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Titel: Vom bewaffneten Kampf zur Strategie des Glücks – Über die Autobiographie von Lutz Taufer

Datum: 21. September 2017 um 9:36 Uhr
Rubrik: Rezensionen, Terrorismus, Wertedebatte
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„Es dauerte lange, bis ich in meinem Fühlen und Denken zulassen konnte, dass die Tötung zweier Geiseln auf grausame Weise, für die ich mitverantwortlich bin, ein Verbrechen ist, das durch nichts zu rechtfertigen ist“, notiert Lutz Taufer in seiner Autobiographie Über Grenzen. Er beschreibt den Weg aus der badischen Provinz in die antiautoritäre Revolte und nach deren Auflösung in den bewaffneten Kampf der RAF. Im Gefängnis setzten Lernprozesse ein und es wurde ihm klar, dass die befreite Gesellschaft bereits in den Mitteln erkennbar sein muss, die zu ihrer Erreichung angewandt werden. Hass und Gewalt verzerren die Züge der Kämpfenden und entstellen das Antlitz der Revolution. Am Ende kommt es zu der grotesken Situation, dass sich die, um deren Befreiung es gehen soll, von denen bedroht fühlen, die sie befreien wollen. Nach der zwanzigjährigen Haft ging Lutz Taufer als Entwicklungshelfer nach Brasilien und versuchte dort in den Favelas, Ansätze einer „Strategie des Glücks“ zu verwirklichen. Von Götz Eisenberg[*].

„Ich bin ein alter Revolutionär, der den Hoffnungen, die er begraben musste, treu geblieben ist.“
(Manès Sperber)

Eigentlich bin ich in den Süden der Niederlande gereist, um Rad zu fahren, im Meer zu schwimmen und meinen Kopf in die Seeluft zu halten. Aber seit ich hier bin, regnet und stürmt es unablässig. An Baden kein Gedanke, Rad fahren geht nur in wenigen regen- und sturmfreien Stunden. Unter solchen Bedingungen greift unsereiner zum Buch. Vor der Abreise hatte ich eine Tasche mit Büchern vollgepackt, aus der ich nun das Buch von Lutz Taufer hervorzog, das Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela heißt. Und das war, um es gleich vorwegzunehmen, ein guter Griff. Das Buch passte zu den stürmischen Bedingungen um mich herum und hat mir die vergangenen Tage gerettet. Selten hat mich in letzter Zeit eine Lektüre so gefesselt und in Atem gehalten. Und das liegt nicht nur daran, dass ich schnell auf Einiges stieß, das uns verbindet, obwohl Lutz Taufer einige Jahre älter ist als ich.

Putsch in Chile

Ich begann am 11. September damit, diese Rezension zu schreiben. Dieses Datum ist für Lutz Taufer wie für mich in erster Linie der Jahrestag des 11. September 1973, als das chilenische Militär mit tatkräftiger Unterstützung der USA gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende putschte und diesen ermordete, und erst in zweiter Linie der Jahrestag der Ereignisse, für die sich das Kürzel 9/11 eingebürgert hat. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger hatte dem chilenischen Botschafter Orlando Letelier gegenüber den Putsch mit den Worten angekündigt: „Chile hat keinerlei strategischen Wert. Wir können unser Kupfer aus Peru, Sambia, Kanada beziehen. Ihr habt nichts, was entscheidend sein könnte. Aber wenn dieses Projekt Sozialismus à la Allende sich durchsetzt, werden wir in Frankreich und Italien ernsthafte Probleme bekommen, wo Sozialisten und Kommunisten gespalten sind, sich aber an diesem Projekt ein Beispiel nehmen und sich zusammenschließen könnten. Und dies würde die Interessen der Vereinigten Staaten substantiell tangieren. Wir werden es nicht zulassen, dass es zum Erfolg geführt wird. Nehmen Sie dies zur Kenntnis.“ Drei Jahre nach dem Putsch wurde Letelier im Exil von der chilenischen Geheimpolizei ermordet.

