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Titel: Die Sarazzins der Wissenschaft: Hartz-IV-Regelsatz von 132 Euro ausreichend

Datum: 4. September 2008 um 9:39 Uhr
Rubrik: Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Zwei Chemnitzer Wirtschaftswissenschaftler halten einen Hartz-IV-Regelsatz von 132 Euro für ausreichend, d.h. nur rund ein Drittel der bisherigen Höhe. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die am Mittwoch auf der Internetseite der Technischen Universität Chemnitz veröffentlicht wurde.Maßstab für die Berechung dieser „Wirtschaftswissenschaftler“ sind die einkommensmäßig unteren 20% der deutschen Haushalte, diese geben angeblich für Essen, Kleidung, Kommunikation, Reisen etc. knapp 500 Euro pro Monat und Person (Single-Haushalt) aus. Die Logik dieser „Studie“: Ist erst einmal das untere Fünftel der Gesellschaft arm genug, dann kann man auch Ärmsten der Armen noch ärmer machen oder anders gesagt: In den Elendsvierteln der Welt ist schon derjenige nicht arm, der eine handvoll Reis und einen Schluck Wasser hat. Wolfgang Lieb

Für die Autoren der Studie liegt der Hartz-IV-Regelsatz nicht zu niedrig, sondern „oberhalb der Beträge, die aus den formulierten Zielen der sozialen Mindestsicherung ableitbar sind.“

Die aus dem Grundgesetz ableitbaren Vorgaben (Art. 1 „Würde des Menschen ist unantastbar“, das Sozialstaatspostulat (aus Art. 20 und Art. 28 GG) sind für die Chemnitzer „Wirtschaftswissenschaftler“ „allgemeine“ und unverbindliche Grundsätze und die sozialstaatliche Praxis (festgeschrieben etwa im Sozialhilfegesetz oder in der Rechtsprechung) seien zu „intransparent“. Auch Spruch des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Existenzminimum von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf abhängt und dass diese Einschätzung Aufgabe des Gesetzgebers ist, interessiert die „Wirtschaftswissenschaftler“ nicht weiter. Sie behaupten einfach: „Unsere Gesellschaft hat sich bisher davor herum gedrückt, die Ziele der sozialen Mindestsicherung exakt zu formulieren“.

Sie setzen an die Stelle einer seit Bismarcks Zeiten sich entwickelnden Bewertung des „sozio-kulturellen Existenzminimums“ offenbar nach der Methode des Berliner Finanzsenators Thilo Sarazzin eine „völlige Neuberechnung“ nach einem „bottom up“-Verfahren.

Sie erhoben Preise für Nahrungsmittel bei Aldi, Edeka und Kaufland, für Bekleidung und Schuhe in einem Restpostenmarkt (Thomas Philipps) oder bei Billigketten (Zeemann, Pfennigpfeiffer, Reno oder Deichmann). Mehr als 68 Euro im Monat für Nahrung auszugeben wäre aus Sicht der Autoren nach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eher „unvernünftig“.

Die Einrichtungsgegenstände (wobei es natürlich keinen Beistelltisch, Fenstervorhang oder Zimmerefeu geben darf) sollen etwa bei Möbeldiscounter Roller oder Restpostenmärkten erstanden werden.

Für Kommunikation wird der Kabelanschluss für Radio und TV gekappt und darüber hinaus reichen 20 Minuten Internet pro Tag in der Stadtbibliothek.
Rauchen und Alkohohl versperren die Hilfe zur Selbsthilfe und der Besuch einer Kneipe ist natürlich auch nicht vorgesehen.

Die Freizeitgestaltung hat in Form von Gesprächen, Spaziergängen, Nutzung von Parks oder dem Besuch von öffentlichen Festen stattzufinden.

Und so sehen dann die Warenkörbe aus:
Tabelle
Die Wohnungskosten wurden aus der Betrachtung ausgeschlossen.

