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Titel: Warum diese Feindschaft? Eine Reise nach Russland

Datum: 11. Oktober 2016 um 10:18 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Länderberichte
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Die Einladung kam von der Priwolzhkaja-Buchkammer aus Saratow und dem Moskauer Rosspen-Verlag, in dem die russische Ausgabe meines Buches „Die Eroberung Europas durch die USA“ erschienen ist. Das Buch wird von der Leserschaft in Russland recht gut angenommen. Kein Wunder, ich vertrete die Ansicht, dass der neuerliche West-Ost-Konflikt von der westlichen Allianz unter Führung der USA, die bekanntlich auch die NATO dominiert, ausgelöst worden ist. Von Wolfgang Bittner.

Was war nicht alles geplant! Lesungen, Vorträge, Buchvorstellungen, Diskussionen, Zusammenkünfte mit Kolleginnen und Kollegen, eine Schiffsreise auf der Wolga mit Veranstaltungen in Uglitsch, Kostroma, Nischni Nowgorod, Tscheboksary, Kasan, Uljanowsk und Samara sowie eine Buchmesse in Saratow. Ein intensives Programm, spannend, für einen Westeuropäer geradezu abenteuerlich. Namentlich bekannt waren mir bis dato lediglich Nischni Nowgorod, die Geburtsstadt von Maxim Gorki, heute die fünftgrößte Stadt Russlands, und Kasan als das Zentrum des russischen Islam und Hauptstadt der Republik Tatarstan, ebenfalls eine Millionenstadt.

Die Flüge waren gebucht und bezahlt, die erforderlichen Versicherungen abgeschlossen, sämtliche Reisevorbereitungen erledigt, das Visum war bewilligt. Und dann wurde die Schiffsreise auf der Wolga kurzfristig abgesagt – aus finanziellen Gründen, wie es hieß. Ein Antrag auf Zuwendungen war nicht bewilligt worden. Damit entfielen auch Veranstaltungen in mehreren Städten an der Wolga, es musste alles neu organisiert werden. Immerhin kam jetzt ein zuvor nicht vorgesehener dreitägiger Aufenthalt in Sankt Petersburg hinzu.

Moskau

Zuerst also der Flug nach Moskau, ohne den genaueren Ablauf der Reise zu kennen. Doch der freundliche Empfang ließ hoffen. Ein Verlagsmitarbeiter holte mich vom Flughafen ab, und am nächsten Morgen traf ich die beiden Organisatorinnen: die Mitarbeiterin des Deutschen Buchinformationszentrums in Moskau, Olga Ditsch, und die Vizedirektorin des russischen Instituts für Übersetzungen, Nina Litvinets, zwei sehr kompetente und mir zugewandte Frauen. Sie hatten auf die Schnelle geregelt, was möglich war, improvisiert, Termine abgesprochen, Vereinbarungen mit Veranstaltern getroffen, Fahr- und Flugpläne vorbereitet. Sie stellten mir einen Reiseplan für die nächsten Tage vor, der mir trotz der zu erwartenden Anstrengungen augenblicklich meine Bedenken nahm.

Drei Tage Moskau: Schon am ersten Tag eine Buchvorstellung im Biblio-Globus, einer großen Buchhandlung im Zentrum, und am Tag darauf ein Vortrag im Moskauer Staatlichen Archiv für sozialpolitische Geschichte vor hochmotiviertem Publikum. Der Übersetzer perfekt, er hatte schon in Deutschland für Michail Gorbatschow und in Russland für den bekannten Journalisten und ZDF-Russlandkorrespondenten Dirk Sager (1940-2014) übersetzt.

Viele Fragen: Warum die Wirtschaftssanktionen gegen Russland? Warum machen die westeuropäischen Staaten mit, wenn doch auch ihre Wirtschaft geschädigt wird? Was wollen die USA, was haben sie vor? In wieweit ist die deutsche Bundeskanzlerin Merkel washingtongesteuert? Warum rückt die NATO entgegen den 1989 gegebenen Versprechungen immer weiter an die russischen Grenzen vor? Was bedeutet die Stationierung umfangreicher Militäreinheiten der USA und der NATO in den baltischen Staaten, in Polen, Bulgarien und Rumänien? Warum wird in den deutschen Medien falsch über die Ursachen der Ukraine-Krise und des Krieges in Syrien berichtet? Könnte es Krieg geben? Und so weiter.

