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Titel: Venezuela – Vom Hubschrauber-Attentat, der Erstürmung des Parlaments, zur verfassungsgebenden Versammlung: die Spirale der Konfrontation

Datum: 12. Juli 2017 um 14:32 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Länderberichte
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Venezuela kommt nicht aus den spektakulären Schlagzeilen. Am vergangenen 27. Juni fand auf den Obersten Gerichtshof des Landes ein Hubschrauber-Angriff mit Granaten und Maschinengewehrfeuer statt. Zu diesem Attentat bekannte sich ein oppositioneller Polizist und Gelegenheits-Schauspieler. Eine Woche später, am Tag der Nationalen Unabhängigkeit Venezuelas, umstellte und erstürmte ein hundertköpfiger Schlägertrupp von Sympathisanten Präsident Nicolás Maduros das nationale Parlament in Caracas, verjagte anwesende Journalisten und misshandelte Abgeordnete und Personal mit Schlagstöcken und Messern. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Der Überfall war Stunden zuvor von Vizepräsident Tareck El Aissami mit den Worten ermutigt worden, „das Volk sollte Räume besuchen, die von der Oligarchie entwendet wurden”, wurde jedoch von Maduro aufs Schärfste verurteilt. Wenige Tage darauf entließ die venezolanische Justiz den seit dreieinhalb Jahren wegen schweren Landesfriedensbruchs, Verschwörung und Sachbeschädigung in Haft sitzenden, militanten Führer der rechten Opposition, Leopoldo López, in den Hausarrest. Die überraschende Entscheidung war als Geste der Dialogbereitschaft zu verstehen. Immerhin ist López mitverantwortlich für den Tod von mindestens 40 Menschen während seines Aufrufs vom Februar 2014 zum gewaltsamen Sturz der Regierung.

Doch die Opposition will von Dialog nichts wissen. Die für den 30. Juli geplanten und umstrittenen Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung will sie am kommenden 16. Juli mit einem Referendum sabotieren. Mit der Ausrufung einer sogenannten „Stunde Null” solle Venezuela danach in den Zustand der Unregierbarkeit gedrängt werden. Sollte die Regierung Maduro dennoch auf der verfassungsgebenden Versammlung bestehen, „dann kommt ein gewaltiger Krieg, meine Herren!”, drohte der oppositionelle Abgeordnete Juan Requesens während einer Rede vor der Florida International University am vergangenen 5. Juli und nannte die Ausbreitung der Gewalt eine „Etappe für eine ausländische Intervention”. Die Androhung einer ausländischen Intervention ist diesmal keine leere Mutmaßung der Regierung, die Rede in Miami wurde dokumentiert.

Der fortdauernde Aufruf der Opposition zu Demonstrationen gegen die Regierung – wissend, dass diese in unvermeidlichen, ja größtenteils von vornherein provozierten Straßenschlachten mit den Sicherheitsbehörden gipfeln werden – und Drohgebaren wie die Maduros – „was nicht mit der Stimmabgabe erreicht wurde, könnten wir mit den Waffen erzwingen” – sind Signale fortgesetzter und unbelehrbarer Konfrontationsbereitschaft, die die Restdemokratie Venezuelas an den Rand des Abgrunds drängen und Hoffnungen auf eine friedliche Konfliktlösung vorerst restlos begraben.

Luftangriff und abgestellte Radare

Caracas, 27. Juni. Ein Hubschrauber des Kriminaltechnischen Instituts der Polizei Venezuelas (Cuerpo de Investigaciones Científicas, Penales y Criminalísticas – CICPC) kreist über dem Obersten Gerichtshof, wirft vier Sprenggranaten und feuert zusätzlich 15 Schüsse aus einem automatischen Sturmgewehr ab, nimmt eine scharfe Kurve und verschwindet über dem Himmel der Hauptstadt.

Während des Angriffs wehte ein Transparent aus der Maschine. Mit dem chiffrierten Text „350 – Libertad” („350 – Freiheit”) verwies es auf Artikel 350 der Verfassung Venezuelas, der besagt: „Das Volk Venezuelas – treu seiner republikanischen Tradition, seinem Kampf für die Unabhängigkeit, den Frieden und die Freiheit – anerkennt kein Regime, kein Gesetz und keinerlei Behörde, die den Werten, Prinzipien und demokratischen Prinzipien zuwider handelt oder die Menschenrechte unterdrückt”. Dabei handelt es sich um einen von der konservativen Opposition Venezuelas vielzitierten Artikel zur Legitimierung zivilen Ungehorsams, den die Hubschrauberinsassen mit ihrem Anschlag nochmal anzuzetteln versuchten.