Als weiterer Maßstab wurde herangezogen, dass die einkommensmäßig unteren 20% der deutschen Haushalte für Essen, Kleidung, Kommunikation, Reisen etc. knapp 500 Euro pro Monat und Person (Single-Haushalt) ausgeben. Wenn also das untere Fünftel mit 500 Euro auskommen kann, so die Schlussfolgerung, dann muss der untere Rand im „Maximumfall“ mit etwas mehr als der Hälfte davon (278 Euro) leben können und im Minimumfall sogar nur mit 132 Euro.

Fazit der „Studie“. Gerechtfertigt wären nachden festgesetzten Zielen der sozialen Mindestsicherung Beträge zwischen 132 Euro (Minimumsfall) und 278 Euro (Maximumsfall) zuzüglich Wohnungskosten. Gerechtfertigt für die soziale Mindestsicherung wäre.

Der Warenkorb sähe dann so aus:

Tabelle 2

Ein Leben in Würde hängt nach Ansicht der Autoren „weniger von Geldleistungen ab als von der Möglichkeit, zu arbeiten, sich einzusetzen, die Chance zu bekommen, etwas leisten zu können, um anerkannt zu werden. Eine auf Geldzahlungen beschränkte Hilfe wird diesem Ziel nicht gerecht.“
Arbeit macht frei!

Danach müsste man am besten auf Geldzahlungen ganz verzichten und die Hartz-IV-Leute gleich in ein Arbeitslager steckt, dann könnte man ja auch noch die Wohnungskosten senken. Das Existenzminimum wäre gewährleistet und die Würde der Menschen wäre durch Zwangsarbeit garantiert.

Solche menschenverachtende Ergebnisse kommen heraus, wenn Investment Banker wie Friedrich Thießen, die sich ansonsten mit maximalen Gewinnen bei Kapitalanlagen beschäftigen, über die Menschenwürde und das Existenzminimum nachdenken.

Unser Leser Gunter Greger aus Leipzig schreibt uns dazu:
„Ich spiele das Exempel mit der Stadtbibliothek mal für den Fall meiner Heimatstadt Leipzig durch (die Hartzgesetze gelten ja auch hier und nicht nur in Chemnitz):
Ein Hartz-4-Empfänger mit Leipzig-Pass müsste 12,50 Jahresgebühr bezahlen und zwar auf einen Schlag! (ein ganz schöner Batzen bei veranschlagten 132 €). Aber man kann ja auch eine Halbjahresgebühr mit Ermäßigung von 7,50 € entrichten, also für ein Jahr 15 €, womit wir schon bei mehr als 12 € wären (Gebührentarif [PDF – 24 KB]).

Als Professor denkt man über solche planerischen Feinheiten im Haushaltsbudget wohl nicht nach, wenn man seine Forschungsergebnisse in die Welt hinausposaunt. Überdies hätte ein Hartz-4-Empfänger in dieser abstrahierten Welt der Wirtschaftsmathematik auch nicht das Recht, sich ein Buch vorzubestellen, weil ihn das eine Gebühr kosten würde. Und für eine tagesaktuelle Information aller Leipziger Hartz-4-Empfänger reichen die Exemplare, die im Lesesaal ausliegen auch nicht aus. Somit trägt nicht einmal dieser weltfremde Gedanke der Chemnitzer “Wissenschaftler”.

Soviel zur Bibliothek. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass ein Hartz-4-Empfänger nicht das Recht hat, sich aktuelle Kinofilme anzuschauen, das Theater zu besuchen oder den Zoologischen Garten. Die Liste ließe sich fortsetzen. An dieser Stelle sei an die hohe (wenn auch notwendige) Subventionierung des bundesdeutschen Kulturbetriebs erinnert, für dessen Inanspruchnahme aber in der Hartz-Arithmetik auch kein Geld vorgesehen ist.“

Nach Bild, Sat1, CSU, Arbeitsagentur (IAB) und allen anderen Kräften, die Stimmung gegen die Hartz-IV-Empfänger machen, hat sich nun auch noch die Wissenschaft hinzu gesellt. Glaubt da noch jemand an Zufälligkeiten oder geht es hier nicht schlicht um eine geballte Kampagne, gegen die anstehende Debatte um die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze?

Es gilt das Motto: Wer am Boden liegt soll auch noch getreten werden.


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