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Titel: Willy Wimmers neues Buch: “Die Akte Moskau” rezensiert von Peter Becker

Datum: 19. September 2016 um 8:43 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege, Rezensionen
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Der Vizepräsident von IALANA hat das neue Buch von Willy Wimmer für die NachDenkSeiten besprochen. Im Buch wie in der Rezension wird der sonderbare und in Deutschland von vielen Verantwortlichen verschwiegene Vorgang beschrieben, dass der Westen unter der Führung der USA in den neunziger Jahren kurz nach der Verständigung auf das Ende des West-Ost-Konfliktes eine „politische Kehrtwende“ vollführte – hin zur neuen Konfrontation. Darunter leiden wir bis heute. Hier die Buchbesprechung von Peter Becker[*]. Danke. Albrecht Müller.

Der Mann hat einen langen Weg hinter sich: Von einem führenden Verteidigungspolitiker der CDU und Freund Helmut Kohls zum Redner bei Veranstaltungen der Friedensbewegung – so jüngst bei der Kampagne ‚Stopp Ramstein‘ in Kaiserslautern. Es geht um Willy Wimmer (73 Jahre): 33 Jahre CDU-Bundestagsabgeordneter (1976-2009), Verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion (1985-1988), Parlamentarischer Staatssekretär unter Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (1988-1992) und OSZE-Vizepräsident (1994-2000). Dieses Amt hatte er sechs Jahre inne und war damit bestens informiert über Vorbereitung und Durchführung des Kriegs der NATO gegen Jugoslawien, mit dem eine OSZE-Mission unterlaufen wurde.

Er arbeitet unermüdlich an der Korrektur der Mainstream-Darstellungen der USA und Russlands, in Aufsätzen, Reden, Interviews und jetzt in der neu vorgelegten Monografie. Sie umfasst ein weit gespanntes Szenario, das seine Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit aus seiner Tätigkeit als CDU-Politiker bezieht, vor allem als Parlamentarischer Staatssekretär während des Prozesses der Deutschen Einigung. Seine primäre Aufgabe darin war die Integration – besser: Abwicklung – der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, die er schon in einem im Jahr 2000 vorgelegten Buch beschrieb: Lass uns dir zum Guten dienen… Der Weg der NVA in die Bundeswehr. Dieser Text wurde – überarbeitet – in das neue Buch integriert, aber eingebettet in die dramatischen Veränderungen der weltpolitischen Lage seit der Vorbereitung der Wiedervereinigung bis heute. Man kann sie beschreiben: Das eine Axiom zeigt das Titelbild „Im Zeichen deutsch-russischer Versöhnung: Marschall Sergej Fjodorowitsch Achromejew mit Willy Wimmer“. Das andere Axiom ist markiert durch die „politische Kehrtwende der USA“, die Wimmer an zahlreichen Ereignissen festmacht, angerissen schon im Vorwort und dann ausgeführt in den ersten drei Kapiteln des Buches (Relikte des Kalten Krieges, Nachdenken über Freund und Feind, Armeen lösen sich auf).

Das erste Aha-Erlebnis fand statt im Frühsommer 1988, in dem die Arbeitsgruppe ‚Verteidigung‘ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einem Arbeitsbesuch nach Washington flog, mit Abstecher ins Hauptquartier der CIA nach Langley: „Erstaunt hörten wir dort den Ausführungen zu, die eine völlig neue amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion zum Thema hatten: Wir sollten uns lösen […] von dem, was wir seit Jahrzehnten […] gehört hatten. Die Ergebnisse einer Studien zu diesem Themenfeld seien eindeutig: Die Sowjetunion verfolge rein defensive Absichten. Es gehe einzig und alleine um Verteidigung zum Schutz von ‚Mütterchen Russland‘; eine Sicht, die bis in das Jahr 1991 beibehalten wurde“ (S. 12 im Buch, weitere Zahlenangaben in diesem Text betreffen immer das Buch). Die Aussagen von Admiral William Crowe, Generalstabschef der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, anschließend in Moskau, mit Marschall Achromejew, ehemals Generalstabschef der Roten Armee und jetzt sicherheitspolitischer Berater von Michail Gorbatschow, sowie dem Leiter der internationalen Abteilung des ZK KPdSU, Valentin N. Falin, hätten übereingestimmt. Falin wird wie folgt zitiert: „Heute sei er in Übereinstimmung mit Gorbatschow der Ansicht, es müsse endlich zur Versöhnung kommen, Moskau sei bereit dazu.“ NATO und Warschauer Pakt schienen „aus dem Hintergrund sogar gelenkt zu werden“, in die friedliche Richtung. Tatsächlich wurde der Warschauer Pakt im Juli 1991 aufgelöst, die NATO aber nicht. Kennzeichen dieses ‚Tauwetters‘ war der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), unterzeichnet am 19. November 1990 anlässlich des KSZE-Gipfeltreffens in Paris von den 22 Regierungschefs der NATO und des Warschauer Pakts. Diesen Vertrag umschreibt Wimmer nur, aber ein anderer Vertrag, ebenfalls abgeschlossen in Paris, ist ihm sehr wichtig: Die ‚Charta von Paris‘ vom November 1990, mit dem „Versprechen der verantwortlichen Staats- und Regierungschefs der nördlichen Hemisphäre, Krieg auf Dauer aus Europa zu verbannen und Konflikte ausschließlich friedlich beilegen zu wollen“ (16).