Das Interesse an Deutschland ist groß

Zwischendurch bleibt Zeit für einen Stadtrundgang, natürlich unter anderem zum Roten Platz und dem Kreml. Leicht bedeckter Himmel, 13 Grad Celsius. Denkmäler für Tolstoi, Puschkin, Gogol, Lenin, Gagarin … Der Kreml sieht von der Moskwa-Brücke aus wie eine riesige romantische Burg. Auf den Straßen lebhafter Verkehr, man sieht Automarken wie KIA, Hyundai, Nissan, Mitsubishi, Toyota, Citroën, Peugot, Renault, Fiat, Ford, Chevrolet, VW, Skoda, BMW, Mercedes. Neben den einheimischen Cafés und Restaurants gibt es MacDonalds, English Pubs, Coffee Rooms, Starbucks oder Pizzahut. Geschäfte von Cartier, Roberto Cavalli, Villeroy & Boch, Küppersbusch.

Ich wohne im Golden Apple, ganz in der Nähe das Hotel Intercontinental. Es gibt Mövenpick-Icecream, Coca Cola, Nescafé, Snickers und Ketchup von Heinz. Abends im Fernsehen Werbung für Ariel, Nivea, Pampers, Bayer- und Stada-Produkte, Samsung oder Ikea. Beim Frühstück erzählt mir eine Journalistin, die ich zufällig kennenlerne, einen in Russland verbreiteten Witz: Der amerikanische Präsident sagt: Wir sind für Frieden und Freundschaft mit anderen Völkern. Aber was können wir machen, wenn Russland so nah an unsere Militärbasen heranrückt? Auf die Situation der russischen Medien angesprochen, meint sie ein wenig ironisch: „Ebenso wie bei Ihnen in Deutschland.“ Als ich genauer darauf eingehen möchte, winkt sie ab.

Viele Moskauer sprechen Englisch, manche Deutsch. Das Interesse an Deutschland ist groß, die Einstellung wohl der meisten Russen – trotz des hohen Blutzolls im Zweiten Weltkrieg und der erneuten Aggressionspolitik – außerordentlich positiv. Die Menschen leiden unter der Teuerung durch die Sanktionen und die Isolations- und Aggressionspolitik des Westens, aber ein großer Teil der Russen weiß nicht, warum das so ist. Viele sind – ebenso wie in Westeuropa – unpolitisch; die Bewältigung des Alltags ist schwer genug. Wie in Gesprächen zu hören ist, hat die Unzufriedenheit insbesondere in der ärmeren Bevölkerung in den vergangenen Monaten zugenommen, und das ist offensichtlich das Ziel der von den USA betriebenen Konfrontationspolitik. Man murrt, beklagt die hohen Lebenshaltungskosten, schimpft auf dieses und jenes, ohne die Ursachen und Hintergründe zu kennen.

Sankt Petersburg

Dann eine vierstündige Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug (ein Gemeinschaftsprojekt der russischen Staatsbahn und der Siemens AG) an die Küste über etwa 800 Kilometer. Draußen 12 Grad Celsius, die Geschwindigkeit beträgt bis zu 250 km/h, der Komfort entsprich dem deutschen ICE. Wie im Westen sind viele Reisende mit ihren Smartphones beschäftigt. Wälder mit Birken, Kiefern, Tannen, hin und wieder Heideflächen, kleine Seen und Sümpfe. Dörfer mit einfachen Häusern, zum Teil aus Holz, zweimal hält der Zug in größeren Städten. Wenig Wiesen und Ackerland, Laubbäume und Büsche sind herbstlich gefärbt, vor Kurzem hat es nachts den ersten Frost gegeben. Kein Vieh, vielleicht ist es schon in den Ställen. Die alljährliche Wanderung der Zugvögel, die den Sommer in Sibirien verbracht haben, ist bereits vorbei.