Der Sieg der Unidad Popular im Jahr 1970 und die von ihr eingeleiteten tiefgreifenden Reformen hatten bei der Linken weltweit Hoffnungen geweckt, dass es einen friedlichen Weg in eine gerechte und menschlichere Gesellschaft geben könnte. Aus dem gewaltsamen Ende zogen Lutz Taufer und viele andere den Schluss, dass diese Hoffnung illusionär sei und dass es nirgendwo auf der Welt einen friedlichen Übergang zum Sozialismus geben würde. Sein Fazit: „So wenig die Sowjetunion in der Tschechoslowakei einen demokratischen Sozialismus in ihrem Herrschaftsbereich hinnehmen wollte, wo wenig die USA in ihrem lateinamerikanischen Hinterhof.“ Als 1974 in Portugal die Nelkenrevolution weitgehend friedlich siegte, war Lutz Taufer bereits auf dem Weg in den bewaffneten Kampf und gegen andersartige Erfahrungen abgeschottet.

Ein gemeinsamer Freund

Gleich zu Beginn seines Buches erzählt Taufer von seinem Karlsruher Jugendfreund Lothar, mit dem er zusammen zur Schule ging und eine freie, ein wenig anarchische Pfadfindergruppe besuchte. Aus ihm wurde später der Übersetzer, Essayist und Schriftsteller Lothar Baier. Mit diesem war auch ich befreundet, und ich erinnere mich, dass mir Lothar von einem Freund erzählte, der wegen des RAF-Überfalls auf die Stockholmer Botschaft im Gefängnis saß und den er gelegentlich dort besuchte. Im Jahr 2004 hat Lothar Baier sich in Montreal das Leben genommen. Ich habe 2012 anlässlich seines 70. Geburtstags auf den Nachdenkseiten an ihn erinnert. Als ich Mitte der 1980er Jahre anfing, im Knast zu arbeiten, haben Lothar und ich häufig über die Identitätsprobleme derer gesprochen, die unter diesen Bedingungen zu leben gezwungen sind. Und über meine, die darin bestanden, als Linker im innersten Bezirk der Macht zu arbeiten und Menschen wie Lutz wegzuschließen. Lothar verdanke ich den Hinweis auf das Buch Ausbruchsversuche der beiden britischen Soziologen Stanley Cohen und Laurie Taylor, das mir dabei geholfen hat, einen verstehenden Zugang zu den oft verqueren und verzweifelten Bemühungen zu finden, die Gefangene unternehmen, um unter Bedingungen nahezu totaler Kontrolle als Subjekte durchzuhalten. Ein Mittel dieser Selbstbehauptung ist der Hungerstreik. Er dient neben der Verfolgung programmatischer Ziele vor allem der Rekonstruktion der Menschenwürde, die der Knast systematisch untergräbt, indem er Menschen zu Mitteln fremder Zwecke degradiert.

Kampf um Identität

Im Gefängnis zielt Herrschaft auf totale Kontrolle. Sie will jede Lebensäußerung dessen, der ihr überantwortet ist, regeln, will prüfen, ob eine Lebensäußerung sein darf oder nicht. Und wenn sie sein darf, gibt die kontrollierende Instanz Ort, Termin, Dauer, Qualität, Quantität und Form vor; nicht einmal elementare Lebensfunktionen wie Schlaf, Nahrungsaufnahme, körperliche Bewegung oder sinnliche Wahrnehmung sind davon ausgenommen. Dem Gefangenen wird fast jede Entscheidungskompetenz genommen und man hält dies für den Beginn der Resozialisierung. Erving Goffman hat in seinem bahnbrechenden Buch Asyle beschrieben, wie totale Institutionen die ihnen ausgelieferten Menschen ihrer Identitätsausrüstung berauben. Im Kern der Aufnahmeprozedur stehen das Abgeben der mitgebrachten zivilen Kleidung und das Einkleiden mit Anstaltsklamotten. Die Eingelieferten müssen sich ihrer persönlichen Habe entledigen. Die Gegenstände, die sie im Gegenzug ausgehändigt bekommen, sind Anstaltseigentum und extrem standardisiert und uniform. „Diese Ersatzgegenstände sind deutlich als der Anstalt gehörend gekennzeichnet, und in manchen Fällen werden sie in regelmäßigen Abständen eingefordert, so als sollten sie von allen Spuren einer Identifikation gereinigt werden.“ Die regelmäßigen Kontrollen und Durchsuchungen der Hafträume dienen nicht nur der „Sicherheit und Ordnung“, sondern tilgen nebenbei auch Spuren emotionaler Besetzungen. Alle Gegenstände werden von fremden Händen berührt und dadurch emotional enteignet und mit Macht kontaminiert. Ständige Verlegungen verhindern die Besetzung der Räume und die Entstehung von Bindungen. Das Einsperren von Menschen und ihre Unterwerfung unter solche Bedingungen ist eine Tortur. Das gilt schon für den „Normalvollzug“, wieviel mehr erst für Gefangene in Hochsicherheitstrakten! Lutz Taufer und andere politische Gefangene waren oft Jahre lang in solchen Trakten und unter Bedingungen beinahe vollständiger Isolation untergebracht. Taufer hatte irgendwann das Gefühl, wahnsinnig zu werden und „statt Gehirnmasse Styropor unter der Schädeldecke zu haben“. Er unternahm einen Suizidversuch, wurde aber gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht. Manchmal, daran hat unser Freund Lothar Baier in einem Essay über Jean Amérys Buch Hand an sich legen erinnert, bringt ein Mensch sich um, und rettet durch diese Tat sein Leben – so paradox es klingen mag.

