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Titel: Warum die Europäer immer wieder NEIN zu Europa sagen

Datum: 4. Juli 2008 um 8:39 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Globalisierung, Markt und Staat
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Jedes Mal, wenn man die Europäer fragt, ob sie Europa zusätzliche Kompetenzen geben wollen, ist die Antwort dieselbe: nein! Und jedes Mal erklären unsere Eliten dies mit einem Mangel an inhaltlicher Auseinandersetzung, an Pädagogik. Anders gesagt, sie glauben zu wissen, dass dieses „Nein“ daraus resultiert, dass die Bürger nicht verstanden hätten. Jenseits von Partikularinteressen und lokalen Eigenheiten kann man einen anderen Erklärungsvorschlag wagen. Von Arnaud Parienty, aus dem Französischen übertragen von Florian Baum.

Anfangs reagierte der Aufbau Europas zuvorderst auf die Sorge, Krieg in Europa generell unmöglich zu machen, ganz besonders zwischen Frankreich und Deutschland. Aber wozu dient Europa, da diese historische Mission nun einmal erfüllt ist? Es ist nicht verwunderlich, dass seine Lenker auf ein gewisses Misstrauen stoßen, da sie eine Vertiefung der institutionellen Ausgestaltung fordern, ohne zu erklären, wofür diese neuen Kompetenzen gut sein sollen. Da sie schließlich seit dem Ende der 1950er Jahre die Strategie verfolgen, die Wirtschaft als Hebel zu benutzen, muss man zweifellos dort den Schlüssel zum Problem suchen.

Die fundamentale Zweideutigkeit der europäischen Konstruktion liegt in der Antwort auf die folgende Frage: Ist Europa ein Bollwerk gegen eine außer Rand und Band geratene Globalisierung, oder ist es ihr Förderer? Die Globalisierung der Waren- und Kapitalmärkte zieht es nach sich, dass Ökonomien und Sozialsysteme miteinander in eine verallgemeinerte Konkurrenz treten, was zum Ursprung sich anhäufender Unruhe wird: Die Bauern fürchten den Preisverfall, die abhängig Beschäftigten haben Angst vor Arbeitsplatzverlagerungen, die öffentlichen Dienste könnten auf dem Altar des Wettbewerbs geopfert werden, usw… Diese Beunruhigung ist legitim. Entgegen der offiziellen Beteuerungen produziert die Globalisierung Verlierer, so, wie dies die internationale Öffnung immer getan hat, so wie die Dinge verlaufen jedoch im gigantischen Maßstab.

Im Angesicht dieser Bedrohung wenden sich die Bürger an die Politik. In Frankreich nimmt der Aufmarsch der gesellschaftlichen Gruppen, die den Schutz des Staates einfordern, kein Ende. Aber es macht die Globalisierung ja gerade aus, dass sie der Ebene des Nationalstaats einen großen Teil ihrer Bedeutung entzieht. Angesichts dessen entsprechen die europäischen Institutionen nicht den Erwartungen. Weit entfernt von der „Festung Europa“, die von den anderen Erdteilen zu Beginn der 1980er Jahre befürchtet wurde, was zur Bildung der NAFTA in Amerika und der APEC in Asien geführt hat, stellt sich die EU heute als darum besorgt dar, die Liberalisierung der Märkte und die Zurückdrängung des Staates zu beschleunigen, anstatt die europäischen Gesellschaften vor dem Globalisierungsschock zu bewahren.

Die Haltung gegenüber den neuen Mitgliedsstaaten ist, unter diesen Gesichtspunkten gesehen, charakteristisch. Als in der Vergangenheit arme Länder Europa beigetreten sind, wie Irland, Griechenland und Portugal, bestand die Integrationsstrategie darin, diesen Ländern mittels Strukturfonds dabei zu helfen, Anschluss an das durchschnittliche Entwicklungsniveau der Union zu finden. Anlässlich der Erweiterungsrunden von 2004 und 2006 wurde den oftmals sehr armen Neumitgliedern signalisiert, dass sie vor 2013 keinen Anspruch auf die Segnungen der gemeinsamen Agrarpolitik haben würden (das Datum, zu dem sie nach Kostensenkungsgesichtspunkten reformiert worden sein wird), und dass der Weg des Steuer- und Sozialdumpings der einzige ist, der ihnen offen steht, um gegen die formidable Konkurrenz der leistungsfähigen Industrien Westeuropas zu bestehen. Polen hat seinen Körperschaftssteuersatz auf 12% abgesenkt, was vier Millionen Polen nicht davon abgehalten hat, ihr Land zu verlassen, um Arbeit im Ausland zu suchen, besonders in Großbritannien. Die Produktionszahl der französischen Automobilbauer auf dem Territorium der EU-15 ist innerhalb von sechs Jahren um 700.000 Einheiten gesunken und im selben Zeitraum in Osteuropa und in der Türkei um 600.000 Einheiten gestiegen.