Ankunft in Sankt Petersburg um 18.00 Uhr. Das Hotel nahe der Innenstadt entspricht – ebenso wie in Moskau – westlichen Standards. Man kann mit Visa oder MasterCard bezahlen. Am nächsten Tag die Buchvorstellung in der Buchhandlung Bukwoed am Newski-Prospekt, der berühmten viereinhalb Kilometer langen Straße im historischen Zentrum Sankt Petersburgs. Am Tag darauf ein Vortrag in der Majakowski-Bibliothek an der Fontanka 44. Alles kurzfristig organisiert und doch gut besucht.

Besonders die Zuhörer und Diskutanten in der Bibliothek sind – wie schon im Moskauer Archiv – weitgehend über die politischen Hintergründe des West-Ost-Konflikts informiert und geradezu begierig, mehr zu erfahren: Warum wollen die USA unbedingt Weltmacht Nr. 1 sein? Ist der Anspruch auf globale Herrschaft überhaupt zeitgemäß und heute noch durchsetzbar? Präsident Putin hat doch gesagt, Russland strebe nicht nach einem besonderen Platz in der Welt, erwarte allerdings, dass man seine Interessen berücksichtige und seine Position achte. Warum also diese Aggressivität gegenüber Russland? Wie steht die Bevölkerung in Deutschland dazu?

Auch ein Vorwurf: „Sie sprechen sehr kritisch über Amerika. Aber das ist doch ein so tolles Land, das modernste und reichste der Welt, in vielem ein Vorbild in technischer und kultureller Hinsicht.“ Als Antwort erstens: Die Staatsschulden der USA betragen mehr als 19 Billionen Dollar, und dennoch haben die USA mit jährlich etwa 600 Milliarden Dollar den größten Militäretat der Welt. Zweitens: Das Zitat aus einer Rede des US-Vizepräsidenten Joe Biden vom 2. Oktober 2014, in der er sagt, dass Präsident Obama die europäischen Politiker dazu genötigt habe, gegen die Interessen ihrer Länder an den Sanktionen teilzunehmen, um Russland zu ruinieren: „Und die Folgen waren eine massive Kapitalflucht aus Russland, ein regelrechtes Einfrieren von ausländischen Direktinvestitionen, der Rubel auf einem historischen Tiefststand gegenüber dem Dollar und die russische Wirtschaft an der Kippe zu einer Rezession.“

Dazu eine Einschätzung des US-Präsidenten vom 28. Mai 2014 an der Militärakademie Westpoint: „Von Europa bis Asien sind wir der Dreh- und Angelpunkt aller Allianzen, unübertroffen in der Geschichte der Nationen … So sind und bleiben die Vereinigten Staaten die einzige unverzichtbare Nation. Dies ist für das vergangene Jahrhundert wahr gewesen und das wird für das nächste Jahrhundert gelten.“ Besonders aufschlussreich auch die Aussagen des einflussreichen Regierungsberaters Zbigniew Brzezinski über das „Schachbrett Eurasien“ sowie des ehemaligen Direktors des US-Thinktanks Stratfor, wonach das Hauptziel der US-Außenpolitik seit mehr als einem Jahrhundert sei, eine Kooperation zwischen Russland und Deutschland zu verhindern. Betroffenheit bei den Zuhörern, das war ihnen neu.

Teuerung, Tourismus, Eremitage

Immer wieder Fragen über Fragen, viele Begegnungen und neue Eindrücke im größten Land Europas und dem größten der Welt, von dem uns erneut ein Eiserner Vorhang trennt, abgesehen von Vorbehalten und Fehlinformationen, vermittelt durch die Mainstream-Medien. Aber die russische Bevölkerung leidet unter der Teuerung, ausgelöst durch die Wirtschaftssanktionen. Hinzu kommen die von den USA betriebene Beeinflussung der Kapital- und Energiemärkte und die aufgezwungenen Nachrüstungskosten, die in die Milliarden gehen. Russland soll geschädigt, die Bevölkerung aufgebracht werden. Eine Schande und ein Menschheitsverbrechen! Umso verächtlicher, dass der US-Vizepräsident sich dessen rühmt. Das Ziel ist, das Land den westlichen Begehrlichkeiten und Kapitalinteressen zu öffnen.