Der Hungerstreik ist unter solchen Extrembedingungen ein Mittel, ein Stück Kontrolle über das enteignete Leben zurückzuerobern. In die Einsamkeit des Hungerns, der gewaltlosen Verweigerung, kann, so scheint es, Herrschaft dem Gefangenen nicht mehr folgen. Jetzt liegt die Kontrolle seines Lebens wieder bei ihm. Dieser Erfolg geht jedoch meist auf tönernen Füßen, denn irgendwann wird der Gefangene von der Macht eingeholt und der qualvollen Prozedur der Zwangsernährung unterworfen. Für politische Gefangene hat der Hungerstreik natürlich noch eine andere Bedeutung: Es geht um die Aufrechterhaltung der Identität als Kämpfer gegen das System, die Bannung der Zentrifugalkräfte und die Stärkung der Kohäsion der Gruppe. Von diesen Kämpfen, Triumphen und Niederlagen berichtet Lutz Taufer in eindringlichen Passagen seines Buches, in denen er von der Zeit in verschiedenen Gefängnissen berichtet.

Zu den Mitteln der Selbstbehauptung gehört auch die Schaffung von kleinen Bastionen des Eigensinns. Gefangene entwickeln einen unglaublichen Einfalls- und Erfindungsreichtum, um sich selbst Gerichte zuzubereiten und ihren Zellen und ihrer Kleidung eine individuelle Note zu verleihen. Lutz Taufer hat im Knast angefangen zu backen und ist nach seiner Haftentlassung zwischenzeitlich darauf zurückgekommen. Gefängnisinsassen werden – von Rosa Luxemburg, Ernst Toller bis zum Mann von Alcatraz – zu Ornithologen. Gefangene schauen den Zugvögeln nach. Fliegende, flüchtige Gedanken, die sie mitnehmen in die Welt. Man streut zerbröseltes Brot auf das Fensterbrett, um die Spatzen zu füttern, sofern die vielerorts eingezogenen engmaschigen Zusatzgitter das noch zulassen. „Ich fände es schön, wenn ich einen Spatz überreden könnte, bei mir ein- und auszugehen“, schrieb Adriano Sofri, der als politischer Häftling viele Jahre in italienischen Gefängnissen einsaß. Für Lutz Taufer wurde der Knast zur Schule des Empowerment, zur Erfahrung, dass man selbst unter widrigen Umständen etwas tun und wirkmächtig sein kann. Empowerment könnte auch als Motto über Taufers weiterem Lebensweg stehen, der durch Versuche gekennzeichnet ist, diese Erfahrung an andere weiterzugeben. Aber jetzt habe ich vorgegriffen.