Sodann durchfliegt der Hubschrauber den gesamten Luftraum über Caracas und verschwindet. Zwei Tage später wird er in einer Urwaldlichtung hinter dem rund 80 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Badeort Osma gefunden. Wieso der in Deutschland hergestellte Airbus Bölkov B0105-Helikopter eine ganze Stunde nach dem Anschlag unbeobachtet von Radaren die Hauptstadt und das nördliche Venezuela überfliegen konnte, ist eine der vielen offenen Fragen, nicht nur an die Attentäter, sondern auch an die Regierung Nicolás Maduro. Luftfahrt-Ingenieur Juan Carlos Garmendia erklärte, dass das gesamte Radar-Luftschutzsystem Venezuelas seit geraumer Zeit „zerlegt” und damit ausgeschaltet sei; ein Unding, das gar nicht zusammenpassen will mit dem Ruhm der venezolanischen Luftwaffe als bestausgerüstete Luftstreitkraft der Karibik.

Eine Stunde nach dem Anschlag bezeichnete Maduro den Polizisten und Hubschrauber-Piloten Óscar Pérez als einen „CIA-Agenten”, der mit einem weiteren „CIA-Agenten” – dem engen Chávez-Vertrauten und ehemaligen Chef der Geheimdienste DISIP, aber entschlossenen Maduro-Kritiker, General a.D. Miguel Rodríguez Torres – „unter einem Hut” stecke. Wie so oft legte die Regierung allerdings keinerlei Beweise für die Anschuldigungen vor.

Der Abgeordnete und Vertreter des konservativen Wahlbündnisses „Bewegung der Demokratischen Einheit (MUD)”, Juan Guaidó, erklärte indes, der Hubschrauber-Angriff sei „nicht die Handlungsweise der Opposition, die lediglich einen demokratischen Wechsel auf friedlichem Wege” anstrebe. Der Schwur auf den „friedlichen Weg” wurde selbstverständlich als Zynismus verstanden.

Ferner widersprach der Pérez-Freund und Journalist Isnardo Bravo Kritikern der Maduro-Regierung, die hinter der Hubschrauber-Episode ein Falsche-Flagge-Unternehmen Maduros vermuteten. Auf Twitter meldete Bravo am 27. Juni: „No es un montaje – Es ist keine Inszenierung. Der Anschlag hat nur ein vielfaches Geheimnis gelüftet: die enorme Unzufriedenheit in der kriminaltechnischen Polizei CICPC”.

Maduro rief Interpol für die grenzübergreifende Fahndung nach Pérez zur Hilfe. Während jedoch die Medien über Pérez´ Flucht auf eine Insel in der Karibik spekulierten, schaltete sich der ehemalige-Torres-Kollege und Minister für den Zivilschutz in der Regierung Chávez, der vielfacher „Destabilisierungsversuche” beschuldigte General a.D. Antonio Rivero, aus seinem US-Exil ein und prahlte, direkten Kontakt zu Pérez zu pflegen. Der Pilot sei nicht in ein fremdes Land geflohen, sondern halte sich an „sicherem Ort im Lande mit seinen Kameraden auf” – „Bald kommt es noch dicker!”, drohte Rivero.

Quintessenz der Hubschrauber-Episode: selbst die akkurateste Ineinanderfügung der mehrfachen Puzzleteile und Parallelhandlungen des Attentats lässt bisher keine schlüssige Erklärung zu, ob es eine false-flag-show oder die tatsächliche Handlung eines Einzeltäters war.

Konfrontations-Szenarien

Hubschrauber-Anschlag, Parlaments-Überfall, Referendum der Opposition gegen die verfassungsgebende Wahlinitiative der Regierung und gewaltsame Destabilisierungs-Androhung der militanten Opposition bilden Konfrontations-Szenarien, die zudem von fatalen Fehlentscheidungen Maduros befeuert wurden, weil sie anstelle einer politischen Deeskalierung die Krise und die Stimmung in den vergangenen Monaten angeheizt haben. Dazu gehört die Ankündigung, die 2007 von Hugo Chávez geschaffenen „Bolivarischen Volksmilizen” von derzeit 200.000 auf 500.000 Mann auszubauen und schließlich die Kaltstellung politischer Gegner aus den eigenen Reihen, wie der Disput mit der Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz deutlich macht.

Die Entmachtung der Generalstaatsanwältin

Der Fall Luisa Ortega Díaz spricht Bände über politische Verbohrtheit und Dilettantismus. Verheiratet mit dem regierungstreuen Abgeordneten Germán Ferrer und 2007 vom damaligen Präsidenten Hugo Chávez zur Generalstaatsanwältin nominiert, saß Ortega Díaz im März 2013 in der ersten Reihe während der Trauerfeier um den toten Präsidenten, dessen sozialistischen Ideen sie auch vier Jahre später nicht abschwört.