Die Leidtragenden dieser Politik sind Millionen russischer Menschen. Der Durchschnittsverdienst eines Arbeiters oder Angestellten liegt – je nach Qualifikation – bei monatlich 25.000 bis 80.000 Rubel, das sind zurzeit 360 bis 1.140 Euro. Aber schon die Miete für eine kleine Wohnung in der Vorstadt der Metropolen kostet ca. 25.000 Rubel (360 Euro), der Liter Benzin aktuell um 37 Rubel (53 Cent), ein Liter Milch um die 70 Rubel (1 Euro), 200 Gramm Butter ca. 140 Rubel (2 Euro). Fleisch und Käse sind rar und deshalb teuer, Brot ist dagegen verhältnismäßig preiswert. Die Teuerung macht sich vor allem in den großen Städten bemerkbar, weniger dagegen in der Provinz, wo viele landwirtschaftliche Produkte selber erzeugt werden.

Ansonsten hat sich nicht so viel geändert, wie man meinen könnte. Die Menschen gehen zur Arbeit, sie kaufen ein, sie lachen und weinen, sie bekommen Kinder, sie lieben und sie streiten sich – wie überall. Der Tourismus boomt nach wie vor; viele Chinesen, Vietnamesen, Japaner, Koreaner, Indonesier, ja sogar Deutsche, Franzosen, Engländer, Niederländer. Man sieht es beispielsweise an den Ticketschaltern der Museen, wo sich regelmäßig lange Warteschlangen bilden, vor allem im Sankt Petersburger Winterpalais.

Bis 1917 war das beeindruckende Schloss an der Newa mit seinen 1500 Räumen die Residenz der Zarenfamilie. Dorthin führt der obligatorische Stadtbummel mit einem Besuch der Eremitage, einem der bedeutendsten Museen der Welt. Hier werden über 60.000 Exponate in 350 Sälen gezeigt, darunter kostbarste Kunstschätze oder Werke von Leonardo da Vinci, Michelangelo, Rubens, Tizian, Rembrandt, Matisse, Gauguin, Renoir, Picasso und vielen anderen Künstlern.

Die Menschen

Was kann man als Vortragsreisender über ein Land wie Russland schreiben, wenn man ständig unterwegs, gefordert und im Einsatz ist? Jedenfalls nicht das, was in den Reiseführern und den Büchern reisender Dandys zu lesen ist. Auf dem Rückweg nach Moskau sitze ich im Zug neben Ekaterina, einer modisch gekleideten Mittvierzigerin aus Moskau, und wir kommen ins Gespräch. Sie arbeitet als Büroangestellte und lebt zusammen mit ihrem Mann, der 23-jährigen Tochter, dem 21-jährigen Sohn und ihrer 71-jährigen Mutter in einer eigenen Zweizimmerwohnung am Stadtrand. Sie erzählt, dass die eingesessenen Moskauer – wie auch andere Großstadtbewohner in Russland – zumeist eigene Wohnungen aus der Sowjetzeit besitzen, die vererbt werden können – ein großer Vorteil, obwohl die Nebenkosten für Heizung, Strom, Wasser und so weiter enorm gestiegen seien. Zugereiste müssen dagegen die hohen Mieten bezahlen.

Ekaterina schenkt mir einen Apfel, und als Service angeboten wird, lade ich sie zu einem Cappuccino ein. Auf meine Frage, wie sie die derzeitige gesellschaftliche Situation in Russland einschätzt, antwortet sie: „Nachdem wir den Zarismus, die Stalinzeit und die Ära Jelzin überstanden haben, kann es eigentlich nur noch besser werden.“ Der Wahlkampf von Jelzin sei 1991 vom CIA finanziert worden, sagt sie. Jelzin sei ein verantwortungsloser Säufer gewesen und habe das Land preisgeben wollen, Korruption und Verbrechen seien an der Tagesordnung gewesen. Erst Putin habe wieder aufgeräumt und Russland sozusagen gerettet. Er sei –trotz allem, was es zu kritisieren gebe – sehr beliebt. Das hätten die letzten Duma-Wahlen bewiesen, in denen die Partei Einiges Russland, für die Putin steht, 54 Prozent der Stimmen erhalten habe.