Politisierungsgeschichte

Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Lutz Taufer und mir gehören auch Teile unserer Politisierungsgeschichte. Sie ist im Grunde die einer ganzen Generation. Ich nenne deswegen nur Stichworte. Am Anfang steht die Revolte gegen das Waschen mit Kernseife, gegen den Kochpottschnitt, gegen die Tischmanieren: „Sitz gerade, linke Hand am Tellerrand, nimm den Ellbogen vom Tisch!“, gegen die Sonntagshosen und die Bügelfalten, gegen die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit der Elterngeneration und die daraus rührende Erstarrung des Lebens. Das Gros der Lehrer war autoritär; sie schwadronierten vom Krieg und manch einer musste den Impuls unterdrücken, aus alter Gewohnheit reflexartig die Hand zum „Deutschen Gruß“ hochzureißen, wenn der Direktor am Horizont auftauchte. Taufers Eltern waren im Unterschied zu meinen keine aktiven Nazis, sondern haben sich so durchlaviert und manchmal sogar kleine Subversionen begangen. Aber auch Lutz vermisste im Elternhaus Wärme, die er anderswo suchte und zu seinem Glück auch fand. Vielen von uns haben solche externen Wärmequellen das Leben gerettet. Gegen diese ganze pädagogische Paranoia, die man Erziehung nannte und gegen uns in Stellung brachte, geschah die Revolte. Bernward Vesper hat es in seinem autobiographischen Roman Die Reise so ausgedrückt: „Der Aufstand geschieht gegen diejenigen, die mich zur Sau gemacht haben, es ist kein blinder Hass, kein Drang, zurück ins Nirwana, vor die Geburt. Aber die Rebellion gegen die zwanzig Jahre im Elternhaus, gegen den Vater, die Manipulation, die Verführung, die Vergeudung der Jugend, der Begeisterung, des Elans, der Hoffnung – da ich begriffen habe, dass es einmalig, nicht wiederholbar ist. Ich weiß nicht, wann es dämmerte, aber ich weiß, dass es jetzt Tag ist und die Zeit der Klarstellung. Denn wie ich sind wir alle betrogen worden, um unsere Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit, ums Ficken, um Hasch und Trip (werden weiter alle betrogen).“

Das Spezifikum der 68er Revolte bestand darin, dass sich dieser Autoritätsprotest politisierte und mit dem Protest gegen den Krieg in Vietnam und das Elend und das Leiden der „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) zu einer weltweiten Bewegung verband. Lutz Taufers politischer Weg führte über die Basisgruppe Politische Psychologie ins Heidelberger Sozialistische Patientenkollektiv (SPK). Dieses war eine Patientenselbstorganisation, die aus dem Widerstand gegen das Psychiatrische Landeskrankenhaus Wiesloch und die dort übliche „Behandlung“ hervorgegangen war. Man wollte das traditionelle Arzt-Patient-Verhältnis, in dem der Arzt handelndes, gesundes Subjekt und der Patient krankes und zu behandelndes Objekt ist, aufheben und in ein solidarisches Handeln verwandeln. „Ein Krankheitssymptom“, hieß es im programmatischen Gründungs-Text, „ist ein Protest des Organismus gegen krankmachende Lebens- und Arbeitsbedingungen, zugleich aber Hemmung des Protests, da er sich gegen den eigenen Organismus richtet. Es kommt darauf an, den Protest freizusetzen und gegen die krankmachenden Verhältnisse zu richten: Aus der Krankheit eine Waffe machen.“

Fraktionierung der Revolte

Anfang der 1970er Jahre ging die Phase des Aufbruchs und des öffentlichen Glücks zu Ende. Die geschlossenen Fabriktore am Tag der Verabschiedung der Notstandsgesetze hatten eindringlich signalisiert, dass die Bewegung die Arbeiterklasse nicht erreicht hatte und als auf Jugendliche und Studierende begrenzte das Ganze der Gesellschaft nicht treffen und verändern konnte. Überall stieß die Revolte auf Begrenzungen und Hindernisse. Das SPK wurde 1971 auf behördliche Anordnung aufgelöst. Überall verstörte und ratlose Akteure, die sich fragten: „Wie und wo geht’s zur Revolution weiter? Was tun?“

Die bislang gemeinsamen Wege trennten sich: „Die Freunde, die hier sich trafen und umarmten, sind fort / Jeder zu seinen eigenen Fehlern“, heißt es in einem Gedicht des englisch-amerikanischen Schriftstellers W. H. Auden. Zeilen, die auch die Phase und die Stimmung nach der Revolte charakterisieren. Die in der Bewegung gebündelten Intentionen entmischten sich und sie zerfiel in lauter sich untereinander bekämpfende Fraktionen. Eine davon war die Rote Armee Fraktion (RAF), die der blockierten Geschichte durch gewaltsame und bewaffnete Aktionen auf die Sprünge helfen wollte, sich mehr und mehr in eine militärische Logik entfremdete und schließlich auch vor sinnentleerten Morden nicht zurückschreckte. Sandor Márai hat aus bitteren eigenen Erfahrungen in seinen Tagebüchern formuliert, „dass der deutsche Kommunist, sobald er eine Waffe in der Hand hat, nicht länger Kommunist ist, sondern Deutscher“.