Obwohl Europa die adäquate Instanz ist, um eine bessere Regulierung der Globalisierung zu erreichen, scheint Europa sie beschleunigen zu wollen. Daher die Vorwürfe von Nicholas Sarkozy an die Adresse von Peter Mandelson nach dem Scheitern des irischen Referendums. Warum also sollen die Bürger die Machtposition einer Institution Europa stärken, die als ein Antreiber dieses Phänomens erscheint, wo doch eine Liberalisierung der Märkte im Eiltempo die Arbeitsplätze und Löhne bedroht?

Der Skeptizismus gegenüber der Ausgestaltung Europas resultiert ebenso aus der Art der Handhabung der Konjunkturpolitik. Erinnern wir uns an die Berechnungen der OECD aus den frühen 1990er Jahren, die auswiesen, dass das Festhalten am französischen Franc im europäischen Währungssystem Frankreich eine Million zusätzliche Arbeitslose gebracht hat. Die Geschichte wiederholt sich, und jeder informierte europäische Bürger kann die Beweglichkeit der amerikanischen Wirtschaftspolitik mit der ineffektiven Sturheit vergleichen, die sich in Europa durchsetzt. Die Rezessionsrisiken im Zusammenhang der Subprime-Krise haben ein entschlossenes Handeln der Fed für Zinssenkungen und für politische Spielräume nach sich gezogen, wenn auch Washington haushaltspolitisch Öl ins Feuer goss (in einem Wahljahr, wie man anmerken muss); so ist die angekündigte Rezession für den Moment abgewendet. Im Gegensatz dazu droht in Europa die Kommission denjenigen Ländern, die, wie Frankreich, von der konjunkturellen Abkühlung in Richtung des 3%-Neuverschuldungskriteriums gedrückt werden, und die europäischen Regierungen kritisieren die EZB für ihre zu hohen Zinssätze. Die „tugendhaften“ Länder kritisieren die Laschheit derer, die das allgemeingültige Regelwerk nicht einhalten, die anderen kritisieren die Absurdität ebenjener Regeln; beide haben natürlich Recht.

Für den Bürger, selbst für den, der in Wirtschaftsfragen nicht im Bilde ist, ist die Schlussfolgerung klar: Im Angesicht der Krise ist Europa die Instanz, die das Handeln verhindert. Zweifellos ist diese Schlussfolgerung zum Teil ungerecht: Wo wäre die französische Wirtschaft ohne den Euro, mit einer Währung unter Defizitdruck? Dennoch drängt sich jene Schlussfolgerung auf.

Wenn sich die Bürger Europas weigern, den europäischen Institutionen mehr Macht zu geben, geschieht dies zwar auch aus Sorge, diverse nationale Eigenheiten zu schützen, die sie, mehr oder weniger zu Recht, bedroht sehen – aber vor allem deshalb, weil ihnen Europa als gefährlich erscheint: Weit davon entfernt, gegen den Globalisierungsschock zu schützen und Stabilität und Wohlstand zu sichern, erweckt Europa den Eindruck, gegen diese Vorgaben zu arbeiten. Die standhafte Verweigerungshaltung seitens der Bürger resultiert also nicht aus einem mangelnden Verständnis dessen, was der Aufbau Europas ist, sie drückt eine fundamentale Meinungsverschiedenheit darüber aus, welchen Leitlinien Europa folgt. Der tragische Irrtum der hohen Funktionäre und der Mandatsträger die Europa regieren ist es, dies nicht wahrhaben zu wollen.
Quelle: Alternatives Economiques

Arnaud Parienty ist Professor für Wirtschaft und Soziales in Courbevoie und Autor mehrer Bücher über eine alternative Ökonomie

Anmerkung WL: Um es mit Naomi Klein zu sagen, müsste man statt von „Globalisierungschock“ von einer „Schockstrategie“ der neoliberalen Ideologen sprechen, die sich auch auf europäischer Ebene durchsetzen.


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