Ich frage Ekaterina, ob sie besondere Ansprüche habe, die bisher nicht befriedigt wurden, und nach und nach äußert sie vier Wünsche, die mich in ihrer Bescheidenheit anrühren: Eine größere Wohnung, schöne Reisen, Liebe und Frieden. Ob sie auch mehr Geld haben möchte? „Ein bisschen mehr könnte es schon sein“, meint sie. „Aber eigentlich würde es reichen, wenn ich nicht noch für meine zwei Kinder sorgen müsste.“

Wieder in Moskau, wohne ich diesmal im Hotel Arbat, nicht weit entfernt von der Buchhandlung Haus des Buches an der Ulica Novy Arbat. Zur Buchpräsentation werde ich von Olga Ditsch und Nina Litvinets abgeholt, und wir gehen durch eine lebendige Fußgängerzone zur Veranstaltung, die von Nina moderiert wird. Auch hier wieder ein sehr interessiertes Publikum und zahlreiche Fragen: Werden die Sanktionen demnächst aufgehoben? Wann endet der Bürgerkrieg in der Ukraine? Was halten Sie vom Wahlkampf in den USA? Wird Hillary Clinton Präsidentin oder wird Donald Trump gewinnen? Ich höre zu und antworte. Nach der Veranstaltung werde ich zu einem opulenten Abendessen eingeladen, bei dem ich mich des Wodkas enthalte. Denn schon am nächsten Tag geht die Reise weiter per Zug nach Nischni Nowgorod.

Weiterreise an die Wolga

Vier Stunden sitze ich wieder in einem Schnellzug auf der 450 Kilometer weiten Fahrt, diesmal nicht ganz so komfortabel wie vordem. Nischni Nowgorod, an der Wolga gelegen, hieß von 1932 bis 1990 Gorki. Einst die mächtigste Festung des Moskowiterreiches, zählt die an der Wolga gelegene Stadt 1.250.000 Einwohner. Sie ist ein wirtschaftliches, kulturelles und wissenschaftliches Zentrum Russlands, verfügt über Universitäten, Museen, Bibliotheken, Kirchen, Theater und viele Behörden, die sich im Kreml konzentrieren.

Niemand, dem ich am ersten Abend begegne, spricht Englisch oder Deutsch, so dass es einige Mühe kostet, per Taxi in das kleine, aber dennoch nicht ganz preiswerte Hotel zu gelangen. Auch hier wird nur Russisch gesprochen. Wer nicht wenigstens die kyrillische Schrift beherrscht, hat kaum Chancen, sich zu orientieren, geschweige denn zu verständigen. Erfreulicherweise holt mich am nächsten Tag Nina Litvinets im Hotel ab und bringt mich zu einer Veranstaltung in die Staatliche Wissenschaftliche Bibliothek, die auch eine große deutschsprachige Abteilung enthält. Hier sind wir mit dem bekannten russischen Schriftsteller und politischen Aktivisten Sachar Prilepin verabredet. Er ist Anfang Vierzig, seit 2004 als Schriftsteller tätig und hat seither mehrere Preise erhalten. Bis vor einigen Jahren ein streitbarer Gegner Putins, änderte er seine Meinung aufgrund der Aggressionspolitik des Westens und des Umsturzes in der Ukraine.