Zeitgleich mit den „intensiven Debatten über die mögliche Auflösung der Militärbündnisse“ wurde über die Deutsche Einigung verhandelt. Ein Hauptproblem war die Frage der Ausdehnung der NATO nach Osten. Wimmer schlug in einer „Denkschrift vom 20. Dezember 1989 an Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl über die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigen Deutschland“, die im Buch auch abgedruckt ist (297 ff.), vor, dass Deutschland als Ganzes in der NATO bleiben können sollte, die Wimmer als das damalige Verteidigungsbündnis verstand, dem die Parlamente ja auch zugestimmt hatten. Jedoch solle das Beitrittsgebiet als Gebiet frei von NATO-Truppen sein – das wurde im 2+4-Vertrag auch umgesetzt. Den Geist dieses Memorandums erkennt man an folgendem Satz: „[…] weil gerade Gorbatschow während der gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident Bush auf Malta unterstrichen hat, dass die Welt die Epoche des ‚Kalten Krieges‘ verlasse und in eine neue Epoche eintrete“. Aber Wimmer hatte sich getäuscht (und wurde getäuscht, wie wir alle), mit der „politischen Kehrtwende der USA“ (13, 46 ff.): Die USA, „auf die es in Europa mehr denn je ankommen sollte, wollten kein Modell zur Lösung von Konflikten mehr, wie es die KSZE darstellte“. Das zeigte sich nicht nur an dem fehlgeschlagenen Bemühen des kasachischen Staatspräsidenten Nasarbajew um eine „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Asien“ zusammen mit den Vereinigten Staaten, Russland und China, sondern auch für die Mittelmeerregion, sodass man den Eindruck erhalten hätte, „weder den Vereinigten Staaten noch Israel lag an einer friedlichen Konfliktregelung“. Frieden und Verständigung, z.B. in Afghanistan und in Mali, hätten keine Chance gehabt: „Der Monopolanspruch der USA hat seinen blutigen Preis verlangt. Die Kriegsregionen sind weitgehend zerstört, die Lebensgrundlagen der Menschen nachhaltig vernichtet. Millionen hatten sich auf die Flucht begeben und fragen auf dem Weg durch Europa niemanden nach einer Erlaubnis“ (47). Diese Kehrtwende sei auch im Grunde nicht so überraschend gewesen, sondern hätte sich schon darin angekündigt, dass „die amerikanischen Kollegen […] zwischen 1993 und 1994 in den Gremien der Parlamentarischen Versammlung der OSZE einfach nicht mehr auf[tauchten]“; mit Ausnahme der Wirtschaftspolitischen Kommission der KSZE/OSZE, für die „ein amerikanischer Vorsitzender her musste“ (47), und zwar zur Durchsetzung des amerikanischen ‚Neo-Liberalismus‘. Soziale Marktwirtschaft, wie sie Wimmer verstand, sei plötzlich eine „kommunistische Idee“ gewesen.

Ein Dreh- und Angelpunkt in Wimmers politischer Entwicklung ist der NATO-Krieg gegen Jugoslawien, über dessen Entstehung Wimmer als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE bestens informiert war. Zur Erinnerung: Im Kosovo, seinerzeit Teil Jugoslawiens, war es seit 1990 zu schließlich militärischen Auseinandersetzungen zwischen der jugoslawischen Armee und der kosovarischen Befreiungsfront UCK gekommen. Die Vereinten Nationen warnten im Frühjahr 1998 vor einer „humanitären Katastrophe“. Dies nahmen die USA zum Anlass, einen Krieg gegen Jugoslawien vorzubereiten, den die NATO im September 1998 tatsächlich beschloss. Deutsche Repräsentanten waren damals Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) und Außenminister Klaus Kinkel (FDP). Die OSZE wollte diesen Krieg jedoch vermeiden und arbeitete auf eine diplomatische Lösung hin. Es kam zu einem tragischen Nebeneinander: Während der amerikanische Diplomat Richard Holbrooke und der jugoslawische Staatschef Milošević sich über eine ‚Beobachtermission‘ einigten, einen Tag vor der entscheidenden Bundestagssitzung am 18. Oktober 1998, wurden auf dieser Bundestagssitzung Angriffe der NATO bis hin zu einem Krieg beschlossen. Das hatte Madeleine Albright durchgesetzt, amerikanische Außenministerin, die den designierten Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinen designierten Außenminister Joschka Fischer wenige Tage zuvor nach Washington bestellt hatte, sie auf diesen Krieg verpflichtend. Das Entscheidende war: Ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen lag nicht vor. Damit war der Krieg völkerrechtswidrig. Das war Gerhard Schröder auch klar, wie er später eingeräumt hat. Im Regierungsantrag für den Bundestagsbeschluss stand das aber nicht, genauso wenig wie das Ergebnis der Verhandlungen über die OSZE-Mission. Wimmer stimmte daher mit vier anderen Abgeordneten der Koalition gegen den Krieg, den er später als „ordinären Angriffskrieg“ einordnete. Wimmer ist Jurist. Und er nahm nicht nur das Völkerrecht ernst, sondern auch das mit diesem Krieg einsetzende offensichtliche Verlassen des friedlichen Kurses, für den er 1990 gekämpft hatte.

