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Titel: SPD am Abgrund – ist Labour ein Erfolgsmodell, das auch auf Deutschland übertragbar ist?

Datum: 26. September 2017 um 14:59 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Parteien und Verbände, SPD
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Nach ihrer alles andere als überraschenden Wahlniederlage schiebt die SPD ihren Misserfolg alleine auf die Juniorpartnerschaft in der Großen Koalition und will sich nun in der Opposition neu erfinden. Dies wird – zumal mit diesem Personal – jedoch kaum gelingen. Wer als erste Personalentscheidung Andrea Nahles zur künftigen Fraktionsvorsitzenden vorschlägt, will auch von einem Neuanfang nichts wissen. Schon 2009 hatte man die Chance, auf den Oppositionsbänken zu sozialdemokratischen Inhalten zurückzufinden und versagte auf ganzer Linie. Dass es auch anders gehen kann, zeigt die britische Schwesterpartei der SPD. Auch die Labour Party lag nach zwei krachenden Wahlniederlagen 2015 am Boden und nur durch eine seltsame Verkettung von „Unfällen“ konnte sie unter ihrem neuen Vorsitzenden Jeremy Corbyn wieder zu einem Erfolgsmodell werden. Würde Großbritannien heute neu wählen, wäre Corbyn mit einigem Vorsprung neuer Ministerpräsident – und dies mit echten sozialdemokratischen, ja linken Positionen. Für die SPD ist dies womöglich die letzte Chance, noch einmal zum alten Glanz zurückzufinden. Doch es ist unwahrscheinlich, dass sie diese Chance nutzt. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Tony Blair begrub die alte sozialdemokratische Labour Party. Blairs „New Labour“ war die neoliberale Abkehr von den Wurzeln der alten Arbeiterpartei. Anfangs war der „frische Wind“ beim Wähler beliebt. Man wusste ja noch nicht, was sich hinter den Schlagworten verbarg. Dann ging es nach dem großen Wahlerfolg 1997 stetig bergab. Blair und sein Nachfolger Gordon Brown hinterließen ein tief zerrissenes Land, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich größer denn je war und die öffentliche Daseinsvorsorge nach gierigen Privatisierungsorgien am Boden lag. Nach der ersten krachenden Niederlage 2010 ging Labour in die Opposition – allerdings ohne sich inhaltlich neu aufzustellen. Obgleich die Parteibasis den neoliberalen Kurs mehrheitlich ablehnte, war die Parteipolitik damals noch fest in der Hand des rechten Parteiflügels, der die Gremien nach 15 Jahren Blair und Brown komplett dominierte. Auf Brown folgte dann Ed Miliband, ein gemäßigt neoliberaler Parteisoldat. Bei den Parlamentswahlen 2015 erzielte Labour dann in absoluten Stimmen das schlechteste Ergebnis seit Attlees Niederlage gegen Baldwin im Jahre 1935. Nun gährte es an der Basis und der allmächtige rechte Parteiflügel der „Blairisten“ war sich seiner Sache wohl ein wenig zu sicher, als er in letzter Minute die „linke Nervensäge“ Jeremy Corbyn als Kandidaten für die Wahlen zum neuen Parteivorsitz zuließ.

Was nun geschah, könnte zumindest in der Theorie auch eine Blaupause für die SPD sein. Mit Unterstützung der Gewerkschaften und einer linken Basisinitiative namens „Momentum“ schaffte Corbyn es, binnen weniger Wochen fast 200.000 neue, zumeist sehr junge und engagierte, Parteimitglieder zu rekrutieren, die ihn bei der Basiswahl im August 2015 tatsächlich zum neuen Parteivorsitzenden wählten. Die Putschversuche von rechts ließen nicht lange auf sich warten. Auf dem Höhepunkt des Konflikts standen im Sommer 2016 fast der geschlossene Parteivorstand, 80% der Labour-Abgeordneten und die komplette Medienlandschaft gegen Corbyn. Doch der kämpfte mit seiner Parteibasis, den Gewerkschaften und den jungen Unterstützern gegen das „Ancien Régime“ von New Labour und gewann am Ende die vom rechten Parteiflügel angesetzten Neuwahlen, bei denen die Neumitglieder diesmal nicht mitwählen durften. Wenige Monate später holte Corbyn mit einem traditionell sozialdemokratischen, aber dennoch modernen Programm unter dem Motto „Für die Vielen und nicht für die Wenigen“ (for the many, not the few) für Labour das drittbeste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit überzeugenden Inhalten konnte Corbyn 50% mehr Wähler für Labour begeistern als seine Vorgänger Miliband und Brown. Dennoch gingen die Unterhauswahlen im Juni 2017 knapp verloren. In den aktuellen Umfragen liegt Labour jedoch klar vor den Tories und da kaum ein Beobachter davon ausgeht, dass die Regierung May die volle Legislaturperiode übersteht, ist es sehr wahrscheinlich, dass der nächste Bewohner von Downing Street 10 Jeremy Corbyn heißen wird.

Was für ein Unterschied zur SPD. Der deutsche Blair hieß Gerhard Schröder und wie sein britischer Bruder im Geiste machte auch er aus der altehrwürdigen SPD eine neoliberale Klientelpartei, die radikal mit den sozialdemokratischen Wurzeln brach. Dafür wurde auch Schröder vom Wähler abgestraft und als „Schröders Brown“ musste Frank-Walter Steinmeier die Partei 2009 mit einer wahrhaft historischen Niederlage in die Opposition verabschieden. Agenda 2010, Hartz IV, Kosovo-Krieg und die Abkehr von den sozialdemokratischen Wurzeln hatten dazu geführt, dass sich die Zahl der SPD-Wähler binnen elf Jahren von 20,2 Millionen 1998 auf 9,9 Millionen 2009 mehr als halbiert hatte. Wie auch bei der Schwesterpartei in Großbritannien waren die Spitzenkader der SPD jedoch unfähig, aus den offensichtlichen Fehlern zu lernen und gingen trotz Oppositionsrolle 2013 mit einem Parteisoldaten des rechten Parteiflügels in die Wahlen und feierten dann den zarten Zuwachs von nicht einmal drei Prozentpunkten auf ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis als Bestätigung ihres Kurses. Und hier hören dann auch die Gemeinsamkeiten zu Labour auf.

Während die Labour-Funktionäre vom Außenseiter Corbyn einen Flügelkampf aufgedrückt bekamen, verpasst die SPD jede Chance auf einen Neubeginn und wählte den Parteisoldaten Martin Schulz gar mit 100% zum neuen Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten. Es kam, wie es kommen musste. Mit gerade einmal 9,5 Millionen Stimmen holte die SPD historisch schlechte 20,5% und liegt dabei sogar in absoluten Zahlen 30% hinter Labour im wesentlich kleineren Großbritannien. Statt die Klatsche erst mal sacken zu lassen, ist man nun drauf und dran, die Fehler von 2009 zu wiederholen. Nach der krachenden Niederlage von 2009 war die erste Personalentscheidung des Präsidiums, ausgerechnet den maßgeblich für das schlechte Ergebnis verantwortlichen Frank-Walter Steinmeier zum neuen Fraktionsvorsitzenden zu machen. Der Steinmeier von 2017 ist Andrea Nahles, die als scheidende Arbeits- und Sozialministerin, ehemalige Generalsekretärin und Mitglied des Bundesvorstands ganz maßgeblich für die Misere mitverantwortlich ist. Damit diskreditierte die Parteispitze die Glaubwürdigkeit der Partei keine 48 Stunden nach der historischen Niederlage.

Spontan war diese Entscheidung jedoch genauso wenig wie die offen zelebrierte Rolle als Oppositionsführer. Das SPD-Präsidium nutzt die Gunst der Stunde wohl eher dafür, ganz schnell Nägel mit Köpfen zu machen, um eine weitergehende Debatte zu verhindern – und dies betrifft die Debatte um Inhalte genauso wie die Debatte um personelle Konsequenzen. Der für die historische Niederlage verantwortliche Parteivorsitzende Schulz bleibt im Amt, kein einziges Präsidiumsmitglied will offenbar seinen Hut nehmen und eine treue Parteisoldatin aus dem Präsidium wird gar zur neuen Fraktionsvorsitzenden und damit wohl zur Oppositionsführerin erklärt. Wenn die Fraktion die Spitze damit durchkommen lässt, ist der Neuanfang schon vorbei, bevor er überhaupt neu angefangen hat.

Hat die SPD überhaupt die Möglichkeit, den Labour-Weg zu gehen? Das muss man leider kritisch sehen. Die Parteispitze ist aber nicht der einzige Grund für Skepsis; denn nach den Unterhauswahlen 2015 war Labour ebenfalls fast komplett vom rechten Parteiflügel unterwandert und auf Funktionärsebene gab es nicht einmal im Ansatz den Willen, die Partei wirklich neu aufzustellen. Es waren andere Faktoren, die das Corbyn-Wunder überhaupt erst möglich machten.

Nach Ansicht moderner Politikberater muss ein erfolgreicher Kandidat wohl eine Mischung aus Emmanuel Macron und Karl Theodor zu Guttenberg sein – attraktiv, eloquent, weltmännisch, charmant, jung, ein Produkt der Oberschicht mit elitärem Charisma. All dies ist Jeremy Corbyn nicht. Dafür ist Corbyn jedoch auf eine authentisch-kauzige Art unglaublich charismatisch. Wer sich einmal anschaut, wie der nun auch schon 68-jährige Corbyn es schafft, zehntausende jubelnde junge Fans auf dem Glastonbury-Festival mit einem politischen Gedicht von Percy Bysshe Shelley zu begeistern, ahnt welch Charisma Corbyn vor allem auf jüngere Menschen ausübt. Es gibt wohl keinen zweiten Politiker, der gerade bei Jungwählern so gut ankommt.

Man muss es klar sagen – bei der SPD gibt es keinen deutschen Corbyn. Es gäbe aber sehr wohl einige wenige Sozialdemokraten aus der zweiten Reihe, die sich unter idealen Bedingungen zu einem deutschen Corbyn mausern könnten. So zeigte der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow bereits mehrfach, dass er inhaltlich durchaus überzeugende Ideen hat und sich nicht an die Parteispitze verkauft. Woran es hierzulande jedoch hapert, sind die Rahmenbedingungen.

So wäre der Erfolg Corbyns ohne die Gewerkschaften und ohne die Parteibasis nie möglich gewesen. Nun sind die britischen Gewerkschaften aber deutlich weiter links zu verorten als ihre deutschen Kollegen. Vor Corbyn waren sie politisch daher auch nahezu marginalisiert und Corbyns „Pakt“ mit den Gewerkschaften ist durchaus eine Win-Win-Organisation, bei der die Gewerkschaften Corbyn im Flügelkampf finanziell, logistisch und organisatorisch unterstützten und dafür nun einen Labour-Chef haben, der ihnen auch inhaltlich nahesteht. Die meisten DGB-Gewerkschaften haben hingegen ihren Frieden mit der Schröder-SPD gemacht und kämpfen selbst gegen progressive Neuerungen. Von Seiten der Gewerkschaften ist daher auch kein entscheidender Impuls auf die SPD zu erwarten.

Und auch die SPD-Basis hat in der Vergangenheit nicht unbedingt Wechselstimmung ausgeströmt. Auf sie kommt es im Zweifel jedoch noch nicht einmal an, da die SPD ihre Spitze – anders als Labour – ja nicht von der Basis, sondern von den Delegierten des Bundesparteitags wählen lässt. Eine Palastrevolte wird dadurch freilich nicht ausgeschlossen, aber doch massiv erschwert.

Wenn man sich Gedanken über die Zukunft der SPD macht und Labour als Alternative darstellt, sollte man jedoch nicht den Fehler machen, dies an einer einzigen Personalie festzumachen. Corbyn ist nicht deshalb eine sozialdemokratische Lichtgestalt, weil er die Partei wieder hochgebracht hat, sondern weil er authentische sozialdemokratische, progressive, moderne Inhalte besetzt und mit diesen Inhalten zu begeistern vermag. Denn darum geht es ja bei der Politik. Ob der Kanzler nun Müller, Schulze oder Schmidt heißt, ist doch vollkommen unerheblich. Wichtig ist, ob er oder sie eine Politik verfolgt, die im Interesse der Mehrheit und zukunftsgewandt ist, oder ob er oder sie eine Politik der Eliten verfolgt, die unsere Lebensqualität senkt und unsere Perspektiven zerstört. Daran sollte man Politiker messen. Zumindest theoretisch besteht die Chance, dass die SPD zu einer progressiven, solidarischen, modernen, ja guten Politik zurückfindet.

Wenn die SPD diese Chance nicht nutzt, wird es wohl ihre letzte sein. Leider gibt es jedoch keinen Grund für Optimismus. Freiwillig wird die Parteispitze den rettenden Anker jedenfalls nicht auswerfen. Und ob die Basis überhaupt noch die Energie aufbringt, die Partei vor dem eigenen Präsidium zu retten, ist auch fraglich. Vergessen wir also Labour und schauen auf wahrscheinlichere Parallelen für die SPD: Die französische Schwesterpartei PS hat bei den letzten Parlamentswahlen 22% verloren und steht nun bei 7,4%. Die niederländische PvdA hat bei den letzten Wahlen mehr als 19% verloren und steht gar nur noch bei 5,7%. So kann es Parteien ergehen, die viel zu spät erkennen, dass Sozialdemokratie und Neoliberalismus unvereinbar sind. Die SPD muss nun entscheiden, welchen Weg sie gehen will.


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