Leider kann ich mich mit Sachar nur mit Hilfe eines Dolmetschers unterhalten. Ich habe viele Fragen, die er bereitwillig beantwortet. Offenbar ist es in Russland, ebenso wie in Deutschland, schwierig vom Schreiben zu leben, wenn man nicht einen gewissen Bekanntheitsgrad und mit seinen Büchern hohe Auflagen erreicht. Stipendien oder sonstige staatliche Unterstützung gibt es nicht, und Bücher sind in Russland preiswert, sodass die Tantiemen verhältnismäßig gering ausfallen. Deswegen arbeiten viele Schriftsteller als Lektoren, Übersetzer oder Journalisten, sie machen Lesungen, halten Vorträge, verdienen ihren Lebensunterhalt neben der schriftstellerischen Tätigkeit.

Warum nicht amerikanische Investitionen?

Vor der Veranstaltung erscheint das russische Fernsehen und interviewt sowohl Prilepin als auch mich, unter anderem geht es um mein Buch „Die Eroberung Europas durch die USA“. Im Anschluss an meinen vierzigminütigen Vortrag beginnt dann unter reger Beteiligung des russischen Kollegen eine heftige Diskussion, an der offensichtlich viele sogenannte Liberale teilnehmen. Es wird sehr laut schwadroniert und polemisiert, mehrmals kommt es sogar zu tumultartigen Szenen. Insofern ist es nicht einfach, immer wieder auf die politischen Kernfragen zurückzukommen, wobei mich Nina Litvinets als Moderatorin nach besten Kräften unterstützt.

Trotz der vorgetragenen Analyse wird unter anderem gefragt: „Warum steckt Präsident Putin so viel Geld in die Rüstung, das woanders fehlt?“ Dass es sich dabei um das Resultat der westlichen Konfrontationspolitik handelt, ist nach meinem Eindruck in Teilen der russischen Bevölkerung bisher nicht angekommen. Eine andere Frage, die so oder ähnlich auch schon in anderen Diskussionen gestellt wurde, lautet: „Was wäre denn schlecht daran, wenn sich unser Land dem westlichen Kapital öffnete und die Amerikaner bei uns investieren würden?“ Ganz offensichtlich haben die Fragesteller nicht die Mechanismen und die Dynamik des Neoliberalismus begriffen; ihnen ist auch nicht klar, was sich vor ihrer Haustür in der Ukraine wirklich abgespielt hat: Dass dort ein Land auf kaltem Wege von den USA übernommen worden ist.

Anschließend wird mit Hilfe des Dolmetschers oder auf Englisch noch bis in die Nacht weiterdiskutiert. Und immer wieder wird in den eher privaten Gesprächen nach den Veranstaltungen und während der Reisen deutlich, dass es auch Kritik an der russischen Regierung gibt. Viele Bürger sind der Meinung, Präsident Putin regiere zu autokratisch und er weise die Oligarchen, die sich am Volksvermögen bereichern, nicht in die Schranken. Hinzu kommt, dass der wirtschaftliche Einbruch die Unzufriedenheit forciert. Insofern können die USA mit der Verhängung der Sanktionen bereits gewisse Erfolge verbuchen. Dass es jedoch zu einem Aufstand wie zum Beispiel in der Ukraine kommen könnte, wird allgemein als absurd abgetan.

Auf den insgeheim als Nachfolger Putins gehandelten ehemaligen Oligarchen und Vorstandsvorsitzenden des Yukos-Ölkonzerns Michail Chodorkowski angesprochen, schüttelt ein politisch versierter Gesprächspartner nur den Kopf und meint: „Dieser Verbrecher würde doch niemals gewählt werden.“ Dass jemand wie der ehemalige Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk nach dem Umsturz in der Ukraine auch nicht vom Volk gewählt wurde, ist in diesem Zusammenhang nicht präsent. Eine etwaige Umsturzgefahr in Russland wird jedenfalls derzeit für völlig abwegig gehalten.

Saratow, ehemals Zentrum der Wolgadeutschen

Um von Nischni Nowgorod in das etwa 600 Kilometer entfernte Saratow zu gelangen, kann ich entweder 21 Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren oder in vier Stunden, mit einem Umstieg in Moskau, fliegen. Ich ziehe den Flug vor, obwohl ich schon um 4.30 Uhr aufstehen muss.