In seiner Fraktion führte das allerdings zu Isolierung, die ihn mit Sanktionen belegte. Aber Wimmers Weg kennzeichneten nicht nur die völkerrechtlichen Gebote, sondern vor allem auch die weitere Entwicklung der USA. Ein weiteres Schlüsselereignis ist das folgende:

Vom 28. bis zum 30. April 2000 nahm er an einer Konferenz in der slowakisch Hauptstadt Bratislava teil, ausgerichtet vom US-Außenministerium und vom – konservativen – American Enterprise Institute, über deren Ergebnis er in einem Brief an Bundeskanzler Schröder vom 2.5.2000 berichtete: „Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von NATO-Überlegungen hinderlich. Dafür sei die amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter […] Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem Zweiten Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen“: In der Tat wurde im Kosovo eine amerikanische Base eingerichtet, das Camp Bondsteel, auf der sich bis zu 5.000 Soldaten aufhalten können, nach der deutschen Air Base Ramstein die größte amerikanische Niederlassung in Europa (53). Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien sei ein „Präzedenzfall“ gewesen. Und: „Nördlich von Polen gelte es, die vollständige Kontrolle über den Zugang aus St. Petersburg zur Ostsee zu erhalten.“

Im Hause des American Enterprise Institute befand sich übrigens das Project for the New American Century (PNAC), zu dessen Gründungsmitgliedern die Politiker Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und Richard Perle gehörten. Das PNAC hat den Krieg gegen den Irak vorbereitet und, nachdem die Gründer an die Macht gekommen waren, auch durchgesetzt. Darüber hat der SPIEGEL-Redakteur Jochen Bölsche unter dem Titel „Bushs Masterplan: Der Krieg, der aus dem Think Tank kam“ einen anschaulichen Artikel geschrieben (SPIEGEL Online, 4.3.2003).

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann man nachvollziehen, dass Wimmer heute kein Freund der Amerikaner ist, sondern eher an einer Fortsetzung der von Gorbatschow in Gang gesetzten russischen Entwicklung hin zu Europa interessiert ist. Daher wundert auch nicht seine kritische Haltung gegenüber den Vorgängen in der Ukraine, nämlich „dem bis heute nicht aufgeklärten Massaker mit an die über 100 Todesopfer auf dem Majdan-Platz beim Putsch westlich gesteuerter Kräfte gegen eine legitime Regierung in der Ukraine“ (60). Und er ist stolz darauf, dass ein Beitrag von ihm auf der Pressekonferenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom 18. Dezember 2014 in St. Petersburg von Putin persönlich übersetzt wurde (303 ff.).

Ein langer Weg, den man in zahlreichen, manchmal etwas fragmentarischen Berichten in diesem Buch nachvollziehen kann. Das ist seine Stärke: Der Weg zu einer eher dem russischen Vorgehen zuneigenden Verortung ist faktengestützt und nachvollziehbar. Etwas störend wirken die manchmal übergangslosen Berichts- und Kommentarelemente in den Anfangskapiteln. Und der Titel „Die Akte Moskau“ wird eigentlich Wimmers Anliegen nicht gerecht: Besser gepasst hätte seine Zwischenüberschrift „Nachdenken über Freund und Feind“ oder ein Titel, der Wimmers kritische Haltung gegenüber dem Mainstream in den Medien ausdrückt: „Moskau: Mediale Wahrnehmungen gestern und heute“ (162, 246). Das Buch holt diejenigen ab, die sich schon auf einem kritischen Weg befinden. Und die werden sehr bereichert. Unbedingt kaufen! Und was ich gerne wissen würde: Was denkt eigentlich ein kritischer Kopf wie Wimmers langjähriger Kollege Norbert Lammert, seit 1980 MdB und wie Wimmer während der Verhandlungen über die Einigung Parlamentarischer Staatssekretär, über dieses Buch?

Willy Wimmer: Die Akte Moskau, 2016, Verlag Zeitgeist, 24,80 Euro


[«*] Rechtsanwalt, Co-Präsident der International Association of Lawyers Against Nucklear Arms (IALANA)


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