Gleichwohl steht die Generalstaatsanwältin und Chávez-Anhängerin seit Ende Juni vor dem Kadi. Auf Betreiben des Abgeordneten und Maduro-Verbündeten Pedro Carreño leitete der Oberste Gerichtshof einstweilige Verfügungen gegen Ortega Díaz ein. Die fragwürdigen Begründungen lauten: “Vergehen, Beschädigung oder Bedrohung der öffentlichen Verwaltungs-Moral“, “schwerwiegende und unentschuldbare Unkenntnis sowie Verletzung, Bedrohung und Missachtung grundlegender Prinzipien der Verfassung”. Das Gericht beschlagnahmte Ortega Díaz´ Bankkonten, verbot ihr die Ausreise aus Venezuela und zitierte sie zum Anhörungstermin für den vergangenen 4. Juli, den die Chefin der Staatsanwaltschaft jedoch ignorierte.

Szeneneingeweihte vermuten hinter der Klageführung ein Manöver zur Absetzung Ortega Díaz´. Jedenfalls warnte die Generalstaatsanwältin seit Jahresbeginn vor der Eskalierung der Gewalt. Im März verwies sie auf 55 Todesopfer der politischen Straßenschlachten, die sich Ende Juni auf mehr als 100 Tote verdoppelt hatten. Die Generalstaatsanwaltschaft mahnte jedoch auch die schwindelerregende Statistik von 70,1 Morden je 100.000 Einwohner an – 21.752 Morde allein im ersten Halbjahr 2017 – und plädierte für radikales Umdenken und rasches Handeln im Umgang mit der allgemeinen, gewalttätigen Kriminalität.

Über die tatsächlichen Hintergründe wird spekuliert, doch zwei Entscheidungen Ortega Díaz´ könnten die Auslöser für den Bruch mit der Maduro-Regierung sein. Zum einen, ihre Warnung vor einem Verfassungsbruch durch die Regierung mit der plötzlichen Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung zum kommenden 30. Juli. Mit der Wahl einer Volkskammer soll damit das offizielle Parlament entmündigt werden, in dem die Regierungspartei in der Minderheit ist.

Die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung ist nicht neu, sie stammt von der erzkonservativen Opposition, die sich damit der vergangenen Chávez-Mehrheit in der gleichen Nationalversammlung entledigen wollte und zu Recht vom Präsidenten in einer historischen Rede aus dem Jahr 2010 putschistischer Absichten beschuldigt wurde – ob die Videoaufzeichnung Maduro und seinen Anhängern noch in Erinnerung ist?

Zum anderen wagte Ortega Díaz´ Staatsanwaltschaft gegen den Ex-Kommandanten der Nationalgarde und frisch nominierten Gouverneur des Regierungsdistrikts, General Antonio Benavides, Klage wegen angeblicher, brutaler Gewaltanwendung gegen Demonstranten und Journalisten zu erlassen. Nach Angaben der wichtigsten Journalisten-Gewerkschaft des Landes (Sindicato Nacional de Trabajadores de la Prensa – SNTP) seien allein zwischen März und Juni dieses Jahres 376 Journalisten Gewalttaten zum Opfer gefallen. Für 170 angezeigte Fälle – darunter 33 ungerechtfertigte Festnahmen – wird Maduros Polizei (Guardia Nacional Bolivariana) verantwortlich gemacht, den Hauptanteil an den Übergriffen hatten jedoch die „Guarimberos” (Straßenblockierer) und „Grupos de Choque” der Rechten sowie die bewaffneten „Colectivos” der Chávez-Anhänger. Der Journalisten-Protest wurde nicht allein von konservativen Medien und „Reporter ohne Grenzen”, sondern diesmal von der linken mexikanischen Tageszeitung La Jornada angemahnt.

Allerdings verdeutlicht das Vorgehen Ortega Díaz´ und des regierungstreuen Obersten Gerichtshofs zweierlei prekäre Aspekte. Einerseits lässt die Sorge der Staatsanwaltschaft um die unkontrollierte Gewalt bei ihrer Anklage von Polizisten und eines hohen Militärs ein ebenso hartes Durchgreifen gegen die vermummten „Grupos de Choque” der Rechten vermissen, die seit Monaten auf Bildern der in- und ausländischen Presse hinreichend als kriminelle, paramilitärische Stoßtrupps nach dem Vorbild der faschistischen Euromaidan-Platz-Schlägertrupps abgebildet werden und im Juni zum zweiten Mal einen Menschen bei lebendigem Leibe mit Molotow-Cocktails zu Tode verbrannten.

Bedauerlich ist andererseits die Bereitschaft der Justiz, der provokativen Klage des Maduro-Verbündeten Pedro Carreño in vollem Umfang nachzugeben, anstatt mit Ortega Díaz´ zu verhandeln und den Fall zu deeskalieren. Selbstverständlich wird die Gerichtsentscheidung vom Präsidenten unterstützt, der zur Stunde mehr als je zuvor auf die Unterstützung des Militärs – vor allem der Generalität – angewiesen ist und es vorzog, seine Generalstaatsanwältin in die offenen Arme der putschbereiten rechten Opposition zu treiben.


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