Ich entschied mich am Ende einer langen Suchbewegung und allerhand auch politischer Eskapaden für den „langen Marsch durch die Institutionen“, den Rudi Dutschke propagiert hatte. Ich ging in den Knast. Das ist eine weitere, wenn auch eher ironische Gemeinsamkeit zwischen Taufer und mir. Denn ich war als Gefängnispsychologe ja „auf der anderen Seite“. Nach rund dreißig Jahren Arbeit im Gefängnis muss ich feststellen, dass ich die Institution nicht verändert habe. Der „steingewordene Riesenirrtum“ (Eberhard Schmidt) des Gefängnisses hat sich als hart wie Granit erwiesen und hat mich und meine Aktivitäten locker verkraftet. Aber es hat mich auch nicht gebrochen und bis zur Unkenntlichkeit verbogen – so hoffe ich jedenfalls.

Stockholm

Lutz Taufers Weg führte in Gruppierungen, die sich um die ersten inhaftierten RAF-Gefangenen und in Heimen untergebrachte und drangsalierte Jugendliche kümmerten. Er balancierte eine Weile auf dem schmalen Grat zwischen Legalität und Illegalität, bis er sich nach dem Tod von Holger Meins im Kontext des dritten Hungerstreiks der RAF-Gefangenen entschloss, den Drahtseilakt zu beenden und den Schritt in den bewaffneten Kampf zu tun. Er hatte das unabweisbare Gefühl, etwas tun zu müssen, und sehnte sich nach einer Übereinstimmung von Denken und Handeln. Er schloss sich mit einigen Mitkämpferinnen und Mitkämpfern aus alten SPK-Zeiten zum Kommando Holger Meins zusammen, das im April 1975 in die deutsche Botschaft in Stockholm eindrang. Man beabsichtigte, die Botschaftsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter als Geiseln zu nehmen, um die Freilassung der inhaftierten politischen Gefangenen zu erzwingen. Die Bundesregierung erwies sich als unnachgiebig, und die Aktion endete in einem Desaster. Zwei Botschaftsmitarbeiter wurden getötet und auch zwei der Geiselnehmer verloren ihr Leben. Die vier Überlebenden wurden vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen zweifachen Mordes zu einer zweifachen lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Lutz Taufer verbringt 20 Jahre in verschiedenen Gefängnissen, den größten Teil davon in Hochsicherheitstrakten und in nahezu vollständiger Isolation von anderen Häftlingen. Lutz Taufer beginnt bereits in der Haft, sich kritisch mit der Strategie des bewaffneten Kampfes und seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Im Buch heißt es: „Die Ermordung von Geiseln beschädigt irreparabel die Hoffnung auf eine menschlichere Welt…“ und er schließt die Frage an: „Dürfen Militante, die für eine menschlichere Gesellschaft kämpfen, alles in Frage stellen, auch ethische Grundsätze, ohne die eine menschlichere Gesellschaft, frei von Ausbeutung und Unterdrückung, gar nicht denkbar ist? Und was macht die Verletzung solcher ethischen Grundsätze mit denen, die sie verletzen?“ Letztlich gelangt Taufer dahin, dass es darauf ankomme, statt des verbissenen militärischen Kampfes eine „Strategie des Glücks“ zu entwickeln. Lernprozesse dieser Art sind unter diesen Umständen keineswegs selbstverständlich. Die überschüssige Übelzufügung in der Haft, das über den Normalvollzug Hinausgehende, wird als Schikane erlebt und führt häufig dazu, dass Gefangene sich verhärten.

Entsagende Rache

Die oben bereits erwähnten verzweifelten Kämpfe um Selbstbehauptung, das sich häufig über Monate, ja mitunter über Jahre hinziehende „Armedrücken“ mit den Justizbehörden binden derart große Mengen kognitiver und emotionaler Energien, dass für die Auseinandersetzung mit der Tat keine Valenzen mehr frei sind. Das Gefängnis fügt dem schuldig Gewordenen derart viele unnötige, überschüssige Übel zu, dass das Gefühl der Schuld schnell dem Empfinden weicht, nicht länger Täter, sondern selber Opfer zu sein. Die eigene Not und Entwürdigung verengt das Bewusstsein und lässt das anderen Menschen zugefügte Leid und das Gefühl der Schuld hinter dem eigenen beklagenswerten Zustand zurücktreten. „Wenn ich in tödlicher Lungenentzündung liege und man meldet mir, dass mein Nachbar gestorben sei, und zwar durch mein Verschulden, mag sein, ich werde es hören, ich werde die Bilder sehen, die man mir vor die Augen hält; aber es erreicht mich nicht“, hat Max Frisch diesen Mechanismus am Beispiel der Nachkriegsdeutschen in seinem frühen Tagebuch beschrieben. Wie das Trümmerelend der zerbombten Städte es den Deutschen nach 1945 ermöglichte, sich in den Wiederaufbau zu stürzen und zu vergessen, dass sie kurz zuvor ganz Europa in Schutt und Asche gelegt und Millionen von Menschen ermordet hatten, so arbeitet das Gefängniselend der Verdrängung dessen in die Hände, was der Gefangene anderen Menschen vor seiner Inhaftierung angetan hat. Die einem demokratischen Rechtsstaat angemessene Form des Strafens ist entsagende Rache, und dieser Verzicht würde Lernprozesse wie die Lutz Taufers eher begünstigen.

Vom Knast in die Favelas

1995 wird Lutz Taufer entlassen. Da ihn das linksradikale Milieu in Deutschland langweilt und er keine Neigung verspürt, dauernd den Ex-Terroristen zu geben und sich so erneut in eine Rolle zu entfremden, wendet er sich nach einem kurzen Zwischenstopp in Berlin nach Südamerika. Das letzte Drittel seines Buches finde ich besonders interessant, weil es uns mitnimmt in eine den meisten vollkommen fremde Welt, die Welt der „Verdammten dieser Erde“. Als Mitarbeiter des Weltfriedensdienstes arbeitete er als eine Art Entwicklungshelfer in den Favelas von Rio de Janeiro. Er verstand diese Arbeit so, seine mühsam gelernte Lektion in Empowerment an andere weiterzugeben und ihnen zu der Erfahrung zu verhelfen, selbst unter widrigsten Bedingungen etwas bewirken und auf die Beine stellen zu können. Unter seiner Mitwirkung wurden Multiplikatoren ausgebildet, Theaterprojekte aus der Taufe gehoben, Werkstätten eingerichtet und Formen solidarischer Ökonomie aufgebaut. Ihm und seinen Mitstreitern ging und geht es darum, Menschen aus ihrer Vereinzelung herauszuholen und ihnen zum Bewusstsein ihrer Fähigkeiten zu verhelfen. Zur Strategie des Glücks gehört es auch, anderen zu der Glückerfahrung zu verhelfen, sich in Solidarität mit anderen als jemand zu erleben, der über sich hinauswächst und eine Kraft entfaltet, von der er zuvor nichts geahnt hat. „Meine Jahre in Brasilien“, resümiert Taufer gegen Ende seines Buches, „gehören zu den besten in meinem Leben. Ich habe Vieles gelernt, nicht zuletzt als Linker, was ich in Deutschland nie hätte lernen können.“ Nach dem Ende seiner Tätigkeit als Entwicklungshelfer und seiner Rückkehr nach Berlin wurde Lutz Taufer in den Vorstand des Weltfriedensdienstes gewählt und setzt sich nun in dieser Funktion dafür ein, dass Frieden und Gerechtigkeit zueinander finden und sich die Strategie des Glücks ausbreitet – in einer Welt, die im Großen genau das Gegenteil betreibt: die Ungerechtigkeit vergrößert und auf einen kriegerischen Abgrund zutaumelt.

Ich bin Lutz Taufer dankbar für dieses Buch, das Mut macht zum Überschreiten von Grenzen, aber auch Grenzen benennt, die nicht überschritten werden dürfen – auch nicht im Namen hehrer Ziele. Mut macht es aber auch in einer anderen Hinsicht. „Eine der Tragödien des Gefängnislebens liegt darin, dass es das Herz eines Mannes zu Stein macht“, schrieb Oscar Wilde nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Lutz Taufer liefert den lebenden Beweis, dass das nicht unbedingt so sein muss.

Lutz Taufer: Über Grenzen: Vom Untergrund in die Favela. Assoziation A, Berlin 2017, 288 S., 19,80 Euro


[«*] Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der „Edition Georg Büchner-Club“ erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Der erste Band „Zwischen Amok und Alzheimer“ ist 2015 im Verlag Brandes & Apsel erschienen.


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