Saratow, am rechten Ufer der Wolga gelegen, die hier drei Kilometer breit ist, zählt eine knappe Million Einwohner. Die Stadt ist der Verwaltungssitz der Oblast Saratow sowie des Föderationskreises Wolga. Mit einer großen Universität, mehreren Akademien, einer Oper, Theatern, Museen, einer umfangreichen Kunstsammlung (16.000 Exponate) und der international bekannten Theaterschule, ist Saratow ein kulturelles Zentrum des Wolgagebiets. Es gibt ein „Deutsches Haus“, eine Niederlassung des Goethe-Instituts, eine katholische Kirche, eine Synagoge, sowie Moscheen und mehrere eindrucksvolle russisch-orthodoxe Kirchen. Bis Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, sind es 400 Kilometer.

Am Flughafen werde ich von einer kleinen Delegation der Priwolzhkaja-Buchkammer empfangen, an der Spitze der Direktor Wladimir Ivanow. Er entschuldigt sich als Erstes für die kurzfristige Absage der Wolga-Flussfahrt und die daraus entstandenen Unannehmlichkeiten. Die Buchkammer stellt mir für die Zeit meines Aufenthalts einen Dolmetscher zur Seite und kommt für sämtliche Kosten auf. Ich genieße die russische Gastfreundschaft.

Nach der Anmeldung im Hotel und einem Rundgang durch die Stadt, bin ich bei dem Exgouverneur und Bücherfreund Dmitry Ayatskov zum Tee eingeladen. An der Wand seines Arbeitszimmers ein Foto von Wladimir Putin und eine große Weltkarte. Ich erfahre, dass die Stadt früher ein Zentrum der Wolgadeutschen war. Verbunden durch eine lange Brücke über die Wolga, liegt auf der anderen Seite die Stadt Engels, von 1924 bis 1941 als Pokrowsk Sitz der Wolgadeutschen Republik (Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Deutschen). Dmitry Ayatskov, ein gemütlich wirkender Mann in den Sechzigern, erzählt von der Ansiedlung deutscher Bauern und Handwerker unter der Regierung Katharinas der Großen und von der Deportation der Wolgadeutschen unter Stalin. Immer noch gebe es zahlreiche deutschstämmige Bürger in der Region, sagt er, was der Dolmetscher aus eigener Erfahrung bestätigt.

Am nächsten Vormittag bin ich in der Staatlichen Bezirksbibliothek, in der es auch eine große deutschsprachige Abteilung und ein deutsches Kulturzentrum gibt. Nach einer Führung werde ich von Journalisten zweier Fernsehsender zur aktuellen Politik, meiner schriftstellerischen Arbeit und zum Buch „Die Eroberung Europas durch die USA“ interviewt. Anschließend, um 12.00 Uhr, der Vortrag in einzelnen Passagen, jeweils übersetzt von dem Dolmetscher, und unterstützt von einer Schauspielerin, die Textauszüge aus der russischen Buchausgabe vorträgt. Wie schon in Nischni Nowgorod ist der Saal vollbesetzt und es gibt wieder viele Fragen, hier allerdings keine kontroverse Diskussion.

Am Nachmittag bin zu einem Interview mit Vadim Rogoshin, einem Verleger und Zeitungsherausgeber verabredet. Er hat im Internet bereits einen sehr positiven Bericht über die Veranstaltung in der Bibliothek veröffentlicht. Vadim, Anfang Vierzig und recht gut informiert, stellt vor allem Fragen zur politischen Situation. Er spricht weder Deutsch noch Englisch, ich nicht Russisch, so dass wir auf einen Dolmetscher angewiesen sind. Wenn meine Antworten übersetzt werden, nickt er mir hin und wieder freundlich zu.

Bei Tee und Kuchen verbringen wir zusammen mit dem Dolmetscher zwei anregende Stunden. Bevor ich mich verabschiede, empfehle ich noch alternative deutsche Medien, zum Beispiel nachdenkseiten.de und kenfm.de. Denn ich habe mehrmals festgestellt, dass sich an Deutschland interessierte russische Intellektuelle und Journalisten oft aus den gängigen deutschen Mainstreammedien informieren, was zu Fehleinschätzungen führen kann. RT Deutsch und Sputnik sind Ausnahmen, aber sie werden zumeist in Deutschland gelesen und weniger in Russland.

Zum Abschluss meines Aufenthalts in Saratow und meiner Russland-Reise lädt mich der ehemalige Minister für Information und Druckwesen, Andrej Kostenko, zu einem unvergesslichen Dinner ein. Auf meine Frage nach den Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen meint er, dass Maschinenbau- und chemische Unternehmen darunter leiden, nicht jedoch die Versorgung der Bevölkerung, weil in der Wolgaregion umfangreich Landwirtschaft betrieben wird. Letzteres war mir schon an dem Salatbuffet und den überreich gefüllten Obstschalen im Hotel aufgefallen. Überhaupt machen die Menschen hier einen zufriedenen, bodenständigen Eindruck.

Gerade wird die Fußgängerzone erneuert. Am Anfang steht das große Denkmal eines einheimischen Schriftstellers; in Russland werden die Schriftsteller und Dichter noch geehrt, anders als in Deutschland. Bedauerlicherweise kann ich aus terminlichen Gründen nicht an der Saratower Buchmesse teilnehmen, zu der auf Initiative von Wladimir Ivanov Verlage aus Moskau, Sankt Petersburg, Samara, Nischni Nowgorod, Weißrussland, Kasachstan, Tschetschenien und sogar aus der Ostukraine angereist sind.

Ausblick und Resümee

Leider gestaltete sich die Rückreise nach Deutschland unerwartet schwierig. Nachdem der Flug in Saratow mehr als eine Stunde Verspätung hatte und auf dem Moskauer Flughafen mein Koffer eine Stunde lang verschwunden war, verpasste ich den Anschlussflug nach Frankfurt am Main. Die nächste Maschine ging mehrere Stunden später, und so verbrachte ich Stunden im Flughafenrestaurant, wo ich mit dem leitenden Mitarbeiter einer deutschen Firma für technische Geräte ins Gespräch kam.

Als ich ihn auf die Wirtschaftssanktionen ansprach, entgegnete er erbost, sie seien eine Schande, ein Armutszeugnis für die deutsche Politik, vollkommen unsinnig und in erheblichem Maße schädigend für die Wirtschaft. Über Jahre hinweg aufgebaute Handelsbeziehungen würden gekappt. Da die russischen Partner kein Vertrauen mehr in die Zuverlässigkeit der deutschen Firmen hätten, orientierten sie sich inzwischen vermehrt nach China und anderen Ländern, was zu erheblichen Verlusten führe. „Dieser Vorwurf der Krim-Annexion ist nur ein Vorwand“, meint er. „Die USA wollen die Zusammenarbeit deutscher Firmen mit Russland ganz offensichtlich verhindern.“

Ankunft am Frankfurter Flughafen endlich gegen 22.00 Uhr. Gepäckausgabe, Shuttlebus vom Termin 2 zum Terminal 1, Fernbahnhof. Aber nach der Privatisierung der Bahn und der Ausdünnung der Nachtverbindungen, ging der nächste Zug in den Norden vom Frankfurter Hauptbahnhof erst um 3.49 Uhr. Wartesäle, wie früher, gibt es auf deutschen Bahnhöfen nicht mehr, und so blieb nur eine Gaststätte. Schließlich kam ich gegen sieben Uhr zu Hause in Göttingen an, todmüde, aber froh, alles unbeschadet überstanden zu haben.

Alles in allem wirklich eine spannende, abenteuerliche und höchst informative Reise. Allerdings mit einem sehr bitteren Wermutstropfen: Flüge und Bahnfahrten sowie meine Spesen hatte ich selber zu bezahlen, zumeist auch die Hotel- und Taxikosten und nicht zuletzt einige der recht hohen Honorare für die Übersetzer. Das war ursprünglich anders vereinbart worden, aber offensichtlich fehlte es an Mitteln. Vielleicht machten sich auch hier die Sanktionen bemerkbar.


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