agenda 2010. “Wir brauchen Strukturreformen”, tönt es seit Jahren aus allen Kanälen. Und der Chor schwillt an – nahezu alle Medien, über 100 Wirtschaftswissenschaftler, eigens gegründete, millionenschwere Vereine, ja sogar die Kirchenoberhäupter und altgediente Sozialdemokraten, die Chefvolkswirte der Banken sowieso, alles was Rang und Namen hat, hält einschneidende Reformen für dringlich. Und da soll der Medienkanzler Schröder widersprechen? Das scheint zu viel verlangt, auch wenn sachlich alles dafür spräche zu widersprechen.

Die auf der Agenda stehenden “Strukturreformen” lösen nicht unsere akuten Probleme. Wir sind mitten in einer Rezession. Anders als in der Öffentlichkeit dargestellt sind die vielen Insolvenzen und Arbeitslosen, die wachsenden Staatsschulden, die Steuerausfälle und der steigende Zuschussbedarf zu den Sozialsystemen ganz wesentlich Folge der schlechten Konjunktur. Der Konjunktureinbruch würde die konzentrierte Aufmerksamkeit der politischen Führung verlangen. Nötig wäre vor allem, Mut zu machen für Konsum und Investitionen.
Aber statt die Stimmung zu heben, statt die Stärken unseres Landes zu rühmen, verstärken wir die schlechte Stimmung. Weltweit beklagen unsere Meinungsführer den Reformstau und die angeblichen Schwächen unseres Modells. Es gibt kein anderes Land, dessen Eliten so schlecht über das eigene Land reden. Richtungsweisend Superminister Clement vor wenigen Tagen in den USA: Da kam der Repräsentant eines Landes, dessen Exportstärke trotz aller Schwächen beachtlich sind, in ein Land, das von 1992 bis heute zunehmend weniger exportiert als importiert. Sein Leistungsbilanzdefizit betrug 2002 fast 5% der Gesamtleistung der US-Volkswirtschaft. Eigentlich ein Skandal. Die USA leisten um etwa 500 Mrd. $ weniger, als sie verbrauchen. Sie leben auf Kosten anderer Völker. Und der Rest der Welt ist so freundlich, ihnen weiter Kredit zu geben. Weil sie so tun, als sei ihre Gesellschaft in Ordnung, obwohl die Infrastruktur verrottet, die Kriminalität Spitze ist und die US-Wirtschaft noch nie so viele Konkurse großer Unternehmen erlebte. Sie verkaufen ihr Land als Modell, obwohl dank privatisierter Altersvorsorge Millionen Rentner beim Börsencrash in den Ruin getrieben wurden und obwohl viele Familien nur über die Runden kommen, weil ihre niedriglohnbeziehenden Familienmütter und -väter von einem Job zum anderen hetzen.
In dieses Land kommt unser Wirtschaftsminister und lässt sich abmahnen. Im Bericht der SZ vom 21.5. stand zu lesen: “Der Minister versprach, er werde die deutsche Reformagenda auch im US-Interesse zügig umsetzen”.Basta.
Übrigens, das, was von den USA zu lernen sich lohnen würde, lernen wir nicht: wie die USA bisher mit ihren Krisen fertig wurden – mit dem Einsatz aller möglichen Instrumente der Wirtschaftpolitik ohne ideologische Scheuklappen, mit expansiver Geld- und Fiskalpolitik, mit Stimmungsmache und der weltweiten Verklärung ihres US-Modells.

Statt unser Gesellschaftsmodell selbstbewusst zu feiern und Zuversicht und Mut zu vermitteln – und im Stillen zu reparieren, wo es nötig ist – beklagen wir seine mangelnde Zukunftsfähigkeit. Es brennt unterm Dach und wir beschäftigen uns mit grundlegenden Reformen: mit einer möglicherweise nötigen Verfassungsreform und mit der Sicherung der Renten im Jahre 2050; wir erwarten Wunder von der Lockerung des Kündigungsschutzes, obwohl die Auftragslage der meisten Unternehmen Neueinstellungen nicht möglich macht; und wir reformieren den ” Arbeitsmarkt” und stellen dabei die Bundesanstalt für Arbeit auf den Kopf, gründen neue Institutionen wie die IchAG’s und Personal-Service-Agenturen (PSA), und wundern uns, dass diese Reformen nicht zünden, weil der Zug auf dem Arbeitsmarkt fehlt – die Nachfrage, Aufträge.
Wer mit Reformen die Rezession überwinden will, verfehlt schlicht das Thema. Mich wundert, dass diese Botschaft nicht gelernt wird, obwohl bisherige Erfahrungen dies lehren. Kohl hat die Steuern gesenkt, Deutschland hat mit 21,6% (2001) eine der niedrigsten Steuerbelastungen. Wo bleibt die Wirtschaftsbelebung? Die Greencard wurde eingeführt, Unternehmensverkäufe von Steuern befreit, der Ladenschluss gelockert, die Riesterrente und Hartz-Konzepte eingeführt. Wo bleibt der erhoffte Wirtschaftsaufschwung?

Er wird nicht kommen, weil der Wirkungszusammenhang zwischen Strukturreformen und Wirtschaftsbelebung in der Realität nicht so existiert, wie dies im täglichen Reformgerede unterstellt wird. Und weil das unendliche Reden über Reformstau und Reformen das Vertrauen in unser Land vollends ruiniert.
Die Konzentration – man könnte auch sagen: die freiwillige Gleichschaltung der öffentlichen Meinung in Deutschland auf den Glaubenssatz, Reformen hülfen uns aus der wirtschaftlichen Misere, ist kein Zufallsprodukt. Wir sind Zeugen eines imposanten Brainwashing. Die Medien, viele gesellschaftlichen Gruppen und Personen des öffentlichen Lebens beten unkritisch nach, was andere ihnen vorgesagt haben. Meinungsbildung ist in wichtigen Teilen strategisch geplant und organisiert. 40% dessen, was man in den USA in Zeitungen liest oder im Fernsehen sieht, ist von PR-Firmen im Auftrag ihrer Kunden geschrieben oder produziert worden. Nach Beobachtungen des Medienwissenschaftlers Michael Haller, Leipzig, stehen bei uns 30.000 Politik- und Wirtschaftsjournalisten immerhin schon 15 bis 18.000 PR-Leute gegenüber. Je mehr sich PR-geneigte Medienkonzerne wie Murdoch und Berlusconi durchsetzen, umso mehr wird der Einfluss der PR-gesteuerten Kommunikation steigen und die unabhängige Berichterstattung verdrängen.
Der amerikanische Sozialwissenschaftler Norman Birnbaum, wundert sich über die Naivität der von der Reformdebatte betroffenen Deutschen und Europäer. Nur wenige erkennen, dass der Druck auf Reformen strategisch geplant und betrieben wird. Die Wirtschaftsliberalen weltweit haben erkannt, dass das europäische Sozialstaatsmodell eine attraktive Konkurrenz und Gefahr für ihre eigenen Interessen und Vorhaben ist. Deshalb sehen sie im Niedergang des Europäischen Modells ein wichtiges Etappenziel. Dafür setzen sie viel Geld ein für Public Relation. Ihre Freunde in den europäischen Ländern arbeiten fleißig mit.

© Süddeutsche Zeitung / 31. Mai